Modest P. Mussorgsky: Boris Godunow

  • Hallo Theophilus,

    Zitat

    In Österreich hättest du wahrscheinlich einzig bei der Gramola gute Chanen gehabt, einen Boris einfach aus dem Regal nehmen zu können. Da Caruso gab es noch nicht (und deren sagenhafte Opern-Auswahl wird es weltweit auch nicht allzu häufig geben).


    Die Problematik ist natürlich ansatzweise richtig dargestellt. Man bekam damals in Österreich nicht einmal Brittens "Peter Grimes" in der Decca-Aufnahme, weil die in Österreich nicht vertrieben wurde.
    Es stimmt: Man mußte sich bemühen, an eine Aufnahme zu kommen.
    Der beste Weg in Sachen "Boris" war die Buch- und Schallplattenhandlung im Trattnerhof, ein Ableger der KPÖ mit entsprechend guten DDR- und Rußlandkontakten. Und dort standen denn auch karajanfreie "Borise" in solchen Mengen, daß man sie zu verkaufen gedachte. Da dieses Geschäft in einer durchaus dicht frequentierten Parallelgasse zum Graben angesiedelt war, in der ebenfalls mehrere (andere) Geschäfte lagen, kann man nun nicht sagen, es hätte "in Österreich" nur "Schleichwege" gegeben, an einen "Boris" zu kommen, der seinen namen zurecht führt. Karajan war nur die bequemste Möglichkeit, an einen bequemen "Boris" zu kommen.


    ----------------------


    Zitat

    Zitat Giselher
    Am nächsten Abend, vor einer Strauss-Oper, flüsterte Karajan einigen Freunden zu, er sei sehr froh, nun endlich wieder professionell komponierte Musik machen zu können..."


    Wenn das stimmt (und ich bezweifle es nicht), ist dieser Karajan tatsächlich von einer gnadenlosen musikalischen Ahnungslosigkeit gewesen.
    Nun, dementsprechend hat er dieses Meisterwerk ja auch aufgeführt...


    :hello:

    ...

  • In Ost-Berlin gab es seinerzeit, wenn das jemanden interessiert, die resp. Pavillons der osteuropäischen Länder, wo ich als Westberliner Junge mit eingetauschtem Aluminium-Geld herrlich wildern konnte. Ich habe z.B. noch eine russische "Traviata" mit Koslowski und natürlich jede Menge tschechischer Musik, von Vaclav Talich und anderen dirigiert; aus dieser Zeit. Besonders wertvoll war für mich der "Fürst Igor" mit einem phänomenalen Bariton namens Ivanov, einer herrlichen Stimme.

  • Hallo!!


    Habe gerade folgende kuriose DEUTSCHE Aufnahme gefunden:



    Alexander Welitsch
    Anneliese Rothenberger
    Margot Guilleaume
    Martha Mödl
    Rudolf Schock
    Georg Hann
    NWDR SO, Wilhelm Schüchter


    Bekannte Namen, aber sonst??


    Kennt vielleicht wer diese Aufnahme??


    LG joschi

  • Hallo,


    jetzt weiß ich immer noch nicht, welches für *mich* die richtige Aufnahme ist. Ich habe prinzipiell weder Probleme mit Karajan noch mit der Rimskij-Korsakov-Fassung.


    Wichtig für mich: Welches ist die adäquate Sprache? Deutsch? Russisch? Englisch?


    Englisch lehne ich ab, außer man klärt mich auf, dass dies die übliche Aufführungssprache außerhalb Russlands ist.


    Russisch wäre ok, wenn man es in dieser Sprache auch in Westeuropa hören könnte. Deutsch dito, aber nur, wenn es real auch einen nennenswerten Verbreitungsgrad hat.


    We unterscheiden sich hier die bisher besprochenen Aufnahmen (egal welche Fassung)?



    Thomas Deck

  • Zitat

    Original von thdeck
    Wichtig für mich: Welches ist die adäquate Sprache? Deutsch? Russisch? Englisch?


    Russisch, würde ich sagen: a) ist es das Original, b) Boris ist ein Russe, wie er im Buche steht, kann mir ihn in einer anderen Sprache schlechterdings nicht vorstellen, b) meines Wissens wird die Oper auch in Deutschland normalerweise in der Originalsprache gegeben.


    Ich habe zwei Aufnahmen:


    Talvela, Gedda, Mróz, Haugland, Polish Radio Nat. Orch., Jerzy Semkow (EMI 1976)



    Die Aufnahme, mit der ich den Boris kennen und lieben gelernt habe. Sie trifft die melancholisch-resignativen Schichten des Werks sehr schön und Martti Talvela in der Titelrolle ist ohnehin für mich die ideale Verkörperung, ein Künstler, den ich ohnehin sehr schätze.


    Vedernikov, Matorin, Piavko, Arkhipova, Masurok, Sokolov, USSR TV and Radio Large Symph. Orch., Vladimir Fedoseyev (Philips 1978-83)


    516mYLQZ8OL._SY300_.jpg


    Diese Aufnahme müßte ich erst wieder hören, kann also momentan nichts Näheres dazu sagen.


    Oben äußert sich Edwin zu beiden Einspielungen, sicher bedenkenswert.

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  • Lieber Thomas,
    was die Sprache betrifft: Ich plädiere für Russisch, da Mussorgskij den Sprachklang miteinkomponiert hat. Die deutsche Deklamation wirkt hingegen etwas unnatürlich, obendrein muß man mit einer relativ banalen Übersetzung zurechtkommen.


    Das Mussorgskij-Original bekommst Du musikalisch am besten bei Fedosejew - eine Überzeugungstat, die den Dirigenten zu einer Leistung anstachelt, die er nachher bei keinem anderen Werk in ähnlicher Intensität wiederholt hat.


    Philologisch am korrektesten ist Gergiew in der großen Box, da er die Erst- und die Zweitfassung fein säuberlich trennt, während Fedosejew zwar die gesamte Musik einspielt, man sich aber die Fassungen sozusagen selbst zusammenstellen muß.


    Achtung: Es gibt Änderungen bei den Fassungen nicht nur was die Bilderfolge betrifft, es gibt auch bei gleichen Bildern in den Deklamationen mehrere kleine Änderungen. Diese sind nur bei Gergiew zu verfolgen, Fedossejew muß zwangsläufig Entscheidungen treffen (meist zugunsten der Zweitfassung).
    Gesanglich ist die Gergiew-Einspielung gut, aber nicht herausragend.
    Vorsicht: Hände weg von der DVD - der von mir sonst durchaus geschätzte Robert Lloyd ist als Boris indiskutabel.


    Wenn Du die Rimskij-Fassung willst: Die Golowanow-Aufnahme ist in allen Punkten unübertroffen und wahrscheinlich unübertrefflich - aber in Mono. Das zwar, für 1949 in sehr guter Qualität, aber es kommt auf Dich an, ob Du das akzeptierst - vielleicht bei jpc hineinhören; was die musikalische Qualität betrifft, verbürge ich mich.


    Wenn Dir diese Rimskij-Version technisch zu schwach ist, rate ich zu Melik-Pashajew auf Melodjya: Das ist eine wunderbar kraftvolle Einspielung, die klangschön und differenziert ist. Recht gut ist auch die Ermler-Einspielung, nur ist Ermler ein Interpret, der eine etwas geringere Spannweite hat als Melik-Pashajew. Wenn Du eine etwas glattere Gangart bevorzugst, bist Du mit Ermler allerbestens dran.
    :hello:

    ...

  • Lieber Thomas,


    Boris ist eine russische Oper eines russischen Komponisten und Textdichters in der das russische Volk eine entscheidende Rolle spielt - darüber hinaus hat Mussorgsky den russischen Sprachrhythmus und die russische Sprachmelodie in seiner Oper berücksichtigt: also bitte wenn schon eine Boris-Aufnahme dann eine russisch gesungene.


    Was die verschiedenen Fassungen betrifft so hatte ich schon die Möglichkeit neben der Rimsky-Fassung auch die Original- und die Urfassung auf der Bühne zu erleben: Fast schon drei auch in ihrer theatralischen Wirkung unterschiedliche Werke. Ich kann die oft schroffe Ablehnung der Rimsky-Fassung trotzdem nicht nachvollziehen. Der Grund liegt vielleicht darin, dass ich den Boris in der Rimsky-Fassung kennen, schätzen und lieben gelernt habe.


    Wenn du ein Liebhaber der Ästhetik des "Schönklanges" sein solltest so kannst du getrost die Karajan-Aufnahme wählen - Karajan verzichtet aber zu Gunsten dieses Klangideals bis zu einem gewissen Grad auf die Wirkung der schroffen Gegensätze (was aber schon Rimsky tat). Dieses Konzept realisiert auch Ghiaurov in seiner Interpretation der Titelgestalt.


    Die derzeit vom Preis-Leistungs-Verhältnis her unübertroffene Einspielung liegt bei Brilliant vor: Dobrowen 1952 mit dem!!! Christoff - bis auf eine Einschränkung eine nahezu perfekte Aufnahme: Christoff singt neben dem Boris auch den Pimen und den Waarlam - alle ausgezeichnet aber bei aller Charakterisierungskunst dieses Re di Basso - es bleibt eine Stimme und für mich stört dies die Wirkung dieser Einspielung. Trotzdem der Monoklang ist gut, die Besetzung hervorragend und der Preis liegt um die 10 Euro! Für mich von den Rimsky-Fassungen derzeit die Empfehlung – vor allem auch deshalb, da meine Numero uno Melik-Paschajew 1963 mit London als Boris derzeit nicht leicht zu beschaffen ist.


    Leider gilt das auch für die Originalfassung: Mein Favorit wäre hier Fedossejew 1981 mit Wedernikow – aber diese Einspielung scheint derzeit vergriffen zu sein und daher bleibt für mich nur die Aufnahme unter Semkow 1977 mit Talvela, die allerdings unter einem leicht phlegmatisch wirkenden Dirigat leidet. Auch diese ist derzeit recht preiswert zu haben!


    Ein „Schmankerl“ am Rande: den Grigori singt 1952 und 1977 derselbe Tenor: Nicolai Gedda.


    Aber genug geschrieben- ich höre lieber etwas Musik:
    Vielleicht die symphonische Synthese nach Mussorgskys Boris Godunow von Stokowski unter Serebier (Naxos 2004)

    Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. (Friedrich Nietzsche)

  • Hallo Giovanni,

    Zitat

    Karajan verzichtet aber zu Gunsten dieses Klangideals bis zu einem gewissen Grad auf die Wirkung der schroffen Gegensätze (was aber schon Rimsky tat)


    Eigentlich nicht - und darin besteht Karajans Mißverständnis. Rimskij nivellierte den Klang nicht, sondern nützte seine relativ breite Farbenpalette, um charakteristische Klänge zu erzeugen (die Partitur zeigt das sehr klar - und bei Golowanow ist es auch deutlich zu hören). Rimskij hat nur eine Abneigung gegen seiner Meinung nach extreme Klänge, die Mussorgskij aber als Klangsymbole verwendet (hohes Fagott) - und vor allem gegen die harmonische und rhythmische Instabilität des Originals, die er zwangsläufig mildert. Hätte er nur instrumentiert und sonst alle Noten an ihrem Platz gelassen, wäre das Ergebnis zwar eine Verfälschung, aber eine, mit der man gut leben könnte.
    :hello:

    ...

  • Hallo Edwin,


    Zitat

    Rimskij hat nur eine Abneigung gegen seiner Meinung nach extreme Klänge, die Mussorgskij aber als Klangsymbole verwendet (hohes Fagott) - und vor allem gegen die harmonische und rhythmische Instabilität des Originals, die er zwangsläufig mildert.


    wir liegen aus meiner Sicht gar nicht so weit auseinander. Ich habe es gestern nur zu verkürzt dargestellt.


    Durch die Vermeidung dieser "extremen Klängen" und die "verbesserte" Instrumentation sowie der Glättung der Harmonik und Rhythmik entsteht klanglich, zumindest für mich, ein "schönerer" Klang. Zusätzlich verwirklicht Karajan seine "Klangästhetik" und die kann man natürlich, besonders im Fall des Boris, auch ablehnen.

    Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. (Friedrich Nietzsche)

  • Lieber Giovanni,
    o.k, jetzt treffen wir uns. Ich verstand Dich irrtümlich ursprünglich so, daß Mussorgskij zwecks Kontrastwirkungen entlegene Klangbereiche aufsucht, die Rimskij dann nivelliert. Tatsächlich ist Mussorgskijs Klang wesentlich stärker nivelliert, nämlich zugunsten eines relativ farblosen Klanges, der eher wie eine Zeichnung wirkt als wie ein Gemälde. Rimskij deutete das als Unvermögen und trug (wenn wir nur von der Instrumentierung reden) die Farben seiner gesamten luxuriösen Palette auf. Tatsächlich konnte Mussorgskij aber ziemlich farbenfroh instrumentieren - man höre sich etwa die von ihm instrumentierten Teile von "Salammbo" an. Der "Boris"-Klang ist also eine bewußte Entscheidung.
    Ich werde die Vermutung nicht los, das Geheimnis liegt in der Pimen-Szene: Mussorgskij hält das ganze Werk über diesen Tonfall einer Chronik fest, erzählt also sozusagen in der dritten Person. Rimskij macht daraus eine erste Person, indem er das Geschehen nicht betrachtend interpretiert, sondern eintaucht und ausdeutet.
    :hello:

    ...

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  • Hallo,
    Da ich Opern fast nur noch als DVD kaufe, würde mich mal interessieren, was da zu empfehlen ist. Die gergiev-aufnahme wurde ja bereits von Edwin kritisiert, da Robert Lloyd zu leichtgewichtig sein soll.
    Damit dürfte es bei diesem Boris ja keine Probleme geben:


    Die DVD kenne ich leider noch nicht- vielleicht einer von Euch ? Ich habe Salminen mal vor über 10 jahren in Zürich als Boris gehört, und das hatte mir damals sehr gut gefallen (das war die aufführung an der sich eine Sängerin den kompletten Rücken an einem Grill verbrannt hatte, falls sich da jemand dran erinnern kann, der Grill gehörte auf der Bühne zur aufführung, die Sängerin musste noch während der Aufführung ins Krankenhaus und musste ersetzt werden- das kam damals am Abend sogar in den Fernsehnachrichten).


    Beste Grüsse :hello:


    syrinx

  • Ok, ich hab jetzt beschlossen, erst mal die Rimski-Korsakow-Fassung zu kaufen. Erstens habe ich kein Problem damit, wenn zwei Künstler an einem Werk arbeiten, solange das Ergebnis in Ordnung ist. Zweitens erscheint es mir sinnvoller, das "bessere" Werk (Originalfassung) später zu kaufen, als umgekehrt.


    Bzgl. diverser Aufnahmen der Rimski-Korsakow-Fassung (alle in russisch) denke ich jetzt mal laut:


    Karajan:
    Sehr gute Besetzung, sehr gutes Orchester, sehr guter Klang. Sehr gut bewertet bei Amazon.com, wenn auch mit Hinweis auf diverse "Glättungen". Offensichtlich eine zeitgebundene Interpretation. Aber so ist das nun mal bei Opern, kann und soll man diese überhaupt "zeitlos" interpretieren? Ich bin sicher kein Karajan-Fan, von seiner Person schon mal gar nicht. Bei meinen Opernaufnahmen ist er bisher nicht sehr präsent, aber da, wo er es ist, bin ich mit der Aufnahme zufrieden, auch bei den weniger anerkannten (Carmen mit Baltsa+Carreras, Tosca mit Ricciarelli+Carreras+Raimondi). Ist sein Boris wirklich so "falsch"?


    Ermler:
    Leider keine Rezension verfügbar. Obraszova sagt mir was, den Rest kenne ich nicht. Evtl. schlechter besetzt als bei Karajan, dafür aber "russisch" interpretiert, das fände ich schon gut. Von 1985, also klanglich wohl ok. Verdächtig: "Fassung von N. Rimskij-Korsakow, Einrichtung von M. Ippolitow-Iwanow" 189 Minuten, Karajan hat 211. Fehlt da was?


    Melik-Paschajev:
    Da gibt's zwei Varianten, eine mit Ivan Petrov und eine, bei dem letzterer durch George London ersetzt wurde (Rest unverändert). Ebenfalls "russisch" interpretiert, aber von 1963 und nur 175 min. Da scheint noch mehr zu fehlen.


    Was tun: Russische Interpretationen reizen mich schon, aber Karajan hört sich evtl. am besten an, und warum ist er länger als die anderen? Soll ich den europäischen Karajan nehmen, um einen größeren Kontrast zur später zu kaufenden Originalfassung zu haben? Oder auch jetzt schon die Russen bevorzugen, weil sie durchaus anders klingen, weil Rimski-Korsakow auch Russe war und weil ich bisher mit meinen osteuropäischen Aufnahmen durchaus zufrieden bin?


    Ich bin an möglichst vielen Meinungen interessiert...



    Thomas Deck

  • Hallo Thomas,


    zweifellos spielt die Fassung beim Kauf dieser Oper keine unwesentliche Rolle.


    Aber nicht unwesentlich ist der Sänger und Gestalter der Titelpartie. Ein Umstand, dass gerade die neueren Einspielungen der Originalfassung nicht wirklich zum empfehlen sind (u.a. Gergiev, Abbado).


    Dazu kommt, dass zu dieser Oper auch ein ansprechendes Klangerlebnis gehört. Ältere Mono-Aufnahmen können da sowieso nicht mithalten.


    Wenn du ohnehin die Rimski-Fassung fürs erste suchst, bieten sich aus meiner Sicht zwei Aufnahmen an, die ich bereits weiter oben favorisierte:


    Karajan
    Seine Aufnahme ist etwas für Klang-Puristen im positivsten Sinn, bietet einen der besten Boris-Sänger-Darstellern: Nicolai Ghiaurov und ein ansonsten exzellentes Sängerensemble.


    Cluytens
    Seine Aufnahme bietet einen weiteren Boris-Sänger-Darsteller par excellence: Boris Christoff. Hier so gar in STEREO! Christoff interpretiert außerdem Pimen und Warlaam.



    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • Lieber Thomas,
    ich kann Dir nur sagen: Vergiß den Karajan. Das hat nichts mit meiner Aversion zu tun. Das Grundproblem ist, daß Karajan das Stück nicht mochte. Angeblich hat er beim Probenbeginn der anderen Oper, die er bei den Salzburger Festspielen dieser Saison dirigierte, gesagt: "Und jetzt machen wir wieder Musik." (Das ist verbürgt und wurde mir mittlerweile von einigen Philharmonikern übereinstimmend bestätigt.) Er interessierte sich für das Werk musikalisch ausschließlich wegen der Krönungsszene; außerdem wollte er seinen Einflußbereich in den Osten erweitern und sah die Möglichkeit, einige prominente Künstler auf engstem Raum zusammenzubringen. Obendrein witterte er die Chance, durch die erste West-Aufnahme des Werks in eine konkurrenzlose Marktnische zu gelangen.
    Demenstprechend ist die Aufnahme.
    Damit sage ich keineswegs, daß alles an ihr schlecht ist. Es gibt einige berückend schöne Stellen. Aber wenn Karajan am Ende des Polenaktes das Orchester straussisch aufrauschen läßt, ist das einfach falsch - und zwar sowohl dem Original gegenüber als auch gegenüber der Rimskij-Fassung. So distanzlos ist diese denn auch nicht.
    Karajans größter Mangel ist, daß er sich in die Klangwelt dieser Musik nicht einfühlen kann. Er dirigiert dieses Stück als wär's von Puccini bearbeiteter Wagner; nur leider steht Mussorgskij dem einen so fern wie dem anderen. Ein Dirigent, der nicht zumindest ansatzweise Russisch kann, hat außerdem Probleme mit der Wahl der Tempi. Die russische Sprache wird nicht langsam deklamiert. Mussorgskij geht vom Sprechtempo aus. Karajans behäbige Tempi sind daher zumindest problematisch. Wenn Du also eine russisch orientierte Aufnahme willst, ist die unter Karajan ein 100-prozentiger Fehlgriff.


    Aber Vorsicht: Auch die von Liebestraum vorgeschlagene zweite Aufnahme ist unter diesem Aspekt nicht ideal: Cluytens dirigiert um Klassen besser als Karajan - aber er spürt, daß diese Musik zu Debussy führt. Ergebnis: Ein delikat abgestufter vor-impressionistischer Klangzauber, sehr französisch, sehr wenig russisch. Ein wenig rauher als bei Cluytens und Karajan soll es nämlich auch bei Rimskij zugehen. Obendrei ist die Besetzung Boris-Pimen-Warlaam mit einem Sänger ein völliger Unsinn (Aage Haugland hat ihn später leider wiederholt): Daß Christoff alle drei Rollen singen konnte, ist nicht zu bezweifeln, daß aber die Stimmfärbung beim versoffenen Bettelmönch identisch ist wie beim Chronisten wie beim Zaren, ist dramaturgisch unmöglich zu rechtfertigen. Als nächstes singt einer den Wotan und den Alberich, nur, weil er's stimmtechnisch kann...



    Zu den russischen Aufnahmen: Ermler hat eine Fassung, in der russische Komponist Ippolitow-Iwanow an der Rimski-Fassung herumbessert. Es ist eine der in der damaligen Sowjetunion gebräuchlichen Fassungen. "Fehlen" wird bei Rimskij immer etwas, weil Mussorgskij eben mehr (und andere) Musik für dieses Werk geschrieben hat.


    Melik-Paschaew: Er hat nicht zwei Aufnahmen gemacht, sondern eineinhalb. Damit die Aufnahmen auch im Westen einschlagen, kam die clevere Melodiya auf die Idee, alle Szenen, in denen Boris auftritt, mit zusätzlich mit London aufzunehmen. Alle anderen Szenen sind unverändert die des Originals mit Petrov. Daß etwas fehlt, wäre mir neu, Melik-Paschaew wählt nur immer die kürzere Variante - aber da sind wir sozusagen bei einem editionskritischen Problem: Rimskij hat diese kürzeren Varianten selbst hergestellt (übrigens auch Mussorgskij). Wenn Du eine absolut komplette Fassung haben willst, in der alle Takte vorhanden sind, dann bleibt Dir nur das Original, und zwar in der Gergiew-5-CD-Box.


    Wenn Du Dich für Melik-Paschajew entscheidest, rate ich übrigens zur Melodyja-Aufnahme:
    Sehr gut restauriert, tolles Klangbild, in allen Rollen unglaublich gut gesungen. Und vor allem nicht auf 2 CDs zusammengekürzt (ich hatte eine Billig-Ausgabe dieser Einspielung, bei der "Schnitttechniker" die notwendige Länge sozusagen mit der Schere herstellten; aber ich kann natürlich nicht sagen, ob heute im Handel befindliche Billig-Ausgaben diese Barbarei wiederholen).


    Aber jetzt mal eine Gewissensfrage: Warum willst Du Deine Bekanntschaft mit einem der genialsten Werke der Musikgeschichte ausgerechnet mit einer korrumpierten Version beginnen? Wäre nicht der andere Weg reizvoller: Zu hören, was der Komponist wollte, dann den Vergleich ziehen, wie der Komponist von seinem Freund und Weggefährten interpretiert wurde?


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Vergiß den Karajan. Das hat nichts mit meiner Aversion zu tun. Das Grundproblem ist, daß Karajan das Stück nicht mochte. Angeblich hat er beim Probenbeginn der anderen Oper, die er bei den Salzburger Festspielen dieser Saison dirigierte, gesagt: "Und jetzt machen wir wieder Musik." (Das ist verbürgt und wurde mir mittlerweile von einigen Philharmonikern übereinstimmend bestätigt.) Er interessierte sich für das Werk musikalisch ausschließlich wegen der Krönungsszene; außerdem wollte er seinen Einflußbereich in den Osten erweitern und sah die Möglichkeit, einige prominente Künstler auf engstem Raum zusammenzubringen. Obendrein witterte er die Chance, durch die erste West-Aufnahme des Werks in eine konkurrenzlose Marktnische zu gelangen


    Lieber Edwin,


    mit dieser Argumentation habe ich große Probleme. Das ist einfach unwissenschaftlich. Da wird Privates mit Musikwissenschaftlichem vermengt, das kann nicht sein. Ein Karajan-Jünger dreht den Spieß um und bringt irgendwelche Zitate, nach denen Karajan der Musikwelt zeigen wollte, dass er auch russische Musik inszenieren kann, dass er der Welt etwas ganz Großes hinterlassen wollte. Er wird beliebig viele außermusikalische Fakten heranziehen, um deine Position zu schwächen. So kommen wir nicht weiter.


    Ich finde das durchaus bedauerlich, weil du mir musikalisch sicher näher stehst als "Liebestraum" (die Anführungszeichen müssen sein, mit Fantasienamen kann ich nichts anfangen, unabhängig von diesem Thema).


    Aber es naht Rettung: Ich muss eh die Originalfassung kaufen...



    Thomas Deck

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  • Ihr werdet mich jetzt steinigen, aber heute ich habe festgestellt, dass ich die Originalfassung von 1874 kaufen muss. Schuld ist Kurt Pahlen. Jaja, auch so ein Schlimmer, aber er hat mich in die Welt der Oper eingeführt, das vergesse ich ihm nicht. Heute kam sein Führer zum Boris Godunow an, und er empfiehlt doch tatsächlich die Originalversion. Hätte ich diesem Verfechter konservativer Inszenierungen gar nicht zugetraut. Und dann ist da noch Edwin, der mein Gewissen bearbeitet. Mit meinem Gewissen ist nicht zu spaßen, wenn das schlecht gelaunt ist, versaut es mir glatt den Schlaf, darauf kann ich gut verzichten.


    Also die Originalfassung und mal wieder laut gedacht:


    Abbado (1993):
    Scheint tatsächlich auf Englisch zu sein. Unglaublich...


    Fedoseyev (1983):
    Scheint gut, wenn auch teuer (34 Euro). Aus USA für weniger als die Hälfte...


    Rostropovitsch (1987):
    Scheint auch gut, aber auf Französisch?


    Semkow (1976):
    Scheint gut. Laut Operone aber die Schostakowitsch-Fassung???



    Ich tendiere zu Fedoseyev. Ob mich die amerikanischen Freunde als Kunde haben wollen? Ist nicht immer einfach mit denen...



    Thomas Deck

  • Lieber Thomas,
    ich war gestern erst im CD-Shop und habe dort Gergiev - nur die Oriiginalfassung - äußerst preiswert entdeckt. Vielleicht hast du Glück und das Angebot gibt es nicht nur in Wien (19,90 Euro).


    Da du nun doch die Originalfassung kaufen wirst wollte ich nur darauf hinweisen, dass die für mich wirklich großen Einspielungen des Boris , besonders aus dem Bolshoi-Theater, nun einmal in der Rimsky-Fassung vorliegen (Melik-Paschajew und Golovanov jeweils mit zwei unterschiedlichen Boris-Sängern, wobei nur in der jeweils jüngeren die Szenen des Boris neu aufgenommen wurden - Reizen/Pirogov bzw. Petrow/London).
    Ich besitze jeweils beide Einspielungen und das zeigt, dass ich mich schwer für einen der jeweiligen Borisdarsteller entscheiden konnte.


    Jedenfalls wünsche ich dir so viele Eindrücke und Einblicke mit Boris Godunow und seinen verschiedenen Interpretationen wie ich sie immer wieder erleben darf bzw. durfte und wenn dir der Boris gefällt: Es gibt noch die Chowanschtschina - und die war für mich als Jugendlicher noch um beeindruckender als der Boris - das leidende russische Volk pur!


    Giovanni

    Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. (Friedrich Nietzsche)

  • Zitat

    Original von thdeck
    Semkow (1976):
    Scheint gut. Laut Operone aber die Schostakowitsch-Fassung???


    Wenn damit die von mir oben genannte EMI-Semkow-Aufnahme gemeint ist (bei jpc finde ich noch eine Live-Aufnahme 1972 mit dem Teatro La Fenice Orchestra, die ich nicht kenne): Laut Booklet handelt es sich um die "erste Aufnahme der Originalfassung nach der Edition von David Lloyd-Jones (1975) und der Ausgabe von Pavel Lamm (1928)". Von Schostakowitsch ist da keine Rede.

  • Zitat

    Original von thdeck
    ...
    Semkow (1976):
    Scheint gut. Laut Operone aber die Schostakowitsch-Fassung???
    ...


    Nein. Es ist die zweite Fassung von Mussorgskij, wobei man zwei oder drei Szenen aus der ersten Fassung übernommen hat, weil diese als musikalisch reicher erachtet wurden. Wie Gurnemanz schon andeutete, entstand diese Aufnahme nach dem Erscheinen der ersten vollständigen und wissenschaftlich aufbereiteteen Orchesterpartitur der Mussorgsky-Fassungen bei Oxford University Press 1975. Davor gab es nur Gesangspartituren und keine käuflich erwerbbaren Orchesterpartituren der Mussorgskij-Fassungen! Daher auch die Versionen von Rathaus und Schostakowitsch.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo,


    leider habe ich nicht die Urfassung oder die Originalfassung zuerst gehört, da ich grundsätzlich "Originale" vorziehe und das "erstmalige Hören" sehr prägend ist...


    So war mein erster "Boris" der unter Issay Dobrowen mit Christoff in der Titelrolle. Bis dato immer noch meine persönliche Referenzeinspielung. Daß Christoff die Rollen 'Boris", 'Pimen' und 'Warlaam' singt (er behauptete, daß er mehrere Stimmen habe...) ist sängerisch i. e. S. zwar sehr gut gelöst, jedoch nehme ich ihm die unterschiedlichen Rolleninterpretationen inkl. Stimmeinfärbungen bzgl. (differenzierender) Individualität der Rollen hier nicht ab. Den "Boris" singt und verkörpert Christoff mit seinen verschiedenen Facetten hervorragend. Unter Cluytens singt er ihn stimm- und ausdrucksschwächer.


    Weiter kann ich noch den "Boris" von Mark Reizen unter Golovanov von 1948 empfehlen. Außerdem u. a. ein herausragender Iwan Kozlowsky.


    Bis dann.

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  • Zitat

    Weiter kann ich noch den "Boris" von Mark Reizen unter Golovanov von 1948 empfehlen. Außerdem u. a. ein herausragender Iwan Kozlowsky.


    Ich kenn diesen Boris.


    1. Kozlowsky hat hier nur die Rolle des Narren gesungen (wenn ich mich nicht irre...) ?(
    2. Die TQ ist in meiner Aufnahme sehr mies (OPD), daher überhaupt kein Genuss.
    3. Reizen ist, sofern erhörbar, nicht überzeugend. Die von dir genannte Dobrowen-Aufnahme (auch mein erster Boris, für mich ebenfalls sehr prägend) ist um Längen besser, vor allem lebt sie durch den Christoff-Effekt, der alle seine gesungenen Rollen überzeugend singt.


    Nichtsdestotrotz ist die Golovanoff-Aufnahme eine gute Alternative, wenn einem allerdings die extrem schlechte TQ nicht abschreckt.


    LG joschi

  • Hallo Joschi,


    ich bin nicht so ein Technik-Purist (ich höre sehr viele alte Aufnahmen), so daß ich nicht daran gedacht habe, darauf hinzuweisen. Ja, die technische Qualität ist nicht überzeugend.


    Bzgl. Kozlowsky irrst Du Dich nicht.


    Bis dann.

  • Lieber Thomas,

    Zitat

    Das ist einfach unwissenschaftlich. Da wird Privates mit Musikwissenschaftlichem vermengt, das kann nicht sein.


    Na ja, ein Zitat, das von mehreren seinerzeit mitwirkenden Philharmonikern bestätigt wurde, kann man schon als Faktum nehmen. Ich neige eher zu Aufnahmen mit Interpreten, die voll hinter dem Werk stehen. Aber das soll jeder für sich entscheiden.
    "Wissenschaftlicher" in dem Zusammenhang mag schon sein, daß Karajan sehr langsame Tempi nimmt (was West-Künstler bei russischer Musik damals sehr oft machten - "weite Seele - langsame Tempi"), was dem Stil des Werkes nicht entspricht. Außerdem trimmt er den Klang auf "russischen Parsifal", also sehr weich, und das liegt auch ziemlich weit neben den von Mussorgskij und auch neben den von Rimskij geschaffenen Fakten.


    Zitat

    Ich muss eh die Originalfassung kaufen...


    Eine Entscheidung, zu der man nur gratulieren kann!


    Zitat

    Ihr werdet mich jetzt steinigen,


    Aber nur mit ganz kleinen Kieselsteinchen.... :D


    Zitat

    Abbado (1993): Scheint tatsächlich auf Englisch zu sein. Unglaublich...


    Es ist auch nicht so. Abbado/Sony ist auf Russisch - allerdings in merklichen Unterschieden der Sprachbeherrschung. Abbado ist gut, aber sehr lyrisch und detailverliebt. So sehr ich ihn schätze: Die erste Wahl ist er hier für mich eher nicht.


    Zitat

    Rostropovitsch (1987): Scheint auch gut, aber auf Französisch?


    Nein, russisch. Aber Hände weg. Rostropowitschs Interpretation ist langweilig, und die Sänger sind in einer zumindest diskutablen Verfassung.


    Zitat

    Semkow (1976): Scheint gut. Laut Operone aber die Schostakowitsch-Fassung???


    Ganz bestimmt nicht. Es ist eine Mischfassung von Mussorgskij I und Mussorgskij II. Insgesamt tüchtig, aber nicht wirklich gut.


    Zitat

    Fedoseyev (1983): Scheint gut, wenn auch teuer (34 Euro).


    Ist gut und jeden Cent wert. Und das, obwohl ich diesen Knallinski nicht ausstehen kann. Meiner Meinung nach Fedosejews beste Aufnahme, vielleicht sogar seine einzige wirklich hervorragende. Hinreißend gesungen, sehr dramatisch. Hält sich, von minimalen Varianten in der Deklamation abgesehen, an Mussorgskij II, integriert aber das Baild vor der Basilius-Kathedrale. Du bekommst also die gesamte "Boris"-Musik.



    Und jetzt kommt das "Aber": Wie philologisch "richtig" brauchst Du's?
    Der beschränkte Platz der Fedesejew-Aufnahme erzwingt natürlich Entscheidungen, wenn es für die identische Stelle zwei gleich gute Varianten bei Mussorgskij I und Mussorgskij II gibt. Bei diesen Varianten handelt es sich zumeist um Rhythmisierungen der Deklamation, eventuell mit geringfügigen Abweichungen in der Tonhöhe. Diese Varianten sind nicht sehr häufig und umfassen in der Regel höchstens einen Takt, zumeist aber nur den Bruchteil eines Taktes (etwa Rhythmisierung eines Wortes).
    Fedosejew entscheidet sich zumeist für die ihm richtiger erscheinende Variante, mitunter auch für die gesanglich besser liegende.


    Die einzige philologisch unantastbar "richtige" Aufnahme ist Gergiew - der weitgehend gut (und ohne seine sonstigen dynamischen Übertreibungen) dirigiert und eine sehr ansprechende Ensembleleistung bei den Sängern vereint.


    Daher mein Rat: Wenn Du minimale Unsauberkeiten in der wissenschaftlichen Edition tolerieren kannst: Fedosejew. Wenn Du eine völlig saubere Edition haben willst, kommst Du um Gergiew nicht herum.


    :hello:

    ...

  • Lieber Joschi,
    lieber Keith,
    die Golowanow-Aufnahme ist auch technisch (für 1948 ) ziemlich gut, wenn man sie in der schonend und liebevoll bearbeiteten Preiser-Edition kauft. Abgesehen davon: Sie ist so überragend, daß ich technische Mängel dafür gerne in Kauf nehme.

    Zitat

    vor allem lebt sie durch den Christoff-Effekt, der alle seine gesungenen Rollen überzeugend singt.


    ...wenn man einmal den Schwachsinn dieser Idee akzeptiert hat...
    :hello:

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  • Hallo Edwin!


    Das Christoff 4 Rollen singt ist wahrlich keine Hirnidee... mir scheint, er wollte einfach zeigen, was für ein super-toller Übersänger er nicht ist. Na gut, er hats gewagt, er hat ein bissl was gewonnen. Mir gefällt einfach seine charakteristische Stimme, darum verzeih ich ihm diesen Anfall von Größenwahn... :D


    Mir ist die Christoff-Aufnahme trotzdem lieber als die Reizen-Aufnahme, denn in der meinigen CD-Edition (OPD-Pickwick-Classics) ist die einfach schrecklich...und ich bin einiges gewöhnt.
    Und ich halte die Dobrowen-Aufnahme orchestral für die Bessere, sie wirkt mir insgesamt schlüssiger und ausgewogener.
    Was in Golovanoffs Orchester wirklich steckt, hab ich noch nicht herausfinden können (nochmal der Hinweis auf die TQ)


    LG joschi

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  • Hallo Edwin,


    Gibt es einen Qualitätsunterschied zwischen der "Preiser-Edition" und "Lyrica"?


    Exkurs:
    Ich habe noch einmal den Thread in seinen Anfängen nachgelesen. Deine Ausführungen bzgl. der Instrumentierungskunst Mussorgskys kann ich nur unterschreiben...(Seite 1; 24.11.2006) ;):)


    Bis dann.

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    [Fedoseyev] (h)ält sich, von minimalen Varianten in der Deklamation abgesehen, an Mussorgskij II, integriert aber das Bild vor der Basilius-Kathedrale. Du bekommst also die gesamte "Boris"-Musik.


    Nicht ganz: In der "definitiven" Fassung (=Mussorgsky II) fehlt die Begegnung des Narren mit dem Zaren vor der Basiliuskathedrale: Der Narr wird von einer Horde Jungen verfolgt, sie rauben ihm seine letzte Kopeke, der Narr jammert - bis hierhin übernimmt Mussorgsky die Szene in die neue Schlußszene (Waldlichtung bei Kromy in der "definitiven" Fassung = Mussorgsky II) -, dann tritt Boris hinzu und will den Narren (der als "Gottesnarr" ja auch heilig ist) beschützen, bittet ihn sogar darum, für ihn, den Zaren, zu beten. Der Narr weigert sich, weil er nicht für einen "Herodes" beten könne. Anschließend die Klage über das Unglück Rußlands (in M. I vor der Sterbeszene, in M. II ganz am Schluß).


    Bei Fedoseyev, der sich an M. II hält, muß die Begegnung entfallen; Semkow findet einen Kompromiß, indem er in der Schlußszene die Verfolgung und Beraubung des Narren durch die Jungen zwar wegläßt (dafür bringt er die komplette Szene vor der Kathedrale, M. I), aber ihn dann doch ganz am Ende das Unglück des russischen Volks beweinen läßt.


    Kein geringes Dilemma für den Interpreten, wenn ihm (wie mir) das eindrucksvolle und dramaturgisch bedeutsame Aufeinandertreffen des Narren mit dem Zaren wichtig ist. Semkows Mischung der beiden Fassungen hat daher auch ihre Vorzüge.


    Überhaupt ist dieser Gottesnarr diejenige Gestalt in der Oper, die mich ganz besonders berührt. Dessen Schlußklage mit dem dann irgendwie ratlosen Auslaufen des Orchesters (weiß nicht, wie ich es treffender sagen könnte) - das einsame Fagott am Ende (bei Rimsky-Korsakow ist es, glaube ich, ein Cello, was die Sache deutlich mildert und in sanftem Licht erscheinen läßt [Wagners Einfluß?], bei Mussorgsky bleibt es gänzlich unversöhnt) - gehört für mich ohnehin zu den ergreifendesten Opernschlüssen, die ich kenne.

  • Lieber Keith,
    oh weh, ich kenne die Lyrica-Edition nicht. Ich kenne die alte Melodija-Schallplatte und eine Wiederveröffentlichung auf einem Label, dessen Name mir entfallen ist - ich verschenkte sie, als die Preiser-Edition herauskam. Es sind also je nach Nachbearbeitung ziemliche Unterschiede in der Klangqualität möglich. Meine Preiser hat ein gutes, halbwegs mit Räumlichkeit gesegnetes Klangbild mit Schwächen bei lauten hohen Tönen, die entweder etwas dumpf oder eindeutig übersteuert sind; ebenso sind die Tiefen in größerer Lautstärke ein wenig dumpf. Die Krönungsszene klingt dennoch ziemlich hell und klar. Bei den Singstimmen sind S- und Zischlaute deutlich unterscheidbar.
    :hello:

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  • Lieber Gurnemanz,
    Du hast natürlich recht: An diesen notwendigen Kompromiß dachte ich zuerst nicht.
    Das ist das Problem mit dem Basilius-Bild: Es ist musikalisch eines der stärksten der gesamten Oper, aber wenn man es integriert, muß man ein anderes Bild dafür beschneiden. Deshalb plädiere ich so für den Gergiew: Man hat beide Fassungen fein säuberlich getrennt und komplett.
    :hello:

    ...

  • Auf den Opernbühnen ist der Trend zum Ur-Boris von 1869 ungebrochen: ich kann mich täuschen, aber fast die Hälfte der Neuinszenierungen in den letzten 10-15 Jahren dürfte die 1869er-"Ur"-Fassung bevorzugt haben, den Rest teilen sich die 1872er-"Original"Fassung und irgendwelche Mischfassungen aus "Ur" und "Original". Ob der Rimsky-Boris außerhalb des Moskauer Bolschoi-Theaters noch irgendwo gespielt wird, weiß ich nicht.


    Für den 1869er-Boris spricht neben dem Basilius-Kathedralenbild seine ungeheuer konzise Form, auch sparen die Opernhäuser gleich eine Sängerin für den Polenakt ein, bei dem man sich streiten kann, ob er eine Bereicherung bedeutet. Trotzdem vermisse ich sehr das abschließende Revolutionsbild. Und die Klage des Gottesnarren - da stimme ich Gurnemanz zu - ist ganz am Ende der Oper am richtigen Platz.



    Viele Grüße


    Bernd

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