ZitatOriginal von Edwin Baumgartner
Falsch: Jeder Musiker, der etwas auf sich hält und geistig wendig ist, lässt sich auf so etwas ein - weil es nämlich Stoff für seine kleinen grauen Zellen ist. Die anderen können ohnedies bei den "Normal-Dirigenten" à la Haitink oder Muti ihren Dienst nach Vorschrift machen.
Lieber Ulli, ich glaube, Du schätzt da die Musiker (und nicht nur die der Wiener Philharmoniker) total falsch ein.
Ich halte es ebenfalls für äußerst unwahrscheinlich, dass sich Musiker aus Orchestern wie dem Concertgebouw, den Berlinern und den angeblich ja schon aus Prinzip blasierten Weana Philharmonikern (die haben ihn sogar nochmal zum Neujahrskonzert eingeladen, und davon war nicht mal ich besonders angetan) von einem Stümper etwas vormachen lassen. Von den Sängern und Solisten nicht anzufangen. Der persönliche Charme NHs scheint mir nach dem, was ich im TV gesehen habe, nicht allein dafür verantwortlich zu sein. Vor einiger Zeit lief eine Sendung über die Sängern Kassarova (sehr attraktiv und sympathisch übrigens), die hatte er vollends eingewickelt.
Es ist wie schon von Kundigeren erwähnt, die Art der Probenarbeit, wie Musik lebendig wird usw. Es mag sein, dass das am besten mit Ensembles wie dem Concentus, die ihn seit Jahrzehnten kenen oder dem Chamber Orchestra of Europe, die sehr frisch und flexibel waren (einzelne der Beethovensinfonien haben sie wohl mit NH zum ersten Mal richtig eingespielt) funktioniert. Ich halte einfach zuviel von den professionellen und intellektuellen Qualitäten all dieser Musiker, als dass ich glauben könnte, sie machten wider Willen mit (und erzählten dann das Gegenteil) Warum in aller Welt sollten sie? da muß man schon Verschwörungstheorien bemühen...
Natürlich gab es Originalklang etc. Ansätze vor und gleichzeitig mit Harnoncourt. Es scheint aber deutlich, dass keiner der anderen Pioniere eine derart starke und mitreißende Persönlichkeit und ansteckende Begeisterung aufwies und derart Interessantes an andere Musiker und das Publikum vermitteln konnte wie NH. Er ist halt klarerweise KEIN Musikwissenschaftler, sondern als erstes ein praktizierender Vollblutmusiker. (Man muß sich immer vor Augen halten, dass er bei '69 bei den Symphonikern gespielt hat, u.a. um die Familie (IIRC vier Kinder) zu ernähren, die Energie "nebenher" 15 Jahre Arbeit mit dem Concentus zu machen, muß man auch erstmal aufbringen)
Auch die meisten ein wenig jüngeren halte ich fast alle für eher blaß (persönlich, oft auch musikalisch) ihm gegenüber. Klar, Pinnock und Gardiner sind sauber und solide, ihre Ensembles hochvirtuos, aber klingen dann oft halt wie Marriner mit alten Instrumenten. Keines der britischen Ensembles erzielt auch nur annähernd einen so eigenen, spezifischen Klang wie der Concentus. Der ist überhaupt nicht häßlich, sondern im Gegenteil zu sehr viel mehr Farben, Stimmungen, Phrasierungen, Schattierungen fähig als die Konkurrenz. (Ich rate jedem, mal Haydns Pariser Sinfonien anzuhören, gewiß teils extreme Lesarten, aber allein im 2. Satz von Nr 82 hört man vielfältigere Streicherartikulation als bei manchen Konkurrenten in allen 6 Sinfonein zusammen...)
Und mich wundert sehr, dass Jacobs hier einigen gefällt, die NH nicht mögen. Denn wenn jemand eher noch manierierter (und das meist willkürlicher) ist als NH, dann Jacobs (daher ist er ja einer der Interessanteren, ebenso Minkowski ;))
Dass der Vorwurf des "um jeden Preis anders machens um seiner selbst willen" haltlos ist, wurde ja schon mehrfach ausgeführt.
Ich würde sogar noch über Edwins statement hinausgehen und sagen: besser jemand hat Ideen, die bizarr oder schlicht falsch scheinen mögen wie NH (oder Furtwängler oder Gould oder xxx) als er hat gar keine (wie allzuviele Kollegen).
Ich kann ziemlich wenig zu den Einspielungen mit Musik des späteren 19. Jhds sagen, da mich zum einen das Repertoire oft nicht sehr interessiert, ich sie daher gar nicht oder nicht gut kenne. Es ist natürlich im heutigen Medienbetrieb voll verständlich, dass er Brahms, Bruckner und Dvorak macht. Und es ist absolut heuchlerisch, ihm das als Karrierismus vorzuwerfen! Er brauchte ca. 20 Jahre von Bach & Monteverdi bis Mozart, dann fast noch einmal so viel bis Schubert und Brahms. Sein Beethovenzyklus kam nach nicht weniger als 3 Konkurrenten auf Originalinstrumenten (Hanover Band, Hogwood, Norrington), Anfang der 90er heraus. Andere preschten da wesentlich flotter vor....
Ich bin jedoch nicht wirklich von dieser Expansion begeistert. Zwar hat er gewiß auch zu all diesen Komponisten etwas zu sagen (und die Verweigerung, "Kleinmeister abzugrasen" hat meine Sympathie ;)), aber ich glaube, dass es eine andern Grund gibt, warum hier die Meinungen (das dachte ich jedenfalls) noch stärker gespalten sind als sonst. Ab Beethoven gibt es, besonders wenn man etwas in der Zeit zurückgeht und die Stromlinisierung der 60er und 70er ignoriert, schon praktisch alles an Interpretationsansätzen, was man sich vorstellen kann. Die expressiven Extreme von Furtwängler, Mengelberg oder Scherchen ebenso schon wie die Geradlinigkeit von Toscanini, Leibowitz oder Kleiber, die wuchtige Strenge Klemperers und die Brillanz von Karajan usw. Bei Mozart war das nicht so, da gibt es ganz vereinzelte Vorläufer, vielleicht am meisten noch Furtwängler und Klemperer, die die Züge betonen, die NH herausarbeitet. Da hat er wenigstens für mich, einen Bereich erst eröffnet, der vorher nur in Ansätzen zu erahnen war. Ähnliches gilt für die überragenden Aufnahmen der Concerti von Händel
U.a. dank des phantastischen CoE und der Live-Sponaneität sind m.E. dennoch einige der Beethovensinfonien außerordentlich spannend gelungen (uninteressant ist keine). Noch weiter fortzuschreiten, wo zunehmend unklar ist, ob das Paradigma der gestischen Klangrede noch so paßt (im weitesten Sinne paßt es gewiß, denn Musik ist "Klang-Geste", mit ganz wenigen Ausnahmen, die aber vor dem 20. Jhd. selten sein dürften) wie er es anwendet, wo seit jeher ein viel breiteres Spektrum an Interpretationen herrscht, wo die Tradition weniger gebrochen und strittig ist als bis ca. Beethoven, kann er einfach weniger von seinen spezifischen Qualitäten und Erfahrungen ausspielen. Ich wünschte, er würde lieber noch ein dutzend weniger bekannter Haydn-Sinfonien einspielen (mit dem Concentus, die mit dem Concertgebouw sind mir oft zu zahm, viel zahmer als der Mozart oder der neuere Haydn)
@Kurzstückmeister: Ich glaube Du irrst, wenn Du meinst, dass andere HIP-Ensembles in den 60er sauberer gespielt hätten als der Concentus, die Unterschiede liegen im statistischen Tauschen. Sie mögen Ende der 70er von jüngeren Gruppen wie MAK dann deutlich überholt worden sein, aber vorher gab sich das nicht viel. Im Gegenteil gibt es meines Wissens noch eine Einspielung der Brandenburgischen aus den 70ern unter Leonhardt, wo die Trompetenpartie im 2. von einem Horn übernommen wird! Und technisch haben sich die Spieler in dieser Zeit exponentiell verbessert...
(was natürlich nicht heißt, dass man daher nicht zu den neueren technisch besseren Aufnahmen greifen sollte)
viele Grüße
JR