Nikolaus Harnoncourt pro und contra

  • Die seltsamsten Wiener der Welt


    Die bereits erwähnte Monika Mertl sowie Milan Turcovic haben ein Buch über Nikolaus Harnoncourt und den Concentus Musicus geschrieben.


    Zitat aus der Produktinformation: "Unstillbare Neugier, unermeßlicher Fleiß und unerschöpfliche Hingabe an eine Idee, deren Erfolg nicht von vornherein absehbar war, prägten die Pionierzeit, in der sich der Concentus Musicus Wien zm stilbildenden Ensemble formte. Mit diesem Buch sollen fünfzig abenteuerliche Jahre lebendig werden, in denen eine verschworene Gemeinschaft hochspezialisierter Musiker mit jeder Etappe ihrer Entwicklung neue Maßstäbe setzte und dabei Interpretationsgeschichte schrieb. Eine von Nikolaus Harnoncourt kommentierte CD bildet die akustische Ergänzung."
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich kenne viele und besitze wenige Aufnahmen von NH. Es sind ausgezeichnete dabei und auch viele, die ich ruhig missen könnte.


    Aber: Es sind seine persönlichen Aussagen, die ihn mir suspekt machen, und das schon seit langer Zeit. Die Überheblichkeit und Arroganz, mit der er über andere Dirigenten urteilt, schmälert i.m.A. seine Verdienste ungemein.


    Ich möchte ihn aber niemendem madig machen -


    Erich

  • Zitat von Joseph II. aus dem Thread über neue Aufnahmen von Mozarts Opern:


    "In der neuen Aufnahme Harnoncourts des 23. und 25. Klavierkonzerts mit Rudolf Buchbinder hört man nicht mal im Ansatz Langeweile oder Spannungsarmut. Hier wird mal wieder pauschalisiert und abgewertet, der persönliche subjektive Geschmack zur absoluten Wahrheit erkoren."


    Daraus ergab sich eine kleine kontroverse Debatte, in die auch ich mich einschalten möchte - allerdings an dieser Stelle, wo es besser passt. Ich bin mit meinen Eindrücken ganz auf Josephs Seite. Warum sollte das, was wir in dieser Einspielung hören, nichts mit Mozart zu tun haben? Gewiss, der Zugang ist ungewöhnlich, vielleicht auch eine Spur spektakulär, gewollt spektakulär. Rasanter habe ich diese beiden Konzerte allerdings nie gehört. Ich bin einfach hingerissen. Was will man eigentlich mehr? Darin sehe ich einen wichtigen Sinn von Musik und ihrer Darbietung erfüllt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass hier kein traditioneller Flügel zum Einsatz kommt sondern der Nachbau eines Hammerklaviers. Wenn ich richtig informiert bin, hält Buchbinder nicht viel davon. Dass er sich trotzdem darauf einlässt, spricht für seine Toleranz und Entdeckerfreude. Dieses Klavier klingt weniger sanft und weich. Auch das Orchester ist historisch durchsetzt mit Blechbläsern aus Mozarts Zeit, die eine andere Art von Perfektion vermitteln. Als Erweiterung des großen Spektrums an Einspielungen dieser beiden Konzerte würde ich diese Produktion uneingeschränkt empfehlen. Ich bekam sie geschenkt. Dafür bin ich sehr dankbar. :) Ich weiß nämlich nicht, ob ich sie mir gekauft hätte, weil die schlichte und nichtssagende Aufmachung dazu auch nicht einlädt. Dabei bin ich persönlich gar kein allzu großer Anhänger von Harnoncourt. Am meisten schätze ich an ihm seine Experimentierfreudigkeit, für die auch die besagte Aufnahme steht. Das war nicht immer bequem. Wenn ich nur an seine ersten Bach-Interpretationen denke, die auch meinen eigenen Vorstellungen und Idealen ans Zeug gehen wollten, das aber nie geschafft haben. Im Herzen bleibe ich bei Richter und sogar bei Klemperer. Im Grunde hat mich auch Harnoncourt darin bestärkt, was er bestimmt nicht gern lesen würde. ;) Er ist auch Opern neun angegangen. Nicht vergessen werde ich seinen Anteil an der Entdeckung einer deutsche Version der "Verkauften Braut" in der originalen Partitur von Smetana in Prag, die heimlich abgeschrieben und und schließlich aufgeführt wurde. Die war zwar nicht optimal gesungen, aber immerhin!


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Zitat von Rheingold1876

    Als Erweiterung des großen Spektrums an Einspielungen dieser beiden Konzerte würde ich diese Produktion uneingeschränkt empfehlen. Ich bekam sie geschenkt. Dafür bin ich sehr dankbar. :) Ich weiß nämlich nicht, ob ich sie mir gekauft hätte, weil die schlichte und nichtssagende Aufmachung dazu auch nicht einlädt. Dabei bin ich persönlich gar kein allzu großer Anhänger von Harnoncourt.


    Lieber Rheingold,


    es freut mich, daß Dir diese Einspielung ebenfalls zusagt. Ich habe mich ja vor einiger Zeit sogar so weit aus dem Fenster gelehnt und sie zu meinen "Unverzichtbaren" erkoren, was im Grund ja nur heißen soll, daß ich sie zu meinen Lieblingsaufnahmen zähle. Die schlichte Aufmachung ist in der Tat nicht sonderlich einladend, aber bei mir ist der Name "Buchbinder" in Verbindung mit Mozart Grund genug, die Aufnahme zu kaufen. Ich mag Harnoncourts Dirigate z. T. sehr gern, anderen stehe ich mit gemischten Gefühlen gegenüber (Don Giovanni Zürich, da liegt es aber auch z. T. an den Sängern). Er inszeniert sich gern als Querdenker/ Neuerfinder: dabei gelingt ihm Manches gut, Anderes geht leider durch den Willen, unbedingt etwas Neues präsentieren zu wollen, schief. Aber wem wäre schon alle Dirigate gut gelungen? Er ist auf einen Fall eine Person, ohne die die klassische Musik ärmer wäre, ganz unabhängig davon, ob man seine Dirigate schätzt, oder nicht.


    Beste Grüße
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • "Er ist auf einen Fall eine Person, ohne die die klassische Musik ärmer wäre, ganz unabhängig davon, ob man seine Dirigate schätzt, oder nicht."


    Das kann ich eigentlich nur unterstreichen. Ohne jetzt seine gesamte Diskographie durchgehen zu wollen (von der ich vieles gar nicht kenne), hat Harnoncourt m. E. doch nicht wenig vorgelegt, was mehr als hörenswert, teilweise auch referenzträchtig erscheint.


    Was mir bei seinen frühen Bach-Aufnahmen gefällt, ist, dass er konsequent auf einen (sehr guten) Knabenchor setzte. Später wich er davon bekanntlich wieder ab, doch war es Harnoncourt, der mal tatsächlich versuchte, dem Originalklang nicht nur hinsichtlich der Instrumente der Bach-Zeit nahezukommen, sondern auch den von Bach eben eingesetzten und insofern historisch korrekten Knabenchor zu verwenden. Ob Bach selbst nicht immer mit "seinen" Thomanern zufrieden war, interessiert mich hier nur peripher.


    Harnoncourts Mozart regt zumindest zu kontroversen Diskussionen an. Man erinnere sich an die heute schon legendäre Debatte zum Salzburger "Figaro" von 2006. Sein "früher" Mozart, etwa der "Don Giovanni" aus den 80ern, waren mitunter mein erster Zugang zu dessen Opern. Diese Einspielungen sind sicherlich nicht derart umstritten wie seine jüngsten Deutungen.


    In der (Spät-)Romantik kann er m. M. n. erstaunlicherweise teilweise auch punkten, denke ich an seine Einspielungen von Dvořák und Smetana. Aber auch seine Fünfte von Bruckner ließ mich aufhorchen (Salzburg 2005). Seinen Beethoven kenne ich gar nicht, was wohl eher Zufall als Absicht ist.


    Natürlich gibt es auch Aufnahmen von Harnoncourt, die mir weniger liegen und mich nicht besonders überzeugen konnten. Hierzu zähle ich seinen Brahms mit den Berliner Philharmonikern, der mir schlichtweg zu hektisch klingt. Dass er Wagner rigoros ablehnt, kann ich auch nicht nachvollziehen, aber es ist natürlich seine legitime Meinung (immerhin begründet er das Nichtdirigieren dieses Komponisten).


    Liebe Grüße
    Joseph

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • "Er ist auf einen Fall eine Person, ohne die die klassische Musik ärmer wäre, ganz unabhängig davon, ob man seine Dirigate schätzt, oder nicht."


    Das kann ich eigentlich nur unterstreichen. Ohne jetzt seine gesamte Diskographie durchgehen zu wollen (von der ich vieles gar nicht kenne), hat Harnoncourt m. E. doch nicht wenig vorgelegt, was mehr als hörenswert, teilweise auch referenzträchtig erscheint.


    Was mir bei seinen frühen Bach-Aufnahmen gefällt, ist, dass er konsequent auf einen (sehr guten) Knabenchor setzte. Später wich er davon bekanntlich wieder ab, doch war es Harnoncourt, der mal tatsächlich versuchte, dem Originalklang nicht nur hinsichtlich der Instrumente der Bach-Zeit nahezukommen, sondern auch den von Bach eben eingesetzten und insofern historisch korrekten Knabenchor zu verwenden. Ob Bach selbst nicht immer mit "seinen" Thomanern zufrieden war, interessiert mich hier nur peripher.

    Problematisch sind hauptsächlich einige der Knabensolisten. Wie auch immer, finde ich es ebenfalls sehr gut, dass es diese Pionieraufnahmen gibt (und man sollte den temperamentverschiedenen Leonhardt nicht unterschlagen), die in mancher Hinsicht konsequenter sind als die meisten späteren HIP-Aufnahmen (Harnoncourts eigene eingeschlossen).


    Die Beethovensinfonien waren damals, vor über 20 Jahren, sensationell, obwohl es schon Norringtons, Hogwoods und teils Brüggens "HIP"-Aufnahmen gab und Harnoncourt größtenteils moderne Instrumente verwendete. Ich finde die zwar auch nicht alle gleichermaßen gelungen und nirgendwo gibt es so viel Konkurrenz, aber diese Live-Aufnahmen haben eine außerordentliche Frische und Spontaneität, was auch am Orchester liegen dürfte. Die Ouverturen und die Missa solemnis sind auch sehr gut, die Klavierkonzerte mit Aimard zeigen dagegen ein mich oft irritierendes Merkmal von NHs "Altersstil": sehr breite Tempi und stellenweise manierierte Detailobsession. Das gibt es zwar vereinzelt auch schon eher und auch in diesen Konzerten lässt es mitunter aufhorchen, aber ich finde hier einen geradlinigeren Zugang weit überzeugender.



    Zitat

    Hierzu zähle ich seinen Brahms mit den Berliner Philharmonikern, der mir schlichtweg zu hektisch klingt.

    Ich habe daraus nur die 3. und 4., die ich auch ziemlich schwach finde, aber hektisch kann ich nicht nachvollziehen. Im Gegenteil finde ich die viel zu lasch und einseitig "lyrisch" oder was immer das sein soll, jedenfalls nicht überzeugend.
    Selbst wenn mir einiges andere, was ich gehört habe, zB die Brahms-Konzerte mit Buchbinder oder die Dvorak Sinf. Dichtungen ziemlich gut gefallen, bedaure ich insgesamt die "Ausflüge" in Mainstream-Spätromantik eher. Stattdessen hätte er in den letzten 20 Jahren lieber noch ein paar Haydn-Sinfonien oder Bach-Söhne (fehlen völlig in der Diskographie) o.ä. machen sollen. Aber vermutlich spielen kommerzielle Anforderungen der Labels hier auch eine Rolle. Da läuft eben eine Neueinspielung von Mozarts Requiem, der "Schöpfung" o.ä. besser und obwohl er lange und wohl immer noch erheblich jünger wirkt(e), ist er eben auch nicht mehr der Jüngste.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Völlige Zustimmung zu allen in Beitrag 336 getroffenen Ausführungen J.R.s, mit einer Ausnahme: Dvoraks Slawische Tänze und Bartoks Divertimento waren ohrenscheinlich Herzensangelegenheiten. Zudem gab es nach meiner Erinnerung eine frühe C.P.E. Bach-Einspielung (?). Ich kenne darüber hinaus die Brahmssinfonien 1 und 2, ebenfalls "viel zu lasch", zu undetailliert [!] und hinsichlich der Tempi gewiss nicht "hektisch" - eine seltsam misslungene Gesamteinspielung - gemessen an meinen "Vorerwartungen".

  • Ich kenne nur die 1. Symphonie von Brahms von Harnoncourt mit den Berliner Philharmonikern. Habe gerade nochmal vergleichend nachgehört: Die Coda des Finales ist wirklich zu hektisch. Er verlangsamt den Choral in gar keiner Weise, gefällt mir nicht. Die reinen Spielzeiten dagegen sind gar nicht so schnell, das ist wahr. Zu lyrisch trifft es ganz gut. Deutlich besser finde ich hier übrigens Abbado mit demselben Orchester. Der ist doch deutlich kräftiger im Zugang. Von Barbirolli mit den Wiener Philharmonikern ganz zu schweigen (referenzträchtig).

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

  • Ich habe über die frühen Concentus-Einspielungen keinen Überblick. Es gab jedenfalls einige Sammlungen Kammermusik (Mannheimer bzw. frühe Wiener), die evtl. nicht komplett auf CD sind, da könnte CPE Bach dabei gewesen sein (relativ sicher Joh. Christian). Vielleicht gibt es auch noch andere Aufnahmen, die ich nicht kenne. Die slawischen Tänze kenne ich nicht, von der Bartok-CD habe ich das Divertimento überzeugender in Erinnerung als die "Musik für...." (die ist auch wieder mal sehr langsam in einigen Sätzen, meine langsamste Einspielung des Werks)

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  • Zitat

    Die Coda des Finales ist wirklich zu hektisch. Er verlangsamt den Choral in gar keiner Weise, gefällt mir nicht

    Wenn ich recht entsinne, verlangt die Partitur ja auch keine explizite Verlangsamung; ich werde dies mal überprüfen. Joseph spicht hier ohnehin bewusst von einer Aufführungstradition. Abbados spätere GA würde ich jedoch nicht über Harnoncourt stellen. Überhaupt kommt aus Berlin mMn keine wirklich zufriedenstellende Gesamtaufnahme der Brahmssinfonien; auch Karajan und Rattle sind verzichtbar [mein Brahmsbild ist aber auch ein ganz anderes als Glockentons ;) ]. Kempe war in München überzeugender. Demnächst muss ich mir dann offenbar Barbirolli zuführen...

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Das wird off-topic, aber gibt es nicht eine hochangesehene Jochum-Aufnahme der Brahms-Sinfonien (1950er mono) aus Berlin? (Ich kenne sie nicht)
    Und in Mitschnitten der 40er/50er natürlich Furtwängler, mindestens für 1 und 4.


    Den "Anti-Karajan"-Brahms (eher hart und klar, aber nicht anämisch) findet man m.E. bei Wand und noch konsequenter, Toscanini.

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  • Jochum ist nicht uninteressant, aber hier nicht über Kempe zu stellen. Furtwängler zählte ich nicht unter die GA. Zur Fraktion "hart und klar" gehört auch Swarowsky, bei eher mässigen Tempi.


    Zurück zu Harnoncourt: Brahms Haydn-Variationen sind recht gelungen - "irgendwie" keine Überraschung...

  • Nach dreijähriger Pause erweitere ich diesen Thread um einen weiteren Beitrag. Auch wenn hier in den letzten 12 Jahren sehr viel interessantes an Behauptungen, Einschätzungen von Befürwortern und ablehnenden Hörern zu lesen war - und ich habe doch einiges nachgelesen - so ist es kaum möglich den Thread in seiner Gesamtheit von bisher 342(!!!) Beiträgen nachzulesen, mag also sein, daß ich eine wichtige Aussage verpasst oder überlesen habe.
    Anlass für meinen Einstieg hier ist eine interessante Aussage von "Glockenton" in einem anderen Thread, wo es aber um einen Pianisten ging und nicht primär um Nikolaus Harnoncourt, und deshalb antworte ich darauf HIER, um den anderen Thread nicht durch ein thematisch eventuell ausauferndes Nebenthema zu zerstören.



    Glockenton schrieb dort über Nikolaus Harnoncourt:

    Zitat

    Was Harnoncourts Mozart anbelangt, so finde ich, dass er viele Dinge richtig erkannt hat, aber es bei der Ausführung oft übertrieb/forcierte. Es sind geniale Ideen und Erkenntnisse darunter, aber auch viele Forcierungen, die der Schönheit des Klangs keinerlei Bedeutung mehr zuzumessen schienen. Sein Ansatz geriet insgesamt - gerade bei den letzten Symphonien mit dem Concentus musicus- in eine Schieflage. Dramatischer Ausdruck, noch mehr, und noch mehr, eine Katastrophe folgt auf die andere. Die Partitur als Vorlage für ein akustisches Kriegsgebiet, bei der der Fliegeralarm und die Bombeneinschläge vorhersehbar aber unvermeidbar werden. Dabei wurden dann andere Aspekte wie etwa das Anrühren der Seele durch Wärme, Schönheit und größere melodische Bögen ziemlich in den Hintergrund gestellt, auch wenn natürlich die zärtlichen Stellen auch so gespielt wurden.


    Lieber Glockenton, sehe ich es richtig, daß Deine Einstellung zu Harnoncourt gegenüber früher kritischer geworden ist, ich hatte dich - es ist zugegebenermaßen lange her - immer als begeisterten Anhänger Harnoncourts im Hinterkopf, mag aber sein, daß ich - wie leider zu oft - zu flüchtig gelesen habe.
    Meine persönliche Einstellung zu Harnoncourt war in etwa die: Ein blitzgescheiter Kopf, hervorragender Theoretiker, der seine Theorien auch schlüssig belegen und überzeugend übermitteln kann - solange bis er einen Taktstock in die Hand nimmt. Seine Dirigate empfand ich stets als spröde und verstörend (von Ausnahmen mal abgesehen).
    Ich habe aber den Eindruck, daß auch der Concentus musicus sich allmählich von seinem Gründer lösen will. Der eigenwillige "große alte Mann" ist nun kein Aushängeschild mehr, was man ihm nachgesehen hat, und teilweise sogar als Genialität gedeutet hat, würde ohne die Gallionsfigur nicht mehr akzeptiert. Das Ensemble scheint neue Wege gehen zu wollen (zu müssen ?)


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat Glockenton Es sind geniale Ideen und Erkenntnisse darunter, aber auch viele Forcierungen, die der Schönheit des Klangs keinerlei Bedeutung mehr zuzumessen schienen. Sein Ansatz geriet insgesamt - gerade bei den letzten Symphonien mit dem Concentus musicus- in eine Schieflage. Dramatischer Ausdruck, noch mehr, und noch mehr, eine Katastrophe folgt auf die andere. Die Partitur als Vorlage für ein akustisches Kriegsgebiet, bei der der Fliegeralarm und die Bombeneinschläge vorhersehbar aber unvermeidbar werden.


    Besser kann man das "Problem" von Harnoncourt glaube ich nicht zusammenfassen, als Glockenton es hier getan hat.


    Ich hatte zu seiner "Vermächtnis"- Aufnahme Ende Dezember 2016 geschrieben im anderen Thread:



    Diese Aufnahme ist wohl zu Harnoncourts Vermächtnis geworden. Nun muss ich gestehen, dass ich nie der große Harnoncourt-Enthusiast gewesen bin. Bei dieser Aufnahme dachte ich mir: Vielleicht wirst Du es nun posthum? Die Einleitung der 4. ist in der Tat packend. Aber dann diese krachenden Pauken und schmetternden Trompeten im grellen Licht, da ist es mit meiner Bewunderung dann auch schon wieder vorbei. Nein, denke ich mir, das klingt nicht wie Beethoven, sondern so, als hieße der Komponist Georg Friedrich Händel und das Stück wäre eine Fortsetzung seiner Feuerwerksmusik. Bei der 5. setzt sich dieser Eindruck fort. Nach etwa 10 Minuten geht mir diese Harnoncourt-Knalligkeit einfach auf die Nerven. Doch analysieren wir sachlich: Sicher, von Harnoncourt kann man lernen, was die Karajan-Ästhetik glatt bügelt, die rhetorischen Phrasierungen, sie spielt er mit aller Deutlichkeit aus. Doch: Für mein Verständnis ist das letztlich interpretatorisch ein Anachronismus. Ende des 18. Jhd. ist die Zeit eben auch von Rhetorik-Kritik – und davon soll bei Beethoven so gar nichts zu spüren sein? Harnoncourts Beethoven hört sich an, als sei es Barock-Musik. Und auch „logisch“ finde ich das anachronistisch: Das ist oft mehr Suiten-Geist der sukzessiven Reihung als kontinuierliche, symphonische Entwicklung. Sicher, von Harnoncourt kann man lernen, wie viel Rhetorik auch noch in Beethoven steckt. Aber was ausfällt ist das eigentlich „Klassische“, was dann das Barock-Rhetorische zugleich transzendiert. Insofern bleibt mein Verhältnis zu Harnoncourt zwiespältig. Interessant anzuhören ist das und auch lehrreich und zum Nachdenken anregend. Aber um es wieder und wieder zu hören – nein, dazu reizt mich Harnoncourts barockisierter Beethoven als musikalisches Spektakel mit knalligen Pauken und Trompeten nicht. Das ist mir letztlich zu affektiert für musikalische Klassik.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Glockenton, sehe ich es richtig, daß Deine Einstellung zu Harnoncourt gegenüber früher kritischer geworden ist, ich hatte dich - es ist zugegebenermaßen lange her - immer als begeisterten Anhänger Harnoncourts im Hinterkopf, mag aber sein, daß ich - wie leider zu oft - zu flüchtig gelesen habe.


    Lieber Alfred,


    ich sehe/höre ihn mittlerweile differenzierter als früher.


    Hier eine Auswahl einiger seiner Aufnahmen, die ich für unverzichtbar und meistens auch unerreicht halte:



    Bei den Bach-Kantaten gibt es ganz wunderbare Momente, leider oft getrübt durch indiskutable Leistungen des Tölzer Knabenchors oder anderer Knabensolisten. Auch das Timbre eines Paul Esswood muss man zu ertragen bereit sein.


    Seinen Brahms oder Bruckner kann ich wenig abgewinnen, sein Beethoven hat seine Momente, aber in der Gesamtheit ziehe ich dann doch Andere vor. Die weiter oben besprochene späte Missa Solemnis hatte überirdisch schöne Momente bei den Passagen mit der Solo-Violine.


    Ein Grundproblem bei ihm taucht immer wieder auf: Den Spruch "less is more" also "weniger ist mehr" hätte er häufiger beherzigen sollen.
    Es stimmt ja, dass z.B. bei Mozart auch Dramen und Tragisches unter der schönen Oberfläche vorhanden sind. Aber vielleicht wirkt es mehr, wenn man sie ahnt, wenn sie einfach geschehen, als wenn man es derart aufreißt, wie es in der späten Mozart-Aufnahme geschah.
    Mozart braucht m.E. auch eine Balance der verschiedenen musikalischen Elemente. Eine Mozart-Interpretation, die in eine Richtung abkippt, geht dann bei aller Mühe am eigentlichen Ziel vorbei. Das "Geschehen-Lassen" war nicht unbedingt sein Ding, d.h. er griff oft zu sehr ein, wohlgemeint natürlich. Als ich seine Zauberflöte mit der DG-Böhm-Aufnahme als eigentlicher Harnoncourt-Anhänger hörte, war ich doch verblüfft, wie viel besser mir die Lösungen Böhms gefielen.


    Oft hat er bis ins Detail eigentlich recht - wenn er es dann nur nicht "zu doll" gemacht hätte. Wie gesagt, dass kann man keineswegs generell sagen, weil man damit vielen wirklich wahnsinnig guten Aufnahmen Unrecht täte. Bei den weniger guten Einspielungen jedoch ist jenes "Zuviel des Guten" meistens das Hauptproblem.


    Bei Beethoven fließt es für mich bei ihm zu wenig, d.h. man wird hier und da wie von einem Lehrer aufmerksam gemacht, schaltet aber dann irgendwie ab.
    Es gibt aber auch tolle Beethoven-Aufnahmen mit ihm, z.B. die Erste oder die Zweite. Aber auch hier möchte ich nicht so viel von bestimmten Visitenkarten aus dem Hause Harnoncourt behelligt werden (ich denke an einige Artikulationen). Wenn man diese Symphonien mit ihm hört und die Partitur mitliest, ist man geneigt, ihm zuzustimmen.
    Was die Beethoven-Symphonien anbelangt, bin ich erstaunt, wie sehr ich oft Thielemann favorisiere. Bei der Siebten und der Fünften hat Solti sehr Gutes erreicht, und bei der Eroica, der Fünften und der Neunten ist Karajan eben der Karajan unter den Dirigenten....


    Harnoncourts Schubert hat etwas, denn Schubert ist ja ein tragischer Charakter, der sich im Spannungsfeld zwischen Lichtblicken im Tränenflor und dann wieder grausamen Abgründen bis zur apathischen Hoffnungslosigkeit bewegt. Das kommt Harnoncourts Temperament sehr entgegen.
    Seine Vierte mit den Berliner Philharmonikern aus 2004 ist sehr sehr schön, und entgegen so mancher Negativ-Kritik fand ich auch seine Erstaufnahme der Unvollendeten mit den Wiener Symphonikern sehr unter die Haut gehend. Die Aufnahmen mit dem Concertgebouw mag ich nicht so sehr, weil sie mir zu spröde klingen.
    Das Geschreibe von zu langsamen Tempi bei Schubert halte ich für unsinnig, denn es sind die Tempi, die auch Böhm, Wand oder Furtwängler für Schubert in etwa so mit guten Gründen bevorzugten. Wer Schubert als schnelle Effektmusik hören will, hat eigentlich gar nichts verstanden.
    Leider war mir die Neuaufnahme, also diese Box mit den Berliner Philharmonikern, bisher immer zu teuer.
    Für Schubert haben es mir aber ansonsten insbesondere Karl Böhm und Günter Wand angetan, bei der langsamen EMI-Aufnahme der Unvollendeten auch Karajan.


    Harnoncourts Brahms hat mich eher enttäuscht. Bei den Symphonien mit den Berlinern klingt es spröde und beim Brahms-Requiem mit den Wienern zu barock/Harnoncourt-verwandt.


    Über seinen Bruckner kann ich nicht so viel sagen, aber bei Vergleichen konnte ich mich dafür nicht sehr erwärmen. Hier sind Celibidache, Wand und Karajan für mich wesentlich wichtiger geworden, bei der 9. auch Giulini.


    Harnoncourt ist mir in vielen Dingen lieber als so manch anderer Interpret, denn er war immer reflektiert und ging gleichzeitig in die Vollen, war dabei ein echter Künstler im Sinne einer schon romantischen Individualität. Seine Aufnahme der Bach-Motetten hat nicht nur mich dazu bewegt, überhaupt Musiker zu werden, sondern auch die wohl beste Chordirigentin Norwegens auch. Als ganz Großen muss man ihn unbedingt sehen, aber auch die ganz Großen kann und sollte man differenziert betrachten.
    Das ist bei Karajan ja auch nicht anders: Es gibt von ihm nicht zu übertreffend Gelungenes, dann aber wieder auch Sachen, auf die man eher verzichten kann, z.B. seine Barockversuche.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Die "langsamen Tempi bei Schubert" betreffen allein die "Unvollendete" und evtl. noch das (oft problematische) Finale der 6. Ansonsten sind die Tempi meiner Erinnerung nach unauffällig bis eher zügig.


    Von Glockentons Liste kenne ich alles außer der Monteverdi-Oper und der CD mit weltlichen Bachkantaten. Die Empfehlungen würde ich alle unterstützen, mit Ausnahme des "Messiah". Die ist sehr eigenwillig und höchstens als 4. oder 5. Aufnahme des Werks "for something completely different" zu empfehlen. (Die Neuaufnahme des Werks kenne ich nicht)


    Ergänzen würde ich jedenfalls


    - Händels Orgelkonzerte mit Tachezi, sehr spielfreudig, vielleicht nicht ganz so affektgeladen wie op.6.
    - Cäcilienode und Alexanderfest (die anderen Händel-Oratorien kenne ich entweder nicht oder sie sind gekürzt/problematisch ("Samson" hat einen tollen Samson, ist jedoch auf 70% oder so des Umfangs. zusammengeschnitten und die anderen Sänger sind auch nicht in der Liga von Rolfe Johnson)


    - Die erste Matthäuspassion (1970) und evtl. auch das erste Weihnachtsoratorium, beide konsequent mit männlichen Sängerstimmen.


    - Alle Haydn-Sinfonien, die mit dem Concentus Musicus aufgenommen wurden: 6-8, 30, 31, 45, 53, 59, 60, 69, 73, 82-87 (die "Londoner" mit dem Concertgebouw sind hörenswert, aber nicht in der Liga der Concentus-Aufnahmen).
    - Haydn-Messen etc. Eher nicht die früheren Aufnahmen der bekannten Oratorien, aber ich kenne die nur teilweise.
    - Haydns Opern Alcina und Orlando Paladino: eher randständiges Repertoire, aber man wird es kaum besser finden.


    Bei Mozart muss man m.E. den oft außerordentlichen Eindruck, den diese Aufnahmen vor über 30 Jahren machten, berücksichtigen. Natürlich ist das oft etwas einseitig. Aber die dominierende Mozart-Tradition war eben auch einseitig, bloß auf der anderen Seite... Als Alternative halte ich die Sinfonien immer noch für sehr hörenswert (und einige, z.B. 25, 39, 40) gehören nach wie vor zu meinen Favoriten. Weniger polarisierend sind wohl
    - die Konzerte (bes. KV 488 und 537 mit Gulda, die Violinkonzerte mit Kremer kenne ich nicht, ebensowenig die späten Aufnahmen mit Buchbinder und Lang Lang),
    - die Bläserkonzerte (eine der ersten Naturhornaufnahmen der Hornkonzerte).
    - Eigenwillig aber hörenswert die Bläser-Serenaden, während die beiden "sinfonischen" Serenaden mit der Staatskapelle Dresden eher "gemäßigt" sind.
    - Für außerordentlich gut halte ich auch einige der geistlichen Mozart-Werke. Freilich ist die Salzburger Kirchenmusik nicht unbedingt ein Höhepunkt in Mozarts Schaffen und für die beiden großen unvollendeten Werke gibt es naturgemäß sehr viel Konkurrenz (und diese sehr dramatischen Interpretationen aus den frühen 1980ern leiden unter dem mittelmäßigen Staatsopernchor, bei den späteren Aufnahmen der frühen Kirchenmusik singt der Schönberg-Chor). (Die Aufnahmen der Mozart-Opern kenne ich zu wenig.)


    Auch bei Beethoven gilt, dass der Eindruck vor 25 Jahren natürlich dadurch relativiert wird, dass seither viele ähnliche Aufnahmen, also historisierend, aber auf modernen Instrumenten erschienen sind (damals bestand die HIP-Konkurrenz hauptsächlich in den geradlinigen bis drögen Aufnahmen Norringtons und Hogwoods), so dass die ungewöhnliche Frische und Originalität nicht mehr so deutlich hervorsticht. Ich finde die auch nicht durchweg überzeugend, aber 1-4 und 7-8 sehr gut, selbst in einem extrem engen Feld. Etwa die Details der fantastischen Holzbläser des Chamber Orchestra of Europe. Das Violinkonzert mit Kremer ist wieder eher eigen (kein Wunder, bei gleich zwei so individuellen Künstlern), die Klavierkonzerte fand ich eher eine verpasste Chance (s.o., angeblich war zuerst Argerich als Solistin vorgesehen...)


    Wie schon in #336 bemerkt, fand ich die zunehmende Schwerpunktsverlagerung ins übliche Repertoire des 19. Jhds. eher bedauerlich und ich finde nach wie vor, dass man Harnoncourt nicht gerecht wird, wenn man ihn in erster Linie mit Schubert, Dvorak, Brahms usw. (so gut einige dieser Aufnahmen auch sein mögen) kennenlernt bzw. danach beurteilt und nicht mit seinem ursprünglichen Kernrepertoire von Monteverdi bis Mozart.

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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Mir ist noch eine Aufnahme eingefallen, die bei meiner obigen Liste fehlt, dort aber unbedingt auch hineingehört:


    Es handelt sich um die Einspielung der Tafelmusik von Telemann mit dem Concentus musicus Wien unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt.



    Man kann sie hier auch länger anhören, wenn auch mit einer den lebendigen Eindruck schmälernden Klangqualität, die auf CD wesentlich besser ist:



    (hoffentlich auch in Deutschland abspielbar)


    Wenn ich überhaupt einen Komponisten wie Telemann anfing zu lieben, dann ist das wohl hauptsächlich Harnoncourts Verdienst.
    Neben der Ouverture auch sehr schöne Anspieltips: 10.05 und 14.14. auch die nachfolgende Loure - einfach fantastisch, sehr erzmusikantisch und eben typisch Harnoncourt.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)