ZitatAlles anzeigenOriginal von Johannes Roehl
Ich habe diesen skeptischen Schluß nicht gezogen oder nahelegen wollen. Mir geht es eher darum, dass der diesbezügliche Unterschied zwischen der historisch-informierten Praxis und der "normalen" graduell ist, nicht prinzipiell. Man muß sich halt ein bißchen Gedanken machen, dass etwas schwierig ist oder nie vollkommen funktionieren wird, ist eine schlechte Entschuldigung für Faulheit.
The proof of the pudding is in the eating. Harnoncourts Erfolg bei Musikern und Publikum zeigt m.E. klar, dass seine Interpretationen HEUTE überzeugend wirken. Dass wir nicht die Ohren und die spontanen oder impliziten Assoziationen oder Konnotationen von damals haben, ist eh klar, das haben wir vorher gewußt. Aber wir sind der Kultur von 1750 auch nicht so fern wie etwa der der antiken Tragödiendichter (und dennoch führen wir die auf). Ein Seufzermotiv hat heute noch diesselbe Gestik und Wirkung wie 1650. Andere solche Klanggesten werden aber nur bei entsprechender Artikulation deutlich, sonst bleiben sie unklar, "verschmiert".
Ich halte daher die Theorie des "Bedeutungsüberschusses" für so nicht richtig. Es geht nicht um Überschuß, sondern gerade im Falle der Musik um die einzige Möglichkeit, wie sie überhaupt so etwas ähnliches wie Bedeutung haben kann und nicht bloß in angenehmen Klängen besteht. Adorno nennt das irgendwo "sedimentierten Geist" oder so ähnlich, es sind die "Ablagerungen" längerer Epochen der musikalischen Geschichte, und es sind i.d.R. keine hermetischen, versteckten Symbole, sondern an der Oberfläche liegende Klanggesten. Die verborgenen Symbole haben damals auch höchstens die Musiker selbst mitgekriegt.
NH hat mehrfach in Interviews (z.B. auf der CD, die mit dem Beethovenzyklus rauskam) betont, dass man in gewisser Weise bei der Aufführung "alles vergessen müsse", bzw. wohl besser internalisiert haben muß, um wieder Spontaneität zeigen zu können. Solche Spontaneität ist m.E. ziemlich deutlich in den Beethoven-Aufnahmen mit dem CoE.
Ich habe bei ihm ohnehin den Eindruck, dass er sehr viel pragmatischer als "wissenschaftlich" zur Sache geht; gewiß war in den 50ern oder 60ern etliches an Entdeckungsarbeit nötig. Aber auch die scheint mir immer praxisbezogen gewesen zu sein. In seinen besten Interpretationen zeigt er m.E. eine Kombination von Deutlichkeit der Darstellung des Gehalts und Spontaneität, die man sonst nur sehr selten antrifft, gleich ob HIP oder traditionell.
viele Grüße
JR
Hallo Johannes,
da stimme ich weitgehend mit Dir überein - mit zwei kleinen, einschränkenden Bemerkungen.
Die eine Berifft die "Theorie des Bedeutungsüberschusses". Es ist ja weitgehend gleich, wie man ds Kindl nennt: "Mehrwert", "soziale Energie" oder "sedimentierten Geist". All diese Begriffe suggerieren einen Bedeutungsüberschuß, der (auf welche Weise auch immer) dem Werk inhärent sind und dazu betragen, daß es über sich selbst hinausweist. Und ich glaube wir irren, wenn wir glauben, das Sediment etwa läge so an der Oberfläche des Werkes herum... Vieles ist doch in der Tiefenstruktur eines Werkes eingelagert, die sich hermeneutisch (auch nicht tiefenhermeneutisch ) aufzuschließen ist. Da sind Verweisstrukuren am Werke, die auf einer unbewußten Ebene funktionieren, die auf ein jeweils historisch gültiges Wissen rekurrieren, die zeitgenössisch nicht analytisch erschlossen werden mußten sondern tatsächlich unreflektiert Wirkung entfalten konnten. Dies alles können wir uns womöglich wiederaneignen - aber es wird nie jene Unmittelbarkeit erreichen, die es einmal gehabt hat.
Die andere bemerkung betrifft die relative Nähe/Ferne des Barock gzw. der antiken Tragödiendichter. Sicherlich hast Du recht, daß und die Kultur um 1750 näher ist als die Tragödiendichter - ob das aber für die Kultur um 1650 genauso gilt, da bin ich nicht so sicher. Die Kultur des Hochbarock ist uns doch schon sehr sehr fremd geworden - in ihrer Rhetorik, ihrem Repräsentations- und Initiationsprozedere usw. Und nicht umsonst werden antike Tragödien heute häufiger aufgeführt als barocke Trauerspiele - schlicht, weil ihr Gehalt uns heute (immer noch oder wieder) näher und zugänglicher ist.
Soviel für den Moment...
Herzlichst,
Medard