Nikolaus Harnoncourt pro und contra

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Falsch: Jeder Musiker, der etwas auf sich hält und geistig wendig ist, lässt sich auf so etwas ein - weil es nämlich Stoff für seine kleinen grauen Zellen ist. Die anderen können ohnedies bei den "Normal-Dirigenten" à la Haitink oder Muti ihren Dienst nach Vorschrift machen.
    Lieber Ulli, ich glaube, Du schätzt da die Musiker (und nicht nur die der Wiener Philharmoniker) total falsch ein.


    Ich halte es ebenfalls für äußerst unwahrscheinlich, dass sich Musiker aus Orchestern wie dem Concertgebouw, den Berlinern und den angeblich ja schon aus Prinzip blasierten Weana Philharmonikern (die haben ihn sogar nochmal zum Neujahrskonzert eingeladen, und davon war nicht mal ich besonders angetan) von einem Stümper etwas vormachen lassen. Von den Sängern und Solisten nicht anzufangen. Der persönliche Charme NHs scheint mir nach dem, was ich im TV gesehen habe, nicht allein dafür verantwortlich zu sein. Vor einiger Zeit lief eine Sendung über die Sängern Kassarova (sehr attraktiv und sympathisch übrigens), die hatte er vollends eingewickelt.
    Es ist wie schon von Kundigeren erwähnt, die Art der Probenarbeit, wie Musik lebendig wird usw. Es mag sein, dass das am besten mit Ensembles wie dem Concentus, die ihn seit Jahrzehnten kenen oder dem Chamber Orchestra of Europe, die sehr frisch und flexibel waren (einzelne der Beethovensinfonien haben sie wohl mit NH zum ersten Mal richtig eingespielt) funktioniert. Ich halte einfach zuviel von den professionellen und intellektuellen Qualitäten all dieser Musiker, als dass ich glauben könnte, sie machten wider Willen mit (und erzählten dann das Gegenteil) Warum in aller Welt sollten sie? da muß man schon Verschwörungstheorien bemühen...


    Natürlich gab es Originalklang etc. Ansätze vor und gleichzeitig mit Harnoncourt. Es scheint aber deutlich, dass keiner der anderen Pioniere eine derart starke und mitreißende Persönlichkeit und ansteckende Begeisterung aufwies und derart Interessantes an andere Musiker und das Publikum vermitteln konnte wie NH. Er ist halt klarerweise KEIN Musikwissenschaftler, sondern als erstes ein praktizierender Vollblutmusiker. (Man muß sich immer vor Augen halten, dass er bei '69 bei den Symphonikern gespielt hat, u.a. um die Familie (IIRC vier Kinder) zu ernähren, die Energie "nebenher" 15 Jahre Arbeit mit dem Concentus zu machen, muß man auch erstmal aufbringen)
    Auch die meisten ein wenig jüngeren halte ich fast alle für eher blaß (persönlich, oft auch musikalisch) ihm gegenüber. Klar, Pinnock und Gardiner sind sauber und solide, ihre Ensembles hochvirtuos, aber klingen dann oft halt wie Marriner mit alten Instrumenten. Keines der britischen Ensembles erzielt auch nur annähernd einen so eigenen, spezifischen Klang wie der Concentus. Der ist überhaupt nicht häßlich, sondern im Gegenteil zu sehr viel mehr Farben, Stimmungen, Phrasierungen, Schattierungen fähig als die Konkurrenz. (Ich rate jedem, mal Haydns Pariser Sinfonien anzuhören, gewiß teils extreme Lesarten, aber allein im 2. Satz von Nr 82 hört man vielfältigere Streicherartikulation als bei manchen Konkurrenten in allen 6 Sinfonein zusammen...)
    Und mich wundert sehr, dass Jacobs hier einigen gefällt, die NH nicht mögen. Denn wenn jemand eher noch manierierter (und das meist willkürlicher) ist als NH, dann Jacobs (daher ist er ja einer der Interessanteren, ebenso Minkowski ;))
    Dass der Vorwurf des "um jeden Preis anders machens um seiner selbst willen" haltlos ist, wurde ja schon mehrfach ausgeführt.
    Ich würde sogar noch über Edwins statement hinausgehen und sagen: besser jemand hat Ideen, die bizarr oder schlicht falsch scheinen mögen wie NH (oder Furtwängler oder Gould oder xxx) als er hat gar keine (wie allzuviele Kollegen).


    Ich kann ziemlich wenig zu den Einspielungen mit Musik des späteren 19. Jhds sagen, da mich zum einen das Repertoire oft nicht sehr interessiert, ich sie daher gar nicht oder nicht gut kenne. Es ist natürlich im heutigen Medienbetrieb voll verständlich, dass er Brahms, Bruckner und Dvorak macht. Und es ist absolut heuchlerisch, ihm das als Karrierismus vorzuwerfen! Er brauchte ca. 20 Jahre von Bach & Monteverdi bis Mozart, dann fast noch einmal so viel bis Schubert und Brahms. Sein Beethovenzyklus kam nach nicht weniger als 3 Konkurrenten auf Originalinstrumenten (Hanover Band, Hogwood, Norrington), Anfang der 90er heraus. Andere preschten da wesentlich flotter vor....
    Ich bin jedoch nicht wirklich von dieser Expansion begeistert. Zwar hat er gewiß auch zu all diesen Komponisten etwas zu sagen (und die Verweigerung, "Kleinmeister abzugrasen" hat meine Sympathie ;)), aber ich glaube, dass es eine andern Grund gibt, warum hier die Meinungen (das dachte ich jedenfalls) noch stärker gespalten sind als sonst. Ab Beethoven gibt es, besonders wenn man etwas in der Zeit zurückgeht und die Stromlinisierung der 60er und 70er ignoriert, schon praktisch alles an Interpretationsansätzen, was man sich vorstellen kann. Die expressiven Extreme von Furtwängler, Mengelberg oder Scherchen ebenso schon wie die Geradlinigkeit von Toscanini, Leibowitz oder Kleiber, die wuchtige Strenge Klemperers und die Brillanz von Karajan usw. Bei Mozart war das nicht so, da gibt es ganz vereinzelte Vorläufer, vielleicht am meisten noch Furtwängler und Klemperer, die die Züge betonen, die NH herausarbeitet. Da hat er wenigstens für mich, einen Bereich erst eröffnet, der vorher nur in Ansätzen zu erahnen war. Ähnliches gilt für die überragenden Aufnahmen der Concerti von Händel
    U.a. dank des phantastischen CoE und der Live-Sponaneität sind m.E. dennoch einige der Beethovensinfonien außerordentlich spannend gelungen (uninteressant ist keine). Noch weiter fortzuschreiten, wo zunehmend unklar ist, ob das Paradigma der gestischen Klangrede noch so paßt (im weitesten Sinne paßt es gewiß, denn Musik ist "Klang-Geste", mit ganz wenigen Ausnahmen, die aber vor dem 20. Jhd. selten sein dürften) wie er es anwendet, wo seit jeher ein viel breiteres Spektrum an Interpretationen herrscht, wo die Tradition weniger gebrochen und strittig ist als bis ca. Beethoven, kann er einfach weniger von seinen spezifischen Qualitäten und Erfahrungen ausspielen. Ich wünschte, er würde lieber noch ein dutzend weniger bekannter Haydn-Sinfonien einspielen (mit dem Concentus, die mit dem Concertgebouw sind mir oft zu zahm, viel zahmer als der Mozart oder der neuere Haydn)



    @Kurzstückmeister: Ich glaube Du irrst, wenn Du meinst, dass andere HIP-Ensembles in den 60er sauberer gespielt hätten als der Concentus, die Unterschiede liegen im statistischen Tauschen. Sie mögen Ende der 70er von jüngeren Gruppen wie MAK dann deutlich überholt worden sein, aber vorher gab sich das nicht viel. Im Gegenteil gibt es meines Wissens noch eine Einspielung der Brandenburgischen aus den 70ern unter Leonhardt, wo die Trompetenpartie im 2. von einem Horn übernommen wird! Und technisch haben sich die Spieler in dieser Zeit exponentiell verbessert...
    (was natürlich nicht heißt, dass man daher nicht zu den neueren technisch besseren Aufnahmen greifen sollte)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Glockenton,


    Zitat

    Ich stelle fest, dass es Ulli erfolgreich gelingt, die Diskussion des Themas "Nikolaus Harnoncourt pro und contra" immer wieder auf Details einer Salzburger Mozart/Figaro-Aufführung des Jahres 2006 zu verengen, mit der er aus emotionalen und aus seinem Detailwissen individuell abgeleiteten Gründen nicht klarkommt.


    Das stimmt eben nicht so. Der "Messiah" aus dem vergangenen Jahr ist ebenso eine Zumutung. Der Hallelujah-Chor klingt zu Beginn wie ein Trauerchor... Aber auch manch andere Musikstücke sind bei der Tempowahl viel zu langsam...




    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • Zitat

    Aber auch manch andere Musikstücke sind bei der Tempowahl viel zu langsam...


    Meiner Meinung nach müsste die Formulierung lauten: "Aber auch andere Musikstücke sind bei der Tempowahl wesentlich langsamer, als wir es gewohnt sind - und zwar so langsam, daß sie jenen Hörern, die die herkömmlichen Eilzug-Tempi gewohnt sind, zu langsam erscheinen."


    Ohne Metronomangaben lassen sich Tempi nicht absolut festsetzen. Für mich zählt, ob das Stück Spannung hat oder nicht. Was mich betrifft: Der genannte Chor aus dem "Messias" schien mir beim ersten Hören geradezu grotesk, aber wenn man sich auf daslangsamere Tempo einstellt, merkt man, daß es voller Spannung ist und daß Details als wesentliche Elemente hörbar werden, die man sonst nur als Verzierung wahrnimmt.


    Womit ich wieder bei meinem Hauptargument pro Harnoncourt bin: Mag sein, daß dieses Tempo sogar grotesk falsch ist. Aber ich habe diesen Chor immer als gegeben hingenommen. Harnoncourt hat mich gezwungen, mehrfach nachdenkend zu hören, die Partitur zu studieren etc. Dank Harnoncourt habe ich also den "Messias", der nicht zu den Werken der von mir favorisierten Musikepochen gehört, ein Stückchen besser, ein Eckchen genauer kennengelernt.


    Geht es da nur mir so?


    :hello:

    ...

  • Hallo Edwin,


    natürlich hast du mit deiner Einschätzung recht, aber mir gefallen seine letzten Einspielungen trotzdem nicht.


    Ich wollte damit nur unterstreichen, dass es sich nicht nur beim "Figaro", sondern auch beispielsweise beim "Messiah" um zweifelhafte Tempowahlen handelte.


    Karl Richters Interpretationen sind auch keine Eilzugdeutungen, aber es klingt aus meiner Sicht wesentlicher nachvollziehbarer.



    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • Hallo Liebestraum,
    das sei Dir unbenommen - mir geht es ja auch bei ihm oft so, daß ich kopfschüttelnd dastehe und nicht recht weiß, warum und wieso. Und daß seine Tempowahl, vorsichtig gesagt, einer gewissen Bizarrerie nicht abgeneigt ist, zweifle ich nicht an.
    Ich mag aber bizarre Tempi von Zeit zu Zeit ganz gerne... :D
    :hello:

    ...

  • @ Edwin


    Nein, Du bist da nicht allein. Harnoncourt bietet auch mir da eine Herausforderung, die ich gern annehme. Das gelingt mal mehr, mal weniger. Aber ich finde es gut, dass er einem diese Herausforderung stellt!

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Ich bin überzeugt, dass Harnoncourt sich sehr genau überlegt, warum und vor welchem Hintergrund er zu welchen interpretatorischen Entscheidungen kommt. Auf mich als Hörer seiner Interpretationen wirkt das oft aber sehr akademisch und oft auch nicht zwingend.


    Mag sein, dass Edwin recht hat mit der Feststellung, dass man eben eine gewisse Erwartungshaltung hat, die auf Gewohnheiten basiert, die aber eben auch quasi "falsch" sein können (vergleichbar mit Klemperers oder Karajans Bach-Versuchen).


    Nur: einen Zugang finde ich dazu nur schwer, das entspricht auch nicht meinen persönlichen Vorlieben. Das gilt auch nicht für alle seine Einspielungen, aber besonders für seinen Mozart.


    Glockenton hat das, glaube ich, schon anklingen lassen: Rameau, Monteverdi, Händel - vielleicht gibts da ja noch einige Anmerkungen zu machen...?


    Ich fand ein wenig unfair, Harnoncourt quasi den Vorwurf zu machen, es ginge ihm bei der alten Musik auf Originalinstrumenten nur um den Verdienst.


    Für mich waren allein diese alten Instrumente ein völliges Neuland - und in der Anfangszeit vom "Concentus musicus" war überhaupt nicht absehbar, ob sich das breitere Publikum für dieses Nischenprogramm erwärmen würde. Harnoncourt war mit Sicherheit ein Überzeugungstäter, ohne auf die Vermarktbarkeit zu achten - ein Herbert von Karajan war da gänzlich anders drauf.

  • Da ich eigentlich auf jeden Fall vermeiden wollte, diese völlig absurde Diskussion weniger einzelner, mehr oder minder willkürlich herausgegriffener Tempoentscheidungen aufzugreifen (die wenn überhaupt irgendwohin, in threads zu den jeweiligen Stücken gehören), kein Details, sondern nur kurz.
    Edwin hat ja schon zu Recht darauf hingewiesen, dass gerade in der Barockzeit ein tempo nicht so leicht eindeutig festzulegen ist. (Ich habe nur den älteren Messiah, den fand ich weniger bizarr als sein Ruf vermuten ließ).
    Aber man kann sehr schnell eine textliche Begründung für ein breites Tempo liefern: Der Chor ist kein einfacher- Jubel und Preisgesang, sondern handelt vom "Ende der Zeit", die Reiche dieser Welt hören auf und das Reich Gottes erscheint, in dem es keine Zeit, sondern Ewigkeit gibt.
    (das habe ich jetzt improvisiert, ob das musikalisch Sinn hat, ist eine andere Frage, dazu müßte man sich das Stück näher ansehen)


    Aber selbst in Fällen, wo eindeutige Metronomangaben vorliegen, scheren sich sehr viel berühmtere Maestri als NH einen Dreck darum. Kopfsatz der Eroica in 2/3, das adagio von Beethovens 9. im halben Tempo, zig Menuette in verschleppten stampfenden Vierteln statt in flüssigen ganzen Takten usw. Eingangschöre der Matthäuspassion von 10-12 min, statt wie heute oft knapp 7 min was ist "richtig"? Alles Bizarrerien, die zum Standard geworden sind oder waren.... Das ist also überhaupt nichts ungewöhnliches. Die weitaus meisten Tempi Harnoncourts weichen nicht außergewöhnlich von der Norm ab, u.a. weil die "Norm" eben ziemlich breit ist.
    Nur werden Celibidache (oder mitunter auch Klemperer, Furtwängler, Knappertsbusch) u.a. aufgrund bizarr langsamer (oder Gould aufgrund sowohl bizarr langsamer wie extrem flotter) Tempi zum Kult erhoben, NH von manchen halt auch. Aber Kult ist im Zweifel immer dumm, weil überhaupt nicht mehr die Einzelheiten und Unterschiede gesehen werden gesehen werden.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Harnoncourt ist für mich nie die Instanz. Die will er auch selber nicht sein und das ist der springende Punkt. Ich denke, aus diesem Grund wird er auch oft missverstanden. Er will wirkilch nicht Instanz sein! Das kann es einfach nicht sein. Umso interessanter macht es ihn. Vielleicht ist es ihm bei der lezten Figaro Aufführung ein wenig zu Kopf gestiegen, aber vielleicht auch nicht. Am Besten, wir sprechen nicht mehr darüber! :D


    Vielleicht ist er ja für Einige auch einfach unakzeptabel eitel. Gut. Das sind viele andere mit Sicherheit auch...


    Er hat bei mir um das eine oder andere mal zum Verständnis eines Aspektes eines Werkes beigtragen. Insofern akzeptiere ich ihn schon sehr.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Über Karajan können wir ja ein anderes Mal streiten - auch ihm wird teilweise unrecht getan.


    Aber ich möchte zurück zu den Tempi des NH.
    Man sieht, daß dies nur ein Teilaspekt ist, Klemperer und Celibidache waren auch extrem langsan (auf für frühere Verhältnisse) und haben überzeugende Aufnahmen abgeliefert.


    Bei Harnoncourt kommt hinzu, daß er eigentlich (aus Überzeugung) nicht "klangschön" spielen lässt, sondern ruppig,und widerborstig, eigenwillig etc.


    Er mag zwar alles erklären können - das dazu mit Charisma -
    aber was dabei rauskommt verstört eben manche Musikfreunde.
    Und was das Schlimmste ist- auch noch aus verschiedenen Gründen.
    Seine langsamen Tempi würden mich nicht stören - lediglich seine schroffe Tonsprache. Aber er ist ja nicht der Einzige.


    Ich behaupte, daß frühere Generationen von Dirigenten AUCH die Brüche in den Partituren gesehen haben - allein - sie WOLLTEN sie nicht sehen, sondern GLäTTETEN um einen runderen Gesamtklang zu erzielen - dem jeweiligen Zeitgeschmack entsprechend.


    An sich verstehe ich die Aufregung nicht, denn Harnoncourt ist ja weitgehend anerkannt, da sollte es keine große Rolle spielen, daß ihm nicht ALLE zujubeln.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Der letzte "Figaro" ist auch keine Ausnahme, er war nicht als eine Aufführung in letzter Instanz gedacht. Aber wenn ein Dirigent von Personen, die zum Teil wirklich sehr wenig Ahnung haben (ich kenne ein paar davon), permanent für diese Aufführung geprügelt wird, dann greift man eben auch als Harnoncourt früher oder später zu drastischeren Mitteln.
    Halten wir uns bitte vor Augen, daß die Angriffe gegen Harnoncourt keineswegs so ausführlich begründet waren wie hier von Ulli, sondern daß sich Leute äußerten, die wahrscheinlich nicht nur nicht den Unterschied zwischen Bach'schem alla breve und Mozart'schem alla breve kennen, sondern die gar nicht wissen was alla breve überhaupt ist und wahrscheinlich auch einen Bach von einem Mozart nicht auseinanderkennen, wenn's nicht auf dem CD-Aufkleber draufsteht. Es wurde einfach etwas nachgeplappert, was einer (ob zurecht oder nicht, steht jetzt nicht zur Diskussion) vorgeplappert hat.


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    Hallo Alfred,

    Zitat

    Über Karajan können wir ja ein anderes Mal streiten - auch ihm wird teilweise unrecht getan


    Aber doch nicht von mir...! :baeh01:


    Zitat

    Bei Harnoncourt kommt hinzu, daß er eigentlich (aus Überzeugung) nicht "klangschön" spielen lässt, sondern ruppig,und widerborstig, eigenwillig etc.


    Nun, er glaubt halt, daß die aus der romantischen Tradition kommenden Endlos-Legati bei vor-romantischer Musik nicht am Platz sind. Und er glaubt ferner, daß Phrasenwiederholungen einer Abwechslung des Striches und der Detailbetonung bedürfen - das hat Leopold Mozart in der Violinschule beschrieben (ich bitte um Korrektur, wenn ich mich irre).
    Natürlich ist es einfacher zu hören, wenn der Fluß gleichmäßig ist - aber ob das "richtig" ist (was ist in der Musik schon "richtig"?), davon bin ich gar nicht so sehr überzeugt.


    :hello:

    ...

  • Original von Edwin Baumgartner:


    Zitat

    Der genannte Chor aus dem "Messias" schien mir beim ersten Hören geradezu grotesk, aber wenn man sich auf daslangsamere Tempo einstellt, merkt man, daß es voller Spannung ist und daß Details als wesentliche Elemente hörbar werden, die man sonst nur als Verzierung wahrnimmt.Womit ich wieder bei meinem Hauptargument pro Harnoncourt bin: Mag sein, daß dieses Tempo sogar grotesk falsch ist. Aber ich habe diesen Chor immer als gegeben hingenommen. Harnoncourt hat mich gezwungen, mehrfach nachdenkend zu hören, die Partitur zu studieren etc. Dank Harnoncourt habe ich also den "Messias", der nicht zu den Werken der von mir favorisierten Musikepochen gehört, ein Stückchen besser, ein Eckchen genauer kennengelernt.


    Geht es da nur mir so?


    Lieber Edwin,


    nein, jedenfalls mir geht es ganz genauso!


    Noch viel erhellender (oder konfrontierender, wenn wir diese Anleihe aus dem Niederländischen verstattet wird) finde ich z.B. den Chor "For, and to us a child is born" oder die extrem langsame und guttural gesungene Altarie "For He is like a refiner's fire". Beides wirkt zunächst, wie schon bemerkt, grotest, aber zwingt zur erneuten Auseinandersetzung mit langvertrauter Musik, die man am Ende der Auseinandersetzung um eine Facette reicher im geistigen Schatzkästlein hat.


    Und den Hallelujah-Chor empfinde ich persönlich gar nicht mit Trauerrand, sondern mir drängt sich ein ganz anderer Vergleich auf: in vielen barocken Kirchen gibt es ganz wunderbare Deckenfresken mit einem Blick auf einen wie auch immer ausgefüllten geöffneten Himmel. Meist ist das eine recht arkadische Veranstaltung - daran erinnert mich das gemäßigte Tempi, die weiche Artikulation und die Befolgung der p-Vorschrift. Es wirkt wie ein beginn in leicht träumerisch-beseligter Verzückung beim Blick auf so ein Panorama, das sich dann im weiteren Verlauf zu "apollinischer Ekstase" (danke, Herr W. Muschg) steigert.


    Herrlich hierzu passt auch das weiche Klangbild der Concentus-Streicher.


    Insgesamt ist mir dieser Messiah daher ganz außergewöhnlich lieb und teuer, sagte doch auch W. Schadewalt in seiner Tübinger Antigone-Vorlesung, dass er im Laufe seines der Interpretation gewidmenten Lebens zum Schluss gekommen sei, es gäbe keine "richtige" Interpretation eines Werkes, sondern nur eine unendliche Vielzahl von Facetten, die sich dem Werk abgewinnen und immer wieder neu kombinieren und ergänzen lassen.


    Ob man die neuen Facetten dann mag oder nicht ist eine andere Frage, aber Herr Harnoncourt ist sicher einer der ergiebigsten Lieferanten neuer Reichtümer in der Facettensammlung der Werke, denen er sich widmet.


    Apollinisch ekstatisch grüßt
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Hallo!


    Johannes Roehl


    Ein schöner, lesenswerter Beitrag, vielen Dank!


    Ich stimme Dir eigentlich komplett zu, bis auf eine Kleinigkeit, was die
    Wunschliste anbetrifft:


    Zitat

    Ich wünschte, er würde lieber noch ein dutzend weniger bekannter Haydn-Sinfonien einspielen (mit dem Concentus, die mit dem Concertgebouw sind mir oft zu zahm, viel zahmer als der Mozart oder der neuere Haydn)


    Ja, die würde ich mir natürlich auf wünschen.
    Am schönsten fände ich es jedoch, wenn es wieder einige neue Concentus-Aufnahmen des geistlichen Bach-Repertoires gäbe.
    Es müssen ja nicht wieder Grossprojekte sein; aber einige der früh aufgenommenen Bachkantaten spiegeln -wie ich annehme-noch gewisse Rücksichtnahmen auf die Spieltechnik der Blechbläser wieder, die heute nicht mehr nötig wären.
    Wenn ich mir die diesjährig live aufgeführte Kantate BWV 30 "Freue dich, erlöste Schar" in der alten Teldec-Aufnahme im Vergleich zum ORF-Mitschnitt von der styriarte anhöre, dann sind das nicht nur vom Tempo her Welten, die dazwischenliegen.
    Die alten Aufnahmen haben auch ihren grossen Reiz und individuellen Charme, keine Frage.
    Heute kann man jedoch m.E. einen noch wesentlich freigespielteren, impulsiveren Interpretations-Zugang des Dirigenten hören, als in den frühen 70er Jahren.
    Die Bachaufnahmen der 80er und 90er Jahre müssen den Vergleich mit seinem heutigen Bach indes nicht scheuen, jedenfalls was das Instrumentale und die Interpretation angeht.
    Ein grosses Plus der heutigen -leider viel zu seltenen- Bachaufführungen Harnoncourts ist für mich, dass nicht ein Knabenchor, sondern der Arnold Schönberg Chor Wien, mit dem er eine jahrzehntelange künstlerische Zusammenarbeit pflegt, eingesetzt wird.
    Dieser ist - ich schrieb es schon an anderer Stelle - dem starken Ausdruckswillen Harnoncourts m.E. besser gewachsen, als die sich durchaus erstaunlich wacker schlagenden Buben aus Wien oder Tölz.
    Wenn NH heute mit Frauensopranen wie Barbara Bonney oder auch Christine Schäfer bei Bach zusammenarbeitet, dann ist das schon ein Gewinn.
    Andererseits hatten die solistischen Knabenstimmen der Gesamtaufnahme auch ihren unschuldigen Reiz, und es gab grossartige Solisten wie Jelosits, Wiedl, Rampf oder Kronwitter, deren Aufnahmen ich nicht missen möchte.
    Einige davon arbeiten ja heute als professionelle Sänger.
    Zusammenfassend finde ich also, dass die ein oder andere Kantate nicht nur aufgeführt, sondern auch noch aufgenommen werden sollte.
    Wenn die Harmonia mundi das diesjährige Weihnachtsoratorium im Musikverein mitschnitte, würde ich auch nicht protestieren.
    Falls nicht, hoffe ich wenigstens auf den ORF.


    LG :hello:
    Bernd

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Edwin Baumgartner
    In einem anderen Thread schriebst Du:

    Zitat

    Mich z.B. hätte ...interessiert, ...was Glockenton zu Harnoncourts dirigentischem Handwerk meint


    Das mache ich gerne, kein Problem.


    Zunächst einmal hat sich Harnoncourt das Dirigieren notgedrungen autodidaktisch aneignen müssen.
    Notgedrungen, weil er "sein" Ensemble immer vom Violoncello oder anderen Streichinstrumenten aus leiten wollte, auch bei Aufführungen/Aufnahmen mit Orchester und Chor ( z.B. auch die Bach-Motetten und die früheren Bachkantaten)
    Eigentlich wollte er das nie aufgeben, weil er der Ansicht war, dass es unmittelbarerer wäre, wenn gewissermassen aus der Mitte der entstehenden Musik heraus geleitet wird und nicht von vorne.


    Den Kontakt zur "Basis" des instrumentalen Spiels wollte er nicht verlieren.
    Erst als die Symphonieorchester mit ihm arbeiten wollten, stellte sich heraus, dass dies nur mit dem auf ihn eingespielten Concentus funktionieren konnte.
    Durch immer grösseren Termindruck blieb auch immer weniger Zeit für`s nötige Celloüben, so dass er sich aus Gründen der organisatorischen und auch der zeitlich-musikalischen Effizienz vors Orchester stellen, und das Cello an den Nagel hängen musste.


    Wie man nun dieses Dirigat aus der Sicht der Publikums/des Fernsehzuschauers optisch findet, ist wohl auch vom persönlichen Geschmack abhängig.
    Mir persönlich sagt es viel, weil ich fast immer verstehen kann, was er mit den Gesten und vor allem mit dem Gesicht für das Orchester ausdrücken will. Seine Mimik und seine Körpersprache sind imho genau so intensiv und emotional wie die Musik, die zu hören ist.
    Dass er bewusst auf den Dirigierstab verzichtet ( erinnert ihn zu sehr an ein Disziplinier-Stöckchen) finde ich sympathisch. Es fällt mir eigentlich nicht auf.
    Gegenüber früheren Fernseh/DVD-Aufnahmen fällt mir auf, dass er heute um einiges freier, gelöster, vielleicht auch effektiver im Gestischen ausschaut - ist aber nur mein persönlicher Eindruck.
    Entscheident ist ja, dass dem Orchester vermittelt wird, wo es lang gehen soll. Irgendwo meine ich gelesen zu haben, dass es bei Aufführungen mit dem Concentus vorkommen kann, dass er manche Details im Konzert spontan verändert, alleine durch das gestische und mimische Dirigat.


    Hilsen fra :hello:
    Bernd


    Jeg ønsker deg en god helg! :)

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Dann könnte man es so formulieren: Harnoncourts Einspielungen sind vielleicht nicht die geeignetsten, um ein Werk erst einmal kennenzulernen, sondern erfüllen ihren Zweck dann am besten, wenn sie sozusagen komplementär zu gängigen "Mainstream"-Empfehlungen gehört werden. Also nicht unbedingt erste Wahl, aber nützlich als eine Art Gegengift gegen die Routine für den Musikfreund, der sich bereits in ein Werk eingehört hat.

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Jenau wie Pius will ich mich hier auch einmal zu Wort melden (und nicht so feige kleingeschrieben).


    Wo ich gerade diese überzeugende und schöne CD höre



    fällt mir doch zu der Frage im Threadtitel nur


    PRO


    ein


    [p.s.: Oh, ist ja gar keine Frage, hehe.... trotzdem pro]


    Und das betrifft die meisten meiner Harnoncourt-CDs. Von Monteverdis Marienvesper über die wundervoll feinsinnigen Bach-Ausdeutungen bis Beethoven und weit darüber hinaus... Für NH hab ich immer ein offenes Ohr.


    Klar darf da auch mal ein Flop oder eine verquere Interpretation dazwischen kommen, die man als gescheitert bezeichnen kann.


    Und was NH in Interviews manchmal zum besten gibt darf einen gelegentlich verwundern oder verärgern, meinen Hörgenuß schmälert es indess nicht.

  • Liebestraum


    Zitat

    Der "Messiah" aus dem vergangenen Jahr ist ebenso eine Zumutung. Der Hallelujah-Chor klingt zu Beginn wie ein Trauerchor... Aber auch manch andere Musikstücke sind bei der Tempowahl viel zu langsam...


    Wenn Du der Auffassung wärest, dass der Stockholmer Messiah ( auch live) besser gelungen ist als der neue aus Wien, dann würde ich dem zustimmen.
    Trotzdem glaube ich kaum, dass wir uns hier einigen könnten, denn viele Tempi der neuen Aufnahme sind eher etwas schneller als bei der "alten" Stockholmer ( die Anführungsstriche deshalb, weil zur Zeit dieser Aufnahme bereits der klangredende Stil Harnoncourts und des Concentus voll entwickelt war)
    Bei der alten Aufnahme höre ich noch mehr mitreissende Klangrede, mehr wunderbare Details, wie z.B. den instrumentalen Schluss von "Glory to God".
    Da hört man noch besser, wie sich die Engel vom Hirtenfeld wieder in den Himmel zurückziehen.
    Herrlich, dass H. das hier nur durch Solo-Streicher ( tuonela: Alice!) spielen lässt.
    Auf Deinen letzten Satz zum Tempo kann ich nur allgemein eingehen. Wenn Du eines der "manch anderen Stücke" genauer genannt hättest, wäre es leichter, aber es reicht vielleicht auch, wenn wir es hier nur allgemein besprechen.
    Grundsätzlich stimme ich Daniel Barenboim zu, wenn er sagt, dass dem Tempo leider viel zu hohe Bedeutung beigemessen wird ( sah ich vor einigen Monaten im Fernsehen)
    Der Mann hat wirklich recht.
    Bezogen auf den Messiah und generell auf die Barockmusik, ist m.E. die Darstellung der gestisch-motivischen Klangrede wesentlich wichtiger.
    Ich würde so gut wie nie sagen: Wir nehmen jetzt ein schönes, flottes Tempo und passen dann die Figuren, die Absätze und Einschnitte unserem Tempogefühl an. Das müsste grotesk werden.
    Man sollte sich in der Vorbereitung erst die Frage stellen: Was sagen die Noten? und dann prüfen, in welchem Tempo das am besten "gesagt", d.h. mit der ausreichenden Zeit zum Ein- und Ausatmen der "Phrasen" ( ist hier eigentlich das falsche Wort, wird aber vielleicht leichter verstanden) artikuliert werden kann.
    Natürlich sind die Tempoangaben des Komponisten genauso zu berücksichtigen und noch viel mehr.
    Wenn aber - wie im Barock sehr häufig- nur "Allegro" steht, dann frage ich Dich, ob Du aufgrund dieser Angabe schon das allein "richtige" Tempo angeben könntest? Ich nicht. Niemand kann das.
    Da gibt es so viele Dinge zu bedenken und abzuwägen( Taktschwerpunkte, Notenwerte, Figuren, Affekte, Dynamik, Artikulation, Harmoniewechsel, Polyphonie oder Homophonie, Saalakustik) dass man es hier auch nicht im Ansatz erläutern könnte.
    Wenn Du also sagst, dass manches viel zu langsam sei, dann frage ich Dich: Im Verhältnis wozu?
    Zu Deinem Gefühl, zu dem was Du von anderen Interpreten kennst? Woran orientierst Du Dein Tempogefühl?
    Weil das z.B. das ein oder andere Stück von fast "alle anderen" eventuell schneller oder langsamer gespielt wird, muss ein Tempo Harnoncourts nicht falsch sein, selbst wenn er der Einzige sein mag, der es so sieht.
    Übrigens, wann ist schon ein Tempo das allein richtige?
    Wenn Du ein Stück übst, beleuchtest Du es mit ganz unterschiedlichen Tempi. Je besser der Komponist, umso mehr ist möglich.
    Logischerweise ist bei also Bach am meisten möglich ... :untertauch:
    ( meine Meinung, jawohl ich bin ein BACH-FAN)


    Zum Hallelujah:
    Insgesamt finde ich das Stockholmer Hallelujah mitreissender weil der Kontrast zu "kingdom of this earth" (dolce p) zu "kingdom of the Lord and of his Christ" (subito ff) wesentlich stärker und überraschender herausgearbeitet wurde. Die Stelle habe ich für den Gänsehaut-Thread vergessen zu erwähnen.
    Der neue Wiener Anfang gefällt mir jedoch sehr; zum Schluss hin mag ich die zupackendere Stockholmer Version wieder mehr.
    Es ist doch heilsam, wenn man einmal von der tradierten Aufführungstradition wegkommt, die so aussieht:
    "O ja, jetzt kommt das "Grosse Halleluja" mit dem mächtigen Einsatz"
    Es ist im Zusammenhang mit dem Gesamtwerk eben nur als ein Satz innerhalb der anderen Stücke zu sehen, nicht mehr und nicht weniger.
    Dieses mächtige Gebrüll mit schnell-eckigem Tempo-Drive findet sich in jeder Fernsehübertragung von irgendwelchen Gala-Weihnachtskonzerten wieder. Ich brauche das nicht mehr.
    Wer mit dieser Gala-Erwartungshaltung in ein Konzert mit Harnoncourt geht, wird enttäuscht. Hier bekommt man nicht zu hören, was man hören will, sondern was man hören soll.
    Wahre Kunst muss dem Publikum auch etwas zumuten und sollte nicht ausschliesslich zur Untermalung der Rotweingemütlichkeit oder zur Erfüllung von verfestigten Erwartungen dienen. Ich bin als Hörer auch bereit, mich überraschen, vielleicht auch schockieren zu lassen, wenn ich nur merke, dass jemand sich dabei etwas in der Hinsicht gedacht hat, dem Komponisten und der Kunst in Wahrheit und Aufrichtigkeit dienen zu wollen ( wir sprachen hier schon darüber)
    In diesem Sinne bin ich also froh darüber, dass manches an der Aufführung eine Zumutung ist.
    Die genauen Gründe, die Harnoncourt zu diesem ungewöhnlichen Anfang des Hallelujahs bewogen haben, sind mir leider nicht bekannt. Eines weiss ich aber aufgrund meiner Kenntnisse über ihn:
    Dem ist - wie immer- ein gründlicher und seriöser Prozess des Reflektierens und In-Frage-Stellens ( auch eigener, alter Aufführungsansätze) vorausgegangen.
    Für mich ist dieser Anfang übrigens nicht ein Trauerchor, sondern ein zärtlicher Beginn des sich steigernden Gotteslobs, was in den zärtlich intonierenden Streicher besonders zum Ausdruck kommt.
    Jeder hört es eben anders.
    Auf jeden Fall ist dieser Chor typisch Harnoncourt:
    Man ist bei ihm nie vor Überraschungen sicher, und das ist wirklich gut so!
    Kapellmeisterliche Langeweile gab und gibt es schon genug.


    Es ist auch überhauot kein Akt der Willkür, wenn man ein Stück an einem Abend so und am nächsten Abend anders interpretiert.
    Beides kann völlig richtig und gut sein - muss es aber nicht.
    Eine einzige Wahrheit gibt es da einfach nicht.
    Diese falsche Vorstellung "des" Tempos entsteht beim Publikum m.E. schon deshalb, weil es heutzutage gewohnt ist, sich Tonkonserven anzuhören, die sich naturgemäss nie verändern.
    Aus der Sicht des praktischen Musikers beginnt man aber schon recht bald, ein etwas entspannteres Verhältnis zur Tempofrage zu entwickeln.
    Wenn ich ein Stück geübt habe, aufführe und es vielleicht einen Tag, eine Woche oder 10 Jahre später wieder zur Hand nehme, dann werden kleine, mittlere oder grosse Unterschiede zustande kommen, auch beim Tempo.
    Im Zusammenhang mit einer Aufführung bin ich aber immer der Meinung, dass absolut nur meine Interpretation die einzig richtige ist und alle anderen unrecht haben.
    Wenn ich nicht so denken würde, dann wäre ich gezwungen, ständig irgendwelche Platten nachzuspielen.
    Mit etwas mehr zeitlichem Abstand weiss ich natürlich intellektuell und später vielleicht auch emotional, dass es so natürlich nicht ist.
    Wenn ich mir meine eigenen alten Aufnahmen anhöre, dann sehe manchmal das, was ich früher einmal als die einzige Wahrheit für mich erkannt habe, als Irrtum an.
    Die schlecht zu beantwortende Frage ist natürlich: Irre ich mich jetzt, oder irrte ich damals?
    Ich denke, dass es jedem Musiker, jedem Dirigenten so geht.
    Das gehört nun einmal zum Wesen der Kunst, dass die Wahrheit des Kunstwerks vom Interpreten immer nur stückweise beleuchtet werden kann.
    Edwin hat dies schon an früherer Stelle sehr treffend und kürzer ( sorry, ich kann das nicht so prägnant) ausgeführt.
    Man muss dieses selbstverständliche Recht Harnoncourt genauso zugestehen wie jedem anderen Musiker auch.


    In den 80er Jahren habe ich innerhalb eines Jahres drei Concentus-Versionen des berühmten "Airs" aus der G-Dur Orchestersuite von Bach kennengelernt.
    Die Tempounterschiede der Versionen waren enorm.
    Bei welchem Air hatte Harnoncourt nun recht?
    Ich sage: Bei jedem, denn es wurde im Verhältnis zum Tempo immer beseelt und angepasst musiziert.


    Noch extremer ist es bei Goulds Bach.
    Er konnte innerhalb einer Studiosessions drei komplett unterschiedliche Interpretationen vorlegen, hinsichtlich Tempo und sonstigen Parametern.
    Jede Version hat ihre Wahrheit, aber die (Tempo)Wahrheit kann es nicht geben.


    Bei mir - ohne mich auch nur im Geringsten mit H. vergleichen zu wollen- kommt die Entscheidung über das Tempo also eher am Schluss als am Anfang des musikalischen Erarbeitungsprozesses, denn andere Dinge halte ich zunächst für wichtiger, gerade bei der Musik, bei denen ich die Klangrede als gegeben voraussetze.
    Ich kann mir gut vorstellen, dass Harnoncourt hier ähnlich denkt - aber da müsste man ihn schon selbst fragen.


    @GiselherrHH
    Das ist m.E. eine Frage des Standpunkts.
    Hast Du das Stück erst mit Harnoncourt kennen- und liebengelernt, bist Du ggf. vom Rest der Darbietungen geschockt - und umgekehrt.


    NHs Beiträge können aber immer spannend sein, selbst für die, die sich nicht gerade zu seinen Anhängern zählen, die es eben genau so hören wollen ( ich bin ja so einer...)


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • guten morgen,


    ich verstehe die ganze aufregung nicht ... ?(
    von harnoncourt gibt es ganz wunderbare, schöne, mittelmäßige und auch langweilige interpretationen - wie von jedem anderen dirigenten auch. aber ich wollte ihn nicht missen, denn seine jeweiliogen auslegungen regen zum nachdenken an, bewirken neugierde zur auseinandersetzung (nicht sonderlich gelungen und davon ausgenommen sehe ich das romantische repertoire ..smetana und dvorak z.b. sind ziemlich mißlungen) ..aber dafür gibts vieles andere spannende ...
    und den salzburger figaro legen wir mal schnell zu den akten ... :wacky:


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Zitat

    Hast Du das Stück erst mit Harnoncourt kennen- und liebengelernt, bist Du ggf. vom Rest der Darbietungen geschockt - und umgekehrt.


    Ja, genau so ist es mir mit den Beethoven-Symphonien ergangen. Zunächst besaß ich meiner Erinnerung nach nur die Pastorale mit Karajan. Dann - ich begann damals erst, Klassik im weiteren Sinne zu hören - kaufte ich mir die Harnoncourt-Gesamtaufnahme. Mit ihr lernte ich die Stücke kennen. Ihr glaubt gar nicht, wie seltsam, teils auch langweilig die ganzen alten, herkömmlichen Beethoven-Aufnahmen, die nach und nach dazu kamen, für mich klangen.


    Thomas

  • Zitat

    Original von GiselherHH
    Dann könnte man es so formulieren: Harnoncourts Einspielungen sind vielleicht nicht die geeignetsten, um ein Werk erst einmal kennenzulernen, sondern erfüllen ihren Zweck dann am besten, wenn sie sozusagen komplementär zu gängigen "Mainstream"-Empfehlungen gehört werden. Also nicht unbedingt erste Wahl, aber nützlich als eine Art Gegengift gegen die Routine für den Musikfreund, der sich bereits in ein Werk eingehört hat.


    Das scheint mir eine zu starke Einschränkung. Und natürlich könnte man das mit gleichem Recht über sehr viele andere Interpretationen sagen. Goulds Bach-Aufnahmen sind gewiß in vieler Hinsicht extrem. Dennoch dürfte ziemlich viele Hörer die Goldbergvar. o.ä. mit ihm kennengelernt haben.
    Es stimmt aber wohl, das geht mir selbst manchmal so und noch stärker meine ich es bei "Extremsammlern" zu entdecken, dass man mitunter "die Dosis erhöhen muß", d.h. man kennt ein Stück so gut, dass man nur noch durch in irgendeiner Hinsicht ungewöhnlichen Interpretationen zu begeistern ist.


    Insgesamt halte ich aber die "Widerborstigkeit", die NH hier attestiert wird, für maßlos übertrieben. Nichts von nachbeethovenscher Musik, was ich mit ihm gehört habe, scheint mir widerborstig und nicht klangschön. Es ist dennoch mitunter ungewöhnlich, aber eher in Richtung weicher, lyrischer, manchmal auch transparenter als gewohnt, dazu eben manchmal etwas langsamer oder schneller. Und stellenweise sehr klangschön, mit Farbkombinationen, etwa in den Holzbläsern, die man sonst nie hört, zB in der Neuaufnahme der Schöpfung
    Und dann gibt es natürlich, wie Glockenton sagte, Stücke, die man, nachdem man einmal NH gehört hat in 90-99% der anderen Interpretationen, eindimensional, oberflächlich, schlicht überflüssig findet.


    Ich gebe nochmal ein m.E. gut nachvolziehbares "Klangrede-Bsp." Man höre in der (auch nicht optimalen u.a aufgrund des Staatsopernchors) Einspielung des Mozart-Requiems von ca. 1982 im Introitus die Stelle "Exaudi". Bei Karajan (der hier nicht persönlich gemeint ist, nur als Bsp.), wird es einfach etwas lauter, bei Harnoncourt hört man deutlich den Aufschrei, die Forderung Herr, erhöre meine Stimme. In einem Stück wie dem Requiem scheint mir so offensichtlich, dass solche Klanggesten von zentraler Bedeutung sind, dass Undeutlichkeiten oder ein Darüberhinwegspielen zu oberflächlicher und letzlich langweiliger Darbietung führen.


    Ich habe, um das nur nochmal zu sagen, sehr viel Musik, u.a. die gängigen Mozart, Haydn-Sinfonien und natürlich Beethoven keineswegs a la HIP oder Harnoncourt kennengelernt, sondern "traditionell", manche Musikstücke natürlich auch gleich mit ihm. Ich sehe den Zugang daher keineswegs als nur etwas für "Fortgeschrittene"


    @Alfred

    Zitat

    Bei Harnoncourt kommt hinzu, daß er eigentlich (aus Überzeugung) nicht "klangschön" spielen lässt, sondern ruppig,und widerborstig, eigenwillig etc.


    Natürlich sollen nicht alle NH mögen oder gar verehren; ich selbst finde einige seiner Sachen keineswegs optimal. Aber angesichts solcher Äußerungen frage ich mich immer, ob zum letzten Mal ca. 1970 eine Harnoncourtsche Einspielung gehört wurde, bei der die Bläser udn die Chorknaben gerade einen schlechten Tag hatten? ;)
    Eigenwillig ist sicher manches, aber es stimmt einfach nicht, dass alles "widerborstig" oder gar häßliche klänge, wo zB in den Beethovensinfonien mit dem COE, bei Dvorak oder auch Haydn mit dem Concertgebouw sollte das der Fall sein? Seine Überzeugung, auch das ist nämlich eine verkürzte Darstellung, ist keineswegs, das Klangschönheit zu vermeiden ist, sondern dass sie kein Selbstzweck sein darf.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • noch eine facette pro harnoncourt, zumindest meiner meinung nach. beim
    concentus musicus sitzt seine ehefrau bei den ersten violinen in der ersten
    reihe - früher war sie sogar konzertmeisterin, wenn ich mich nicht irre.


    ein gedanken-experiment für die verheirateten männer hier im forum: kann
    sich jemand diese konstellation persönlich vorstellen? immerhin ist der
    konzertmeister ja auch sprecher des orchesters gegenüber dem dirigenten
    und musik ist dazu noch emotional sehr aufgeladen. man stelle sich nur
    gespräche nach einem konzert, so vorm einschlafen im ehelichen gemach vor ,-)


    also ich bin ehrlich - wäre ich an seiner stelle, austria müsste in einem anderen
    orchester spielen ,-)


    faun

    die kritik ist das psychogramm des kritikers (will quadflieg)


  • Ich denke, ohne die moralische, künstlerische und organisatorische Unterstützung durch seine Frau wäre Harnoncourt immer noch Cellist bei den Wiener Symphonikern.


    Austria


    PS an Ulli: und DU bist jetzt still....... :D

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)

  • Zitat

    Original von Masetto
    ... Vielleicht ist es ihm bei der lezten Figaro Aufführung ein wenig zu Kopf gestiegen, aber vielleicht auch nicht. ...


    Wie oft soll man noch betonen, dass NH den Figaro seit 20 Jahren so spielt, ihn nie anders gespielt hat, und dies auch mehrfach dokumentiert ist? In Salzburg war vom Dirigat her nichts nennenswert Neues zu hören!



    klingsor:
    Könntest du bitte das eine oder andere Beispiel für eine langweilige Interpretation Harnoncourts nennen?



    faun:
    Herrlich, deine Meinung. Es erhebt sich lediglich die Frage, wenn man die Analogie zum Ehepaar Harnoncourt weiterspinnt und daher die Gattin als Managerin und Vermögensverwalterin fungiert, ob dann nicht die Gefahr bestünde, dass Austria den Spieß umdreht und dich in die Wüste (äh zum anderen Orchester) schickt...
    :D


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • In diesem Fall gebe ich Austria völlig recht - Harnoncourt wäre nicht Harnoncourt geworden, hätte er diese Unterstützung nicht gehabt. Er gibt das selbst übrigens gerne zu. Und wir haben eines der wenigen Beispiele einer skandalfreien funktionierenden Künstlerehe.


    Was Glockenton (vennligst hilsen, har du deg bra? :hello: ) oben über die technische Seite von Harnoncourts Dirigieen ausführte, möchte ich etwas genauer unter die Lupe nehmen.
    Harnoncourt ist kein technisch versierter Dirigent. Die Präzision seiner Schlagtechnik etwa läßt zu wünschen übrig, und wenn er große Orchester dirigiert, kann schon allerhand passieren.
    Harnoncourt verfügt allerdings über eine sehr suggestive Zeichengebung. Das heißt, daß die Musiker immer genau wissen, was er will, was er an Ausdruck, Intensität, Balance erzielen möchte. Die Präzision des Zusammenspiels ist bei ihm nicht ganz so gut aufgehoben.
    Das ist kein Wunder, denn er kommt als Autodidakt von einer kleinen Elite-Gruppierung, die von sich aus dasZusammenspiel glänzend gemeistert hat. Harnoncourt hat also als primus inter pares angefangen, nicht als Pultstar.


    Seine große Begabung ist dabei, sich verständlich zu machen. Wenn er probt, bemüht er die ausgefallensten Vergleiche - aber jeder weiß, was gemeint ist. Wenn er bei einem Bruckner-Trio sagt, "das ist jetzt ein bisserl Bauernkapelle", weiß jeder Wiener Philharmoniker, was gemeint ist. Das Zusammenspiel kommt dann von selbst - und der Ausdruck stimmt noch präziser.
    Ich glaube, daß diese bildhafte Ausdrucksweise bei den Proben zu diesen Aufführungen führt, die wirklich "riechen" und "schmecken" anstatt nur zu "klingen".
    Deshalb ist Harnoncourt für mich sicherlich was Präzision anlangt nicht das non plus ultra - aber als Ausdrucksmusiker reicht ihm heute keiner so schnell das Wasser. Auch der besagte "Messias", und sei er noch so eigentümlich in der Tempowahl, beweist diese hohe Schule des Ausdrucks in jedem Moment.


    Übrigens: Barenboims Ausspruch, die Tempofrage sei nicht so wichtig, kann man gar nicht genug unterstreichen. Wichtig ist nicht ein bestimmtes Tempo in seiner absuluten Geschwindigkeit, wichtig sind die Temporelationen untereinander - das, was ich als "Tempodramaturgie" bezeichne. Wenn die stimmt, kann man vielleicht anmerken, daß dasTempo ziemlich langsam oder ziemlich schnell ist, aber "richtig" und "falsch" sind als Begriffe fehl am Platz. Insoferne fand ich den viel gelästerten "Figaro" zwar langsam, aber durchaus schlüssig.
    Ich persönlich mag's gerne etwas flotter, aber in sich war das schon von bewundernswerter Geschlossenheit des Konzeptes und als solches auch für mich trotzdem spannend.
    Das gilt ebenso für den "Messias" - ja, stellenweise schon sehr langsam. Aber diese Tempi bersten dermaßen von Ausdruckswillen und -vermögen, daß Harnoncourt durch die Qualität des Gebotenen beweist, daß er recht hat.


    :hello:

    ...

  • Zitat


    Original von Austria
    Ich denke, ohne die moralische, künstlerische und organisatorische Unterstützung durch seine Frau wäre Harnoncourt immer noch Cellist bei den Wiener Symphonikern.


    Hallo Austria und faun,


    das sehe ganz genau so.
    Allein schon durch ihre Bereitschaft, sich anfangs zu Gunsten des Kaufs von kostbaren Originalinstrumenten auch materiell sehr einzuschränken, wird das deutlich. Den idealistischen Verzicht auf eine sichere Einkommensquelle kann man als verheiraterer Familienvater sicher nicht ohne die volle Unterstützung seiner Ehefrau durchziehen.
    Es gibt noch viele andere Dinge:
    Sie schrieb in mühevoller Kleinarbeit viele der damals käuflich nicht zu erhaltenen Noten für`s Ensemble von Mikrofichen ab, richtete Orchesternoten mit Vortragszeichen ein, wirkte auch bei der Vorbereitung von Literatur aktiv mit, die nicht von Concentus gespielt wurde, schirmte ihn von organisatorischen und bürokratischen Dingen ab, damit er sich auf die Musik konzentrieren konnte.
    Das meiste davon tut sich wohl heute noch, das Abschreiben wohl weniger.
    Dazu unterstützte sie ihn durch die wichtigen Aufbauzeiten hindurch bis in die 80er-Jahre hinein als Konzertmeisterin.
    Die Kinder wurden auch noch geboren und grossgezogen...
    Ich sehe hierin und in ihrem Violinspiel Gründe für meine Hochachtung vor dieser starken Frau. :jubel:


    Zitat


    Original von faun
    ...immerhin ist der konzertmeister ja auch sprecher des orchesters gegenüber dem dirigenten und musik ist dazu noch emotional sehr aufgeladen


    Das ist tatsächlich so. Wie ich hörte oder las, waren NHs Forderungen gegenüber seinem eigenen Hausensemble immer besonders hoch.
    Die unbedingte Anspruch, der Kunst mit bestmöglicher Qualität zu dienen, konnte in Proben mitunter zu einer gewissen Unerbittlichkeit führen, wenn irgendeine Stelle wiederholt nicht klappen wollte.
    Der, der ohne selbst spielen zu können vor dem Orchester steht, baut sich dann emotional irgendwie auf ( kein Wunder, es geht ja schliesslich um Musik) und beim Orchester rückt irgendwann der Punkt näher, an dem die Nerven blank liegen.
    In solchen angespannten Momenten war es Frau Harnoncourts Verdienst, vermittelnd und beruhigend auf beide Seiten einzuwirken, wofür ihr das Orchester und ihr Mann sehr dankbar waren und sind.


    Probe- und Aufführungssituationen unter Eheleuten stellen die Beteiligten wohl immer vor spezielle menschliche Herausforderungen, denen man sich einfach stellen muss, wenn man als Musiker nicht getrennte Wege gehen will.
    Man erwartet voneinander viel selbstverständlicher als bei Fremden ein blindes Verstehen, und ist in dem Fall, dass es live einmal nicht besser, sondern schlechter als in der Probe war, in seinen kritischen Äusserungen schon etwas offener, deutlicher... ;)


    Hier rede ich aus Erfahrung.
    Am meisten baut man sich aber in Proben auf, was einfach an der spannungsreichen Materie liegt, mit der man umgeht.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Original von tuonela
    Bibers Battalia ist ein Musterbeispiel absichtlich schlecht gestimmter Instrumente ... ich mag dieses Werk, wie auch Schmelzers Fechtschule, wo zeitweise absichtlich alles drunter und drüber geht. :)


    NB kenne ich die Schmelzer-Sonatas und empfinde die Instrumente nicht als "schlecht gestimmt". Was du hörst, hat mit dem Überblasen zu tun, das sich manchmal "falsch" anhören kann, das liegt am Instrument selbst (Länge der Luftsäule beim Schließen der Klappen).


    Herzlichst
    tuonela


    so, die erste schmelzersonate auf der geposteten CD nochmals gehört (kein scherzo mus.) und die battalia bibers.


    bei der battalia geht es einmal drunter und drüber, dabei entgleisen auch die tonhöhen absichtlich (verstimmt sind die instrumente aber nicht!), das ist alles unmißverständlich absichtlich und wahrscheinlich in ordnung, obwohl ich die noten wirklich mal gern sehen würde.


    bei der kurzen groß besetzten schmelzer-sonate sind ein paar einsätze schon ziemlich irritierend, es würde mich wundern, wenn nicht einige andere barockensembles das weniger entgleist hinkriegen würden. demzufolge halte ich das für einen technischen mangel, wobei mir bewusst ist, dass seit damals die perfektion in der regel zugenommen hat. tatsächlich ist das instrument, das ich für eine oboe halte und das mehrfach solistisch beginnt, wesentlich tiefer als die blockflöten etwa. für ein nicht geschultes ohr wird das aber wahrscheinlich nicht zu hören sein.


    nur weiß ich wirklich nicht, warum ich mir nochmal eine CD mit NH kaufen soll, da es das repertoire, das er einspielt, wohl in der regel ohnehin auch von anderen, herausragend(er)en ensembles eingespielt gibt.


    :hello:

  • Eine Frage zu den Temporelationen. Kann es sein daß die Tempi früher etwas zügiger waren, als wir es bei unserer heutigen Aufführungspraxis gewohnt sind? Mann wollte die Herrschaften - v.a. - seine Hoheit nicht langweilen - so kommt es zumindest im Film "Amadeus" an einer Stelle kurz durch.... Ich kenne die Quellanlage nicht und diese Frage hat mich bisher - außer bei Rachmaninov (heute viel zu langsam und kitschig) - nicht sonderlich interessiert. Wäre dieses Argument der damalig vorherrschenden Hörrezeption überhaupt zulässig bzw. überhaupt belegbar???


    LG
    Wulf.

  • Ich habe mir jetzt mal die sehr preiswert zu habende "Aida" von NH bestellt und bin auf das Vergleichshören mit meinen anderen Gesamtaufnahmen schon sehr gespannt. Obwohl mich der Gedanke an eine Verdi-Oper mit NH irgendwie unruhig stimmt... :D

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)


  • Nunja, es handelt sich da um Programmmusik, um die Schilderung von Situationen, Gemälden, Geräuschen usw. in Form absoluter Musik. ;)
    Aber du mußt ja auch keinen NH kaufen, wenn andere Ensembles dir besser gefallen.
    Ich persönlich weiß, warum ich zu NH greife, wenn er etwas eingespielt hat - und wenn es 100 andere Ensembles gäbe, die dasselbe Stück eingespielt haben.


    Herzlichst
    tuonela
    :)

  • Bei mir ist's just umgekehrt als beim Kurzstückmeister: Wenn mich ein Werk alter Musik interessiert, frage ich eigentlich zuerst immer, ob es eine Harnoncourt-Aufnahme gibt. Mitunter gefallen mir dann später gekaufte Vergleichseinspielungen ebenso gut (beim "Orfeo" etwa die Aufnahme der Haim), aber daß Harnoncourt so turmhoch übertroffen würde, daß ich ihn prinzipiell vermeide, kann ich nicht sagen. Für mich ist er eigentlich einer der wenigen, die immer primär auf Ausdruck spielen lassen - und das ist mir wichtiger als die absolut genaue Lesart.
    :hello:

    ...

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