Nikolaus Harnoncourt pro und contra

  • Ich habe unlängst gemerkt, wie sehr Harnoncourts Mozart für mich "normal" geworden ist. Ich habe in ganz anderem Zusammenhang einen Film aus den späten 30er Jahren (ich glaube 1939) gesehen - "Wunschkonzert" - da kommt auch die Ouverture von Le nozze die Figaro vor. Mich hats fast vom Sessel gerissen. Ich weiss nicht, um wieviel sie schneller war, aber es war VIEL ZU SCHNELL!!!!


    Mag sein, dass es an schlechten Musikern und oder schlechtem Dirigenten lag, aber das war für mich sowas von lieblos, runtergehudelt und einfältig, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.


    Ich kann mir aber jetzt ungefähr vorstellen, was all diejenigen unter euch empfunden haben, die die Ouverture schnell gespielt kannten und vor allem liebten und sie dann unter Harnoncourt hörten... Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein mit meinen Beurteilungen, weil ich oft vergesse, dass ich eben in der Post-Harnoncourt-Zeit musikalisch sozialisiert worden bin, was vieles verändert.


    Überhaupt bin ich vorsichtiger geworden, seit ich hier meinen ersten "ich will auch mitreden"-Drang losgeworden bin. Jetzt verbringe ich die Zeit, die ich fürs Tamino erübrigen kann, mehrheitlich mit lesen...
    Aber das ist ja auch wieder ein anderes Thema...

  • Hallo winterreisende,


    Tue wie ich.
    Etwas gefällt mir oder es gefällt mir nicht. Und dann interessiert es mich nicht, ob meine Meinung von anderen nicht geteilt wird.


    LG, Paul

  • Zitat

    Ich weiss nicht, um wieviel sie schneller war, aber es war VIEL ZU SCHNELL!!!!


    Ich wage zu behaupten: Es war sicher nicht zu schnell!
    Kaum ein Dirigent hätte heute die Kraft, in Harnoncourts Tempi ähnliche Spannung zu bieten.
    Birgit Nilsson sagte einmal zu einem Dirigenten, der Knappertsbuschs Tempi nachahmte, ohne sie mit Spannung erfüllen zu können: Wenn Sie nichts zu sagen haben, lassen Sie es uns wenigstens schnell hinter uns bringen.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Masetto
    Allerdings habe ich mir noch immer nicht seine Bachkantaten angehört.


    Die sind m.E. größtenteils wirklich sehr gelungen! :yes:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat aus dem aktuellsten Karajan-Thread von Mitglied Liebestraum:



    Ich persönlich teile diese Ansicht nicht. Für mich bieten auch Harnoncourts Dirigate der Werke, die ab 1830 komponiert wurden, vielfach hochinteressante und bewegende Interpretationen. Ich habe das Abonnementkonzert mit Smetanas "Ma Vlast" damals im Radio gehört und mich hat diese Deutung sehr angesprochen, ich finde sie kam von Herzen und wurde mit Leidenschaft musiziert (um nur ein Beispiel zu nennen). Ich höre Konzerte und Aufnahmen mit Harnoncourt seit etwa 25 Jahren, es mag vieles darunter sein, was zuminderst gewöhnungsbedürftig war und ist, aber Harnoncourt hat es immer auf seine eigene, kluge Weise begründet (mit dem Zusatz, dass er keineswegs behauptet, immer recht haben zu müssen und sich das Recht herausnimmt auch zu irren, was ihn für mich noch sympathischer macht). Eine Zumutung was Musik betrifft sind für mich der Musikantenstadl sowie weitere "Volksmusiksendungen" und die ganz seichte Schlagermusik sowie die Zwangsberieselung in Kaufhäusern. Nikolaus Harnoncourt ist eigenwillig, streitbar und gewöhnungsbedürftig, man kann ihn und seine Sichtweisen und Dirigate ablehnen - aber eine Zumutung ist er für mich niemals.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Freundlicher Gruß
    Alexander

  • Ich bin da sehr zwiespältig.
    Beispiel: Mozarts 40. Mit Cgo/Harnoncourt


    Der 1. Satz hat sich mir völlig neu erschlossen, ich kannte ihn vorher nur von Bernstein, Böhm & co. total romantisiert, langweilig, ohne Energie und eher "molto moderato" statt "molto allegro".
    Jetzt mit Harnoncourt energisch, hervorragend phrasiert, spritzig, einfach genial. Ein völlig neues Werk, was man zu hören bekommt. Mozart ist nicht mehr Brahms, sondern Sturm&Drang.


    Leider dann auf der selben Aufnahme der 4. Satz, Adagio, total zum Einschlafen.


    Bei der Tempowahl fragt man sich wirklich manchmal, ob Harnoncourt nicht vielleicht einen schlechten Italienischkurs besucht hat. Allegro assai wird total abgebremst, Haydns Menuett aus der 104. Wird zum Prestissimo, etc.

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould


  • Naja. Er nimmt das Finale nicht wie sonst üblich in 140 oder 150 für Halbe, sondern vielleicht in 120-130, das ist ein allegro ma non troppo, kein Adagio. Ich bevorzuge auch ein flotteres Tempo, halte aber diese g-moll insgesamt für die faszinierendste mir bekannte Interpretation.


    Zitat


    Bei der Tempowahl fragt man sich wirklich manchmal, ob Harnoncourt nicht vielleicht einen schlechten Italienischkurs besucht hat. Allegro assai wird total abgebremst, Haydns Menuett aus der 104. Wird zum Prestissimo, etc.


    Die scheinbar absurden Menuett-Tempi sind historisch ziemlich gut belegt! Es gibt z.B. MM-Angaben von Hummel und Czerny zu Klavierarrangements der späöten Haydn- und Mozartsinfonien und mindestens ein Haydn-Menuett (aus 101) auf einer alten Orgelwalze/Spieluhr. Fast alle der gemeinhin in stampfenden Vierteln dirigierten Menuette, sind, wenn Czerny zu trauen ist (und er den Stücken nicht nachträglich Scherzo-Charakter verliehen hat) stattdessen ganztaktig in flottem Walzer/Ländlertempo zu nehmen


    Allerdings vertritt NH eine zugegeben etwas kuriose Theorie (in einem der dtv-Bücher zu lesen) zu den Tempi der beiden letzten Mozartsinfonien, nach der der Grundpuls in der g-moll zunehmend langsamer, in der C-Dur zunehmend schneller werden soll. Das Finale der g-moll kann ich noch akzeptieren, den Kopfsatz der C-Dur (ohnehin nicht gerade mein Favorit) finde ich viel zu breit...
    Der Kopfsatz von #38 ist bei ihm auch recht breit genommen, aber alle anderen Tempi sind (von ein paar recht schnellen Menuetten) abgesehen, kaum außergewöhnlich, ich empfehle jedenfalls noch seine kleine g-moll, 35,36,39.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • War natürlich etwas übertrieben mit dem Adagio... die Tempi bei den Menuetten sind vielleicht tatsächlich nur gewöhnungsbedürftig.

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Seltsamerweise dirigiert Harnoncourt die Menuette auch nicht alle in ähnlichem Tempo: bei den Londoner Symphonien nimmt er einige sehr rasant, andere eher traditionell - und das bei gleicher Tempobezeichnung ?(
    Mir kommen deshalb viele Nuancen bei ihm sehr subjektiv entschieden vor :stumm:
    Einige Symphonien beginnt er auch überlangsam (im Kopfsatz), um eine Steigerung zu einem überrasch gespielten Finale durch das ganze Werk hindurch zu erzielen, bei anderen Werken sind die Kopfsätze hingegen ziemlich flott. Konnte aufgrund der Tempobezeichnungen da keine Systematik erkennen :stumm:


    Um Missverständnissen vorzubeugen (es gibt ja auch Neulinge hier):
    Ich schätze Harnoncourt sehr* und bin stets auf seine Deutung eines Werks gespannt, finde ihn allerdings auch viel weniger objektiv als er sich gern selbst darstellt und auch nicht alle seine Interpretationen sprechen mich an - der Unterschied zwischen seinem Figaro (mit dem ich auch überhaupt nichts anfangen kann) und z.B. seinem Idomeneo oder seiner Entführung (beides :jubel::jubel::jubel: ) ist IMO schon frappierend :pfeif:


    :hello:
    Stefan


    *dies ist ja nicht der HvK-Thread => das ist das Posting eines aufgeklärten und kritischen Bewunderers :stumm::D:angel:

    Viva la libertà!

  • Verbesserungsvorschlag [weniger ist manchmal mehr...] :rolleyes:


    Zitat

    kurz: alles, was nach 1830 [...] von Harnoncourt dirigiert und eingespielt worden ist!


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Zitat

    Original von Barezzi
    Seltsamerweise dirigiert Harnoncourt die Menuette auch nicht alle in ähnlichem Tempo: bei den Londoner Symphonien nimmt er einige sehr rasant, andere eher traditionell - und das bei gleicher Tempobezeichnung ?(


    Die Bezeichnungen helfen nicht viel weiter, sie heißen fast alle Allegretto (Ausnahme ist z.B. das in #94: allegro molto).
    Es stimmt, etliche sind auch bei ihm noch zu langsam ;)
    Im Ernst, das ist ein ziemlich komplexes Feld. Wir wissen, dass das Tempospektrum hier sehr weit war. Ein Hinweis hierfür sind die parallelen Tänze im ersten Giovanni-Finale: die Viertel des galanten Menuetts mit dem Anna und Ottavio den Tanz beginnen entsprechen ganzen Takten des "Teutschen"! Dazwischen irgendwo können sich Menuettsätze abspielen. Man muß also irgendwie an kleinsten Noten, Phrasenstruktur usw. erkenne, ob ein Menuett in Vierteln oder ganztaktig gedacht ist (und auch dann bleibt noch ein gewisses Spektrum, natürlich). Bei Beethoven ist das (abgesehen davon, dass wir hier recht zuverlässige Metronomisierungen haben) meines Wissens immer eindeutig: Wenn er ein "langsames", galantes Menuett meint, schreibt er "Tempo di Menuetto" oder "Grazioso" (z.B. 8. Sinfonie, Klaviersonate op.31,3; Quartett op.59,3, Viertel ca. 100-126), wenn sonst "Menuetto" steht, wie etwa in der ersten Klaviersonate, ist das ganztaktig, aber noch nicht so flott wie ein echtes Scherzo (ca. 60-84 für Takte, ein Scherzo eher 96-116).


    Aber bei Mozart gibt es z.B. in der Gran Partita IIRC ein schnelles und ein mäßiges Menuett (die eigentlich auch immer sehr unterschiedlich gespielt werden) im selben Stück.

    Zitat


    Mir kommen deshalb viele Nuancen bei ihm sehr subjektiv entschieden vor :stumm:


    Nuancen, innerhalb von Sätzen schon, das macht es ja so hörenswert. Aber mir ist es manchmal auch zuviel Gefitzel und ich bevorzuge geradlinigere Interpretationen.


    Zitat


    Einige Symphonien beginnt er auch überlangsam (im Kopfsatz), um eine Steigerung zu einem überrasch gespielten Finale durch das ganze Werk hindurch zu erzielen, bei anderen Werken sind die Kopfsätze hingegen ziemlich flott. Konnte aufgrund der Tempobezeichnungen da keine Systematik erkennen :stumm:


    Die mangelnde Systematik liegt m. E. u.a an Haydn. Welcher Kopfsatz kommt die ersteunalich langsam vor? Ich finde eher einige Finalsätze eher langsam, was aber auch daran liegt, dass die traditionell am schnellsten gespielt werden.
    Auch hier kommt es auch die Taktarten, Phrasenlänge u.ä. an. Der Kopfsatz von #93 z.B. wird von Harnoncourt in ganzen Takten (wie etwa auch bei Dorati, Szell und Brüggen sind hier zu langsam) genommen. Der von #96 ist langsamer, wirkt aber eher lebhafter, weil Achtel dominieren, nicht Halbe und Viertel usw.


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Die mangelnde Systematik liegt m. E. u.a an Haydn. Welcher Kopfsatz kommt die ersteunalich langsam vor? Ich finde eher einige Finalsätze eher langsam, was aber auch daran liegt, dass die traditionell am schnellsten gespielt werden.
    Auch hier kommt es auch die Taktarten, Phrasenlänge u.ä. an. Der Kopfsatz von #93 z.B. wird von Harnoncourt in ganzen Takten (wie etwa auch bei Dorati, Szell und Brüggen sind hier zu langsam) genommen. Der von #96 ist langsamer, wirkt aber eher lebhafter, weil Achtel dominieren, nicht Halbe und Viertel usw.


    Habe halt eigentlich nur den Vergleich zwischen Harnoncourt, Davis, Bernstein, Fischer und allem, was man bisher noch zusätzlich gehört hat und im Vergleich zu z.B. Davis variieren die Tempi bei Harnoncourt viel mehr; aus dem Gedächtnis kommt auf die Schnelle #95 in Betracht - IMO schon seeehhhr moderato... (besonders das Verhältnis Haupt- zu Seitenthema war auffällig)
    Bei den Finalsätzen war es auch sehr auffällig. Hat man schnelle Ecksätze, dann spielt er manchmal den Kopfsatz rasch und das Finale zögerlicher - meist ist es umgekehrt. Aufgrund der Tempobezeichnungen konnte ich da keine Systematik feststellen. Wenn mal wieder Haydn-Symphonien auf dem Programm sind werde ich mal genau drauf achten und detaillierter dazu schreiben (und eventuell auch bei anderen seiner Einspielungen, z.B. Mozart, drauf achten). Momentan hab ich mit Unterrichtsvorbereiten wieder mal zu tun :(


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Hallo,


    durch viele Beiträge wird doch überdeutlich, dass sich an NH die Musikgemeinde geradezu polarisiert. Ähnliches kenne ich in dieser Form nur bei HvK. Sowohl die totale Ablehnung wie auch die Anhänger äußern sich mit quasi religiösen Unterton, was ich etwas befremdlich finde.


    Ich gehöre nicht zu den Fans von NH, obgleich ich seine Interpretationen alter Musik nicht kenne. Ich habe manches von seinen Mozartinterpretationen gehört und sage nur, dass es nicht meinen Geschmack trifft. Mir fällt bei NH auf, wie fundamental anders bspw. Mozart klingen kann. NH haftet aber der Ruf an, die Werke der alten Meister erst wahrhaft zu interpretieren. Dies und auch die Diskussion über die scheinbar "wahrhafte" Interpretation läßt mich nicht los. Ich kann nicht glauben, dass erst durch NH und seine Mitstreiter die Stücke der alten Meister ihre "richtige" Interpretation finden.


    Da ich nicht zu den Partiturlesern gehöre, daher meine Frage an die Forianer und insbesondere an die NH-Verehrer: Was machen (bzw. machten) die anderen Dirigenten in den letzten Jahrzehnten (oder Jahrhunderten) bisher falsch oder ist es letztlich doch gar keine Frage von richtig und falsch, sondern füllt NH eine künstlerische Marktnische?


    Viele Grüße, Roman

  • Lieber Roman,


    am besten liest Du was Harnoncourt selbst dazu sagt:



    Nikolaus Harnoncourt
    Musik als Klangrede


    Dann bekommst Du einen Eindruck wofür er steht. Insgesamt ist die Frage leider sehr kompliziert und mit wenigen Worten nicht zu beantworten, da es einerseits um die historische Aufführungspraxis und ihre Geschichte als solche geht, andererseits um Harnoncourt und seine Position und Entwicklung relativ zur HIP-Bewegung und für sich genommen.


    Er gehört jedenfalls zu den Pionieren der historischen Aufführungspraxis, die wertvolle neue Einblicke gibt. Gleichzeitig steht er mittlerweile exemplarische für die Entwicklung der historischen Aufführungspraxsi weg vom Anspruch einer historischen "Wahrheit" hin zu künstlerischer Freiheit und Individualität auf der Basis historischer Kenntnis und historischen Instrumentariums.


    Ähnliche Äußerungen kann man z.B. von René Jacobs oder Petra Müllejans lesen.


    Wie gesagt, eine komplizierte Angelegenheit, die sich nicht einfach zusammenfassen lässt. Leider wird diese Debatte auch auf beiden Seiten von einem gerüttelt Maß an Vorurteilen begleitet, was die Lage zusätzlich verkompliziert.


    Ich selbst bin von HIP begeistert, allerdings kein Harnoncourt-Anbeter (auch kein Verächter). Allerdings glaube ich, dass schon die Idee einer "Wahrheit" als solcher etwas höchst Gefährliches ist, vor allem in der Kunst...


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Mal ganz allgemein gesprochen:


    Generation von Generation hat "ihren" Mozart (das gilt natürlich auch für alle anderen Komponisten) für sich entdeckt - und an ihre Zeit interpretatorisch "angepasst" - wobei natürlich zahlreiche Verfälschungen einflossen.


    Man darf hier nicht ausser acht lassen, daß man zu gewissen Zeiten regelrecht STOLZ darauf war, Mozart "zeitgemäß" zu interpretieren (ähnliches versucht ja heute auch das sogenannte Regietheatrer bei Opern - sorry diesen Seitenhieb konnte ich mir beim besten Willen nicht verkneifen).


    Manches verschwand schnell wieder in der Versenkung, manches wurde in die üblichen Interpretationspraktiken übernommen -jedoch fanden IMMER wieder leichte Modifikationen statt. In der Regel PRÄGT der Zeitgeist auch die Hörer, so daß MEIN Mozartbild beispielsweise ein "elegantes" ist.


    Harnoncout behauptet nun, an die Wurzeln zu gehen - gewiss tilgt er Schlampereien und Unsauberkeiten - fügt jedoch sehr subjektive Lesarten hinzu . Natürlich verfälscht er den Notentext nicht, aber sogar Karajan sagte einmal in einem Interview, daß der Notentext stets sehr vielles offenlasse - und eben interpretiert werden müsse - was letztlich eine Geschmacksfrage sei.


    Daß Harnoincourt mehr oder weniger ALLES was er in die Hände bekommt, ANDERS interpretiert, als alle die vor ihm diese Werke dirigierten, sollte als Warnsignal gesehen werden.


    Seine Texte und Erklärungen zeigen einen reflektierenden und intellektuellen Künstler, und sie sined überzeugend - seine Interpretationen sind es indes (in den meisten Fällen) für mich nicht....


    Ein schroffer, schriller Mozart ? Nein danke


    (Und ich glaube dies hätte auch seine Klientel um 1780 so gesehen - daher bezweifle ich die Authenzität von Harnoncourts Mozart-Interpretationen)


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !




  • Vielen Dank, BBF, für die prompte Antwort. Ich stimme Dir zu, dass die Idee einer Wahrheit in der Kunst etwas höchst Gefährliches hat. Wenn eben dieser Eindruck entsteht, muss ich mich immer sehr wundern.


    Ich werde mal in der Buchempfehlung schmökern. Die Idee einer historischen Aufführungspraxis bleibt mir bisher als etwas abwegig eher verschlossen. Ich kenne jedoch nur Weniges und verstehe den Sinn eher noch aus musikwissenschaftlicher Perspektive. Warum aber sollte ich den wunderbaren Klang eines moderen Konzertflügels gegen den Klang eines alten Hammerklaviers aus Beethovens Zeit zurücktauschen?


    Den Anspruch weg von historisches Wahrheit hin zu künstlerischer Freiheit auf der Basis historischer Kenntnisse finde ich hingegen sehr sympatisch und erstrebenswert.


    Viele Grüße, Roman

  • Lieber Roman,


    ich bin schon mal gespannt auf Deine Meinung zu Harnoncourts Buch.


    Zum Thema moderner Flügel und Fortepiano: das ist natürlich eine Geschmacksfrage - genauso könnte ich fragen, warum um alles in der Welt der moderne Flügel denn ein "Fortschritt" sein soll und woran sich das ermessen ließe.


    Ich fand Cembalo und Fortepiano und Darmsaiten lange Jahre furchtbar - ich hatte meine elektrostatischen Kopfhörer noch nicht und kannte nur die für mich "falschen" Aufnahmen.


    Mittlerweile ist das Verhältnis umgekehrt: ich empfinde Steinway-Flügel als Edelstahltonschleudern von kalter, klanglich armer Brutalität und kann überhaupt nicht nachvollziehen wie diese Dinger sich durchsetzten konnten.


    Wer einmal z.B. Bart van Oort mit Chopin-Nocturnes auf einem Pleyel-Flügel gehört hat wird das vielleicht verstehen können (erhältlich bei Brilliant Classics).


    Das Problem hier ist: viele Aufnahmen verwenden schlechte Kopien oder verwitterte Originale oder sind technisch nicht gelungen - auch die Wiedergabeapparatur ist hier von großer Bedeutung, da das hochkomplexe Obertonspektrum eines Fortepiano bei inadäquater Reproduktion (oder schlechtem Instrumentarium) sehr schnell zum "Scheppern" neigt.


    Hier hilft nur Suchen und Vergleichen - tendenziell sind die neueren Aufnahmen klangschöner als die älteren. Du wirst in einschlägigen Threads hier im Forum eine Fülle an Informationen und Einschätzungen finden.


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Zitat

    Zitat Roman Tiker
    Was machen (bzw. machten) die anderen Dirigenten in den letzten Jahrzehnten (oder Jahrhunderten) bisher falsch


    Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um die Frage einer persönlichen Auslegung, einer Interpretation.
    Harnoncourt ist in einem Punkt absolut unbestechlich: Er geht an die Wurzeln, also zur Partitur, und nicht etwa, wie viele Dirigenten, zum CD-Player. Harnoncourt betreibt ein genaues Quellenstudium und entwickelt seine Interpretationen ausschließlich auf der Basis der Noten.
    Viele andere Dirigenten setzen ihre Interpretationen nur aus dem eklektischen Zusammentragen der Eindrücke aus vorhandenen Einspielungen zusammen.


    Der Vorteil für den Zuhörer besteht bei Harnoncourt darin, daß Harnoncourt eine Schule des neuen Hörens eröffnet: Man nimmt das Werk auf eine Weise wahr, die tatsächlich neu und unverbraucht ist. Ob man das dann letzten Endes mag oder nicht, ist eine Sache des subjektiven Geschmacks.


    Und des Mutes, ob man sich mit Ulli anlegen will... :hahahaha:


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    ...
    Harnoncourt ist in einem Punkt absolut unbestechlich: Er geht an die Wurzeln, also zur Partitur, und nicht etwa, wie viele Dirigenten, zum CD-Player. Harnoncourt betreibt ein genaues Quellenstudium und entwickelt seine Interpretationen ausschließlich auf der Basis der Noten. ...


    Und das, mein lieber Edwin, ist vollkommen falsch! ;)


    Was du da beschreibst, ist die Vorgangsweise Toscaninis. Dieser hatte mit seinem photographischen Gedächtnis eine Partitur vollkommen im Kopf und bemühte sich um eine in seinem Verständnis möglichst genaue und adäquate Umsetzung in lebenden Klang.


    Harnoncourt hingegen versucht in seinem Quellenstudium möglichst viel über die Enstehungszeit und den Verfasser eines Werkes in Erfahrung zu bringen. Er steht auf dem Standpunkt, dass dieses Wissen ihm viel über die Bedeutung der Noten sagt. Er versucht bei einer Interpretation den Notentext nach Möglichkeit so wiederzugeben, wie er seinerzeit gedacht war.


    Und das ist etwas völlig anderes!


    (Und auch ein Grund für die Polarisierung, denn natürlich müssen die Schlüsse, die er aus seinem Wissen zieht, nicht notwendigerweise die gleichen sein, die andere ziehen, oder auch gar nicht ziehen ;) )


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Und das, mein lieber Edwin, ist vollkommen falsch!


    Tja, Theophilus, wer mißverstehen will, dem gelingt das auch... ;)


    Also, um es auch für Dich zu präzisieren: Harnoncourt bezieht sich ausschließlich auf das Werk und die Dokumentation des Werkes bzw. des Komponisten, wobei er zeitgenössischen primären Quellen prinzipiell mehr Gewicht beimißt als Quellen mit größerem zeitlichen Abstand.
    Harnoncourt geht davon aus, daß ein Komponist sozusagen seine Lebens- und Zeitumstände mitkomponiert, weshalb man, um ein Werk zu erfassen, sich mit diesen Lebens- und Zeitumständen vertraut machen muß.


    In einem weiteren (möglicherweise parallelen) Schritt untersucht er kritisch die Partitur in Hinblick auf Überlieferungsfehler bzw. Änderungen von fremder Hand - Harnoncourt dirigiert also quasi Kritische Ausgaben der Werke.


    In einem weiteren Schritt bringt er die Noten mit seinem Wissen um das Werk zusammen und erstellt daraus eine Interpretation, von der er behauptet, sie entspreche einer historisch-kritischen Sicht auf ein Werk. (Ob das nun stimmt oder nicht, will ich hier jetzt gar nicht diskutieren.)


    Damit, und das ist für mich der wesentliche Unterschied, unterscheidet er sich von jenen Dirigenten, die ein Werk lernen, indem sie möglichst viele Einspielungen hören und die ihnen jeweils am überzeugendsten scheinenden Elemente zusammen mit eigenen Ideen zu einer eigenen Interpretation zusammensetzen.


    Ich hoffe, damit Deinem Verständnis meiner Ausführungen eine kleine Hilfestellung gewährleistet zu haben.


    :hello:

    ...

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  • Hallo Edwin,


    liegt da aber nicht auch eine inhärente Begrenzung des Ansatzes von Harnoncourt? Wenn er sozusagen den Bedeutungsmehrwert der Noten dechiffrieren will, den der Komponist einkomponiert hat, wie will er dann diesen Bedeutungsmehrwert interpretatorisch einem Publikum vermitteln, das von diesen Lebens- und Zeitumständen größtenteils nichts oder nur wenig weiss? Läuft das nicht wieder auf das alte Problem des HIP/HOP-Ansatzes hinaus, die damaligen musikalischen Aufführungsbedingungen rekonstruieren zu können, nicht aber den Rezeptionshorizont des Publikums? Harnoncourt musiziert schließlich für Menschen von heute.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Hallo Edwin


    Jetzt hast du es geradezu perfekt formuliert!


    (Und ich hoffe, du merkst selber den inhaltlichen Unterschied, den deine beiden Ausführungen machen. ;) ).


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Harnoncourt ist in einem Punkt absolut unbestechlich: Er geht an die Wurzeln, also zur Partitur, und nicht etwa, wie viele Dirigenten, zum CD-Player. Harnoncourt betreibt ein genaues Quellenstudium und entwickelt seine Interpretationen ausschließlich auf der Basis der Noten.
    Viele andere Dirigenten setzen ihre Interpretationen nur aus dem eklektischen Zusammentragen der Eindrücke aus vorhandenen Einspielungen zusammen.
    :hello:


    Ich näherte mich diesem thread von seinem Ende und las heute voller Be- und Verwunderung Edwins Behauptung von den "vielen Dirigenten, die ihre Interpretationen nur aus dem elektrischen Zusammentragen der Eindruecke aus vorhandenen Einspielungen zusammen" setzen. In der Zwischenzeit habe ich gelernt, dass Edwin nicht nur ein Teilnehmer voller Kenntnis ist, sondern auch seine Behauptungen belegt. So las ich mich auf der Suche nach einem Beleg durch diesen ganzen thread, fand aber nichts.
    Lieber Edwin, kannst Du mir weiterhelfen und sagen, wo ich diesen Beleg finde? Welche Dirigenten sind gemeint? Kannst Du Namen nennen, oder ist das ehrenruehrig?


    Danke!


    Mikko

  • Lieber Mikko,

    Zitat

    oder ist das ehrenruehrig?


    Ich fürchte, es ist ehrenrührig. Und zur Namensnennung ist mir Tamino etwas zu prominent.
    Ich kann Dir nur berichten, daß ich von zahlreichen Dirigenten (davon einige mit international klingendem Namen) weiß, daß sie ein Werk durch die CD lernen. Ich weiß auch, daß sie sich durch ihre Mitarbeiter die CDs besorgen lassen. Und ich weiß auch von einigen, die es mir "unter vier Augen" anvertraut haben, daß ihre Auftrittsdichte so hoch ist, daß sie nicht zum eigenständigen Partiturstudium kommen, sondern sich die Werke durch das Mitlesen der Partitur beim Anhören diverser Einspielungen aneignen.
    Als ich das nach und nach erfuhr, war ich einigermaßen verblüfft und ließ - abermals "unter vier Augen" - einen Satz bei einem der größeren europäischen Konzertveranstalter fallen. Seine verblüffte Reaktion: "Was, das wußten sie nicht?"
    :hello:

    ...

  • Lieber Giselher,
    Du formulierst ziemlich korrekt meine Hauptbedenken gegen Harnoncourt. Auch ich bin der Meinung, daß es vom Ansatz her nicht wirklich funktionieren kann.
    Allerdings überzeugen mich Harnoncourts Interpretationen sehr oft - und auch dann, wenn ich den Hintergrund mangels eigener Kenntnis nicht mitdenken kann.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von GiselherHH
    Hallo Edwin,


    liegt da aber nicht auch eine inhärente Begrenzung des Ansatzes von Harnoncourt? Wenn er sozusagen den Bedeutungsmehrwert der Noten dechiffrieren will, den der Komponist einkomponiert hat, wie will er dann diesen Bedeutungsmehrwert interpretatorisch einem Publikum vermitteln, das von diesen Lebens- und Zeitumständen größtenteils nichts oder nur wenig weiss? Läuft das nicht wieder auf das alte Problem des HIP/HOP-Ansatzes hinaus, die damaligen musikalischen Aufführungsbedingungen rekonstruieren zu können, nicht aber den Rezeptionshorizont des Publikums? Harnoncourt musiziert schließlich für Menschen von heute.


    Das ist nun allerdings überhaupt nichts Harnoncourt-Spezifisches, sondern sozusagen ein hermeneutisches Grundproblem bei jeder Interpretation eines Kunstwerks. Mir scheint Harnoncourt, nicht nur im Vergleich mit anderen Hipisten (und wohl auch seiner selbst vor 35 Jahren), sondern auch mit vielen oder gar den meisten traditionellen Dirigenten, sich dieser Schwierigkeit durchaus bewußt zu sein. Dass er keineswegs so dogmatisch ist, wie ihm immer wieder vorgeworfen wird, zeigt sich u.a. daran, dass er schon seit den späten 70ern mit den nicht unbedingt hippen Orchestern in Zürich und Amsterdam zusammengearbeitet hat (oder auch mit Gulda und Corea). Natürlich will ich anderen Künstlern das Reflexionsniveau nicht absprechen (wobei es gewiß etliche gibt, die eben etwas so und so machen, "weil man es halt schon "immer" so gemacht hat"), aber bei Harnoncourt ist es sicher auch gegeben.


    Ich habe schon weiter oben bemerkt, dass ich den Ansatz der "Klangrede" nicht nur im Barock oft sehr überzeugend finde. Gesten und Figuren der Klangrede sind natürlich nicht im luftleeren Raum verständlich, aber auch ein heutiges Publikum befindet sich ja nicht in einem solchen. Der Unterschied zwischen dem "Bedeutungsgehalt" einer barocken chromatischen Figur, die Leiden ausdrücken soll, den Hörnerklängen und dem Blättergesäusel in der Klavierbegleitung zu Schuberts "Lindenbaum" oder dem omniösen Fluchmotiv in Wagners Ring ist nur graduell. In keinem Fall ist es eine rein willkürliche Zuordnung von Bedeutung, denn es gibt völlig objektive Eigenschaften der musikal. Motive, die sich zu ihrer "Bedeutung" in Beziehung setzen lassen. Aber es ist selbstverständlich auch kein "natürlicher" Gehalt, der ohne den kulturellen Hintergrund der abendländischen Musik einfach so verständlich wäre.

    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Giselher, lieber Edwin, Lieber Johannes,
    ich glaube eigentlich nicht, daß Harnoncourts Ansatz inhärent begrenzt ist – ich glaube vielmehr, er geht von falschen Voraussetzungen aus. Dabei ist sein analytisches Prozedere ist ja nicht allein ehrenwert, sondern in hohem Maße wissenschaftlich informiert. Den Kontext eines Werkes, die Konnotationen, die ihm schlicht inhärent sind, weil der Kunstschaffe ja gerade kein sich selbst setztendes autonomes Subjekt ist, sondern ein Produkt von Konventionen, sozialen und kulturellen Prädispositionen, die das begrenzende Bedingsfeld seiner Einbildungskraft, seiner Kreativität und seiner Produktivität abstecken; weil er an einem gültigen Wissen und an Diskursen partizipiert (und gar nicht anders kann), dies alles mitzudenken und diesen Aspekten womöglich mehr Gewicht zuzumessen als den hermeneutisch aufzuschließenden Sinndimensionen des jeweiligen Kunstwerks selbst, ist ja inzwischen state of the art in den Kulturwissenschaften. Stephen Greenblatt und andere haben mit dem Paradigma des New Historicism (bzw. der Poetics of Culture) gerade die Analyse solcher der historischen, sozialen und kulturellen Kontexte (allerdings in der Literaturwissenchaft) profiliert, die in einem jeweiligen Werke (ohne explizite Absicht seines Schöpfers) am Werke sind und dafür den Begriff der sozialen Energie, die in den Werken zirkuliere, geprägt. Wissenschaftlich, kulturhistorisch ist dies hochinteressant. Im Hinblick auf Harnoncourts interpretatorisches und aufführungspraktisches Konzept stellt sich jedoch genau jene Frage, die Giselher formuliert hat: was nützt all dies, wenn die Ergebnisse des Quellenstudiums dem Publikum nicht vermittelbar sind. Harnoncourt betreibt seine Studien ja, um einen Mehrwert, einen Bedeutungsüberschuß der Werke zu eruieren – doch liegt dieser Mehrwert ja gerade nicht in den Noten, sondern hat sich im Produkultionsprozess (eigentlich schon davor) gewissermaßen über die sozial-kulturelle Eingebundenheit des Komponisten in die Partitur eingeschrieben - und ist IMO kaum re-produzierbar.
    Warum? Schlicht, weil wir nicht über den entsprechenden Background verfügen und es auch unmöglich ist uns diesen Background anzueignen. Die barocke Affektenlehre, der enge Konnex von Rhetorik und Affekt ist uns schlicht fremd – selbst wenn uns äußert genau damit beschäftigen, wenn wir das Handorakel des Gracian auswendig lernen usw. werden wir ein Kreuzmotiv (wie in Bibers X. Rosenkranzsonaten) womöglich schon erkennen können – aber das Motiv wird nicht die affektuelle Wirkung haben, die es im Jahr 1680 hatte. Die Beherrschung der Affektenlehre wird für uns immer eine sekundäre Kulturtechnik bleiben.
    Ich glaube, daß Harnoncourt mit seinem recht avancierten und letztlich auch radikalen Programm nicht allein das Publikum überfordert, sondern auch die Möglichkeiten einer aufführungspraktischen Vergegenwärtigung dessen, was Greenblatt soziale Energie genannt hat. Das ist jetzt nicht als ein Plädoyer gegen Harnoncourt im besonderen und gegen die HIP’ster im allgemeinen gemeint. Ich meine nur, daß gerade am Fall Harnoncourt Anspruch, Möglichkeiten und Genzen der historisch informierten Aufführungspraxis deutlich werden.
    Herzlichst,
    Medard

  • Hallo Medard,


    mir scheint (im Gegensatz zu vielen Vorrednern), dass Harnoncourt diese von Dir ganz zu Recht benannte Aporie seit langem realisiert hat. Ohne dass ich die Belege jetzt zur Hand hätte, erinnere ich mich an diverse Beiträge/Interviews, in denen er ganz ähnlich argumentiert wie Du. Dabei beschreibt er sein Vorgehen eben nicht so:


    Zitat

    Original von Theophilus
    Harnoncourt hingegen versucht in seinem Quellenstudium möglichst viel über die Enstehungszeit und den Verfasser eines Werkes in Erfahrung zu bringen. Er steht auf dem Standpunkt, dass dieses Wissen ihm viel über die Bedeutung der Noten sagt. Er versucht bei einer Interpretation den Notentext nach Möglichkeit so wiederzugeben, wie er seinerzeit gedacht war.


    sondern (sinngemäß) so: er wolle alles wissen, was es an Dokumenten über die Aufführungspraxis bspw. des 18. Jahrhunderts gibt - um dann zu machen, was ER für richtig halte (Quelle müsste ich raussuchen). Damit ist der entscheidende Schritt zur Erkenntnis der unvermeidlichen Begrenztheit der historisch informierten Aufführungspraxis getan.


    Konkret ist diese Erkenntnis von Harnoncourt in zwei Bereichen umgesetzt worden:


    Einmal in seiner ziemlich frühen Abkehr von dem alleinseligmachenden Einsatz historischer Instrumente - bereits 1978ff. dirigierte er ein konventionelles Orchester in einem modernen Opernhaus, nämlich bei Händels "Giulio Cesare" und Rameaus "Castor et Pollux" während der Gielen-Intendanz an der Frankfurter Oper (im Gegensatz zu den Zürcher Monteverdi-Aufführungen, bei denen ja historische Instrumente benutzt wurden). Etwa zur gleichen Zeit begann er, mit dem Concertgebouw-Orchester Mozart einzuspielen (Johannes hat oben schon darauf hingewiesen).


    Und zum anderen in seiner ausdrücklichen Befürwortung des "Regietheaters" und der Ablehnung historisierender Theaterformen - immer wieder seit den genannten Frankfurter Aufführungen dokumentiert, wenn auch m. E. (schon wegen seiner unglücklichen Liebe zu Jürgen Flimm) nicht immer überzeugend ausgefallen.


    Insofern gilt in der Tat:


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Das ist nun allerdings überhaupt nichts Harnoncourt-Spezifisches, sondern sozusagen ein hermeneutisches Grundproblem bei jeder Interpretation eines Kunstwerks. Mir scheint Harnoncourt, nicht nur im Vergleich mit anderen Hipisten (und wohl auch seiner selbst vor 35 Jahren), sondern auch mit vielen oder gar den meisten traditionellen Dirigenten, sich dieser Schwierigkeit durchaus bewußt zu sein.


    Man könnte jetzt natürlich fragen: Warum überhaupt noch historische Kontextualisierung (+ Quellenforschung etc.), wenn man doch weiß, dass es nicht "funktioniert"? Aber vor den entsprechenden radikalen Folgerungen schrecken doch sehr viele zurück, wie sich nicht nur bei Harnoncourt zeigt, sondern auch in der Praxis der meisten historischen und philologischen Wissenschaften...


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Bernd,
    danke für Deine Einlassung! Ich denke Du hast recht. Ich selbsr habe mich nicht allzusehr mit Harnoncourts Entwicklung in den letzten Jahren beschäftigt (er hat da Dinge gemacht [Mozart, Beethoven usw.] die mich nicht sooo sehr interessiert haben). Meine Bemerkung bezog sich eigentlich eher auf die früheren Bemühungen des Herrn H. - die ich überaus schätze (und ehedem gar abgöttisch verehrte) , die mir aber eben die Ambivalenz einer wissenschaftlich-historisierend informierten Aufführungepraxis eben paradigmatisch zu verdeutlichen scheinen.
    Noch eine kurze Bemerkung zu H.'s Einstellung zum Regietheater: ich meine es ist ja genaugenommen nur folgelogisch ein (womöglich gar radikal) modernisierendes Inszenieren zu befürworten, wenn man gerade die implizite sozial-kulturelle Programmiertheit einer Oper bzw. eines Theaterstücks fokussiert. Wenn man davon ausgeht, daß ein Werk soetwas wie soziale Energie im Sinne Greenblatts transportiert und man einsieht, daß man dieses Aspekt zwar kognitiv rekonstruieren, aber nicht sinnlich erfahrbar transportieren kann, dann ist die inszenatorische Übersetzung die einzig logische Konsequenz. Denn H.'s Einsicht zeigt ja, daß die jeweiligen Werke lebendig und gegenwertig gewesen sind - in ihrer Zeit standen und ihre Zeit atmeten. Und genau das ist IMO zu verlebendigen, zu vergegenwärtigen (und dies nicht im Sinne eine kulturhistorischen Ausstellung).
    Herzlichst,
    Medard


    p.s.: ich hasse Laptoptastaturen - bitte MißTipper zu entschuldigen... :(

  • Zitat

    Original von Zwielicht


    Man könnte jetzt natürlich fragen: Warum überhaupt noch historische Kontextualisierung (+ Quellenforschung etc.), wenn man doch weiß, dass es nicht "funktioniert"? Aber vor den entsprechenden radikalen Folgerungen schrecken doch sehr viele zurück, wie sich nicht nur bei Harnoncourt zeigt, sondern auch in der Praxis der meisten historischen und philologischen Wissenschaften...


    Ich habe diesen skeptischen Schluß nicht gezogen oder nahelegen wollen. Mir geht es eher darum, dass der diesbezügliche Unterschied zwischen der historisch-informierten Praxis und der "normalen" graduell ist, nicht prinzipiell. Man muß sich halt ein bißchen Gedanken machen, dass etwas schwierig ist oder nie vollkommen funktionieren wird, ist eine schlechte Entschuldigung für Faulheit.


    The proof of the pudding is in the eating. Harnoncourts Erfolg bei Musikern und Publikum zeigt m.E. klar, dass seine Interpretationen HEUTE überzeugend wirken. Dass wir nicht die Ohren und die spontanen oder impliziten Assoziationen oder Konnotationen von damals haben, ist eh klar, das haben wir vorher gewußt. Aber wir sind der Kultur von 1750 auch nicht so fern wie etwa der der antiken Tragödiendichter (und dennoch führen wir die auf). Ein Seufzermotiv hat heute noch diesselbe Gestik und Wirkung wie 1650. Andere solche Klanggesten werden aber nur bei entsprechender Artikulation deutlich, sonst bleiben sie unklar, "verschmiert".


    Ich halte daher die Theorie des "Bedeutungsüberschusses" für so nicht richtig. Es geht nicht um Überschuß, sondern gerade im Falle der Musik um die einzige Möglichkeit, wie sie überhaupt so etwas ähnliches wie Bedeutung haben kann und nicht bloß in angenehmen Klängen besteht. Adorno nennt das irgendwo "sedimentierten Geist" oder so ähnlich, es sind die "Ablagerungen" längerer Epochen der musikalischen Geschichte, und es sind i.d.R. keine hermetischen, versteckten Symbole, sondern an der Oberfläche liegende Klanggesten. Die verborgenen Symbole haben damals auch höchstens die Musiker selbst mitgekriegt.


    NH hat mehrfach in Interviews (z.B. auf der CD, die mit dem Beethovenzyklus rauskam) betont, dass man in gewisser Weise bei der Aufführung "alles vergessen müsse", bzw. wohl besser internalisiert haben muß, um wieder Spontaneität zeigen zu können. Solche Spontaneität ist m.E. ziemlich deutlich in den Beethoven-Aufnahmen mit dem CoE.
    Ich habe bei ihm ohnehin den Eindruck, dass er sehr viel pragmatischer als "wissenschaftlich" zur Sache geht; gewiß war in den 50ern oder 60ern etliches an Entdeckungsarbeit nötig. Aber auch die scheint mir immer praxisbezogen gewesen zu sein. In seinen besten Interpretationen zeigt er m.E. eine Kombination von Deutlichkeit der Darstellung des Gehalts und Spontaneität, die man sonst nur sehr selten antrifft, gleich ob HIP oder traditionell.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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