Die Bachkantate (002): BWV61: Nun komm, der Heiden Heiland I

  • BWV 61: Nun komm, der Heiden Heiland


    Kantate zum ersten Adventssonntag (1714 - Weimar)


    Lesungen:
    Epistel: Röm. 13,11-14 (Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber herbei gekommen)
    Evangelium: Matt. 21,1-9 (Jesu Einzug in Jerusalem)


    Libretto:
    Satz 2,3,5: Erdmann Neumeister (1714)
    Satz 1: Martin Luther (1524) (Nun komm, der Heiden Heiland / -> Hymnus: Veni redemptor genitum)
    Satz 4: Offenbarung 3,20
    Satz 6: Philipp Nicolai (1599) (-> Wie schön leuchtet der Morgenstern)


    sechs Sätze, Dauer: ca. 15 Minuten
    (vokale) Besetzung: Sopran, Tenor, Baß + vierstimmiger Chor



    Eigentlich war Bach in Weimar ja nur als Konzertmeister und Organist angestellt. Da der Kapellmeister Drese (der somit in etwa das Amt des Hof-Kantors innehatte) kränkelte, wurde Bach gebeten, ihn zu entlasten und alle vier Wochen eine Kantate zu komponieren.


    BWV 61 ist kurz aber hat es in sich. Der Eingangssatz arbeitet unüberhörbar mit den Stilmitteln der "französischen Ouvertüre". Wir werden noch in einigen anderen Kantaten interessante Gattungsüberschneidungen dieser Art erleben. Alfred Dürr schreibt diesbezüglich eine interessante Deutung: "Der Eingangssatz ist eine feinsinnige Kombination von Choralbearbeitung und französischer Ouvertüre: Die Ouvertüre eröffnet das Kirchenjahr; zugleich ist sie in der französischen Oper dasjenige Musikstück, zu welchem der König seine Loge zu betreten pflegte. Auch in dieser Kantate aber gilt es einen einziehenden König zu begrüssen. Die Grundform der Ouvertüre, langsam - schnell (Fuge) - langsam, ist mit dem vierzeiligen Luther-Choral so kombiniert, daß die ersten beiden Zeilen auf den langsamen Eröffnungsteil und je eine Zeile auf die beiden folgenden teile entfallen...."
    Der zweite Satz geht von einem secco-Rezitativ in ein Arioso über, in Satz drei folgt eine Tenorarie, die zusammen mit der Tenorarie aus BWV 62 meiner Meinung nach eine der schönsten Bachs ist.
    Eines der bemerkenswertesten Rezitative Bachs nimmt in Satz vier seinen kurzen Lauf: Die "vox christi" (Baß) klopft mit lautmalerischer Begleitung an die Tür des Christen.
    Die Sopranarie wird erstaunlicherweise nur von der Continuo-Gruppe begleitet und ist von zurückgenommener, innerlicher Natur.
    Der Schlußchor wurde vom Librettisten Neumeister verstümmelt! Er streicht den Beginn des Chorals "Wie schön leuchtet der Morgenstern" und verwendet nur den "Agesang" des Chroals, der nach dem dreiteiligen Schema "Stollen, Stollen, Abgesang" gebaut ist.

  • Na dann will ich mal die Aufnahmen-Diskussion eröffnen. In meinen Beständen finden sich: Leusink, Herreweghe, Gardiner und Koopman. Bzw. deren Aufnahmen von BWV61. ;)


    Zuerst Leusink.
    Solisten: Holton, Schoch und Ramselaar


    Nachdem mir schon Leusinks BWV140 nicht zugesagt hat, fällt diese Aufnahme auch diesmal gegenüber den anderen dreien deutlich ab. Der Knabenchor kann einfach nicht mit den professionellen Ensembles der anderen mithalten. Sowohl der Klang als auch die Linienausgestaltung lassen sehr zu wünschen übrig. Sehr unangenehm klingt der durch erwachsene Sänger verstärkte Alt, was besonders in den einzelnen Einsätzen im Eröffnungsstück herauszuhören ist.


    Dieser Eingangssatz hat ganz klar den Charakter französischer Musik, TB hat darauf hingewiesen. Wer sich damit schon ein wenig beschäftigt hat, der wird das sofort erkennen. Ein Charakteristikum in der französischen Barockmusik sind ganz bestimmte Triller. Beispielsweise auf die Silbe Hei- von Heiland in den einzelnen Choreinsätzen gehört unbedingt einer hin. Bei Leusink fehlt er aber - ich nehme an, dass nicht alle Chorstimmen technisch dazu in der Lage waren und deshalb bei allen Stimmen darauf verzichtet wurde.


    Nächster Schwachpunkt kommt gleich nach dem Eingangschor: das Tenorrezitiativ. Ich hatte immer wieder den Eindruck, dass der Solist zu tief ist. Es ist meist nicht sehr viel und es fällt oft nur dadurch auf, dass er irgendwie matt klingt. Ich habe im folgenden Text die Silben markiert, bei denen das der Fall ist:


    Der Heiland ist gekommen,
    Hat unser armes Fleisch und Blut
    An sich genommen
    Und nimmet uns zu Blutsverwandten an.
    O allerhöchstes Gut,
    Was hast du nicht an uns getan?
    Was tust du nicht
    Noch täglich an den Deinen?
    Du kömmst und lässt dein Licht
    Mit vollem Segen scheinen.


    Zudem verschwindet seine Stimme in der tieferen Lage fast ins Nichts. Ähnlich geht´s in der folgenden Arie weiter, wobei die aber intonatorisch deutlich besser ist. Die Begleitung durch das Orchester gefällt dagegen durchaus.


    Das folgende Rezitativ mit dem Klopfmotiv ist mir zu schnell. Es verliert dadurch immens, denn der Pizzicato-Klang der Orchesters und vor allem die Stimme des Baßsolisten sind sehr schön. Gut gefällt mir auch die Sopranarie, die den innigen Charakter sehr schön transportiert, obwohl Leusink auch damit der schnellste unter meinen vier Versionen ist.


    -----------------------


    Nun zu Gardiner.
    Solisten: Argenta, Rolfe-Johnson, Bär


    Er nimmt den langsamen Teil des Eingangschor sehr massiv, mit sehr schweren Betonungen, es ist geradezu aggressiv. Man kann die Sänger regelrecht vor sich sehen mit ihrem zur Faust geballten Gesichtern. Mir ist das zuviel Energie - es fehlt das tänzerisch elegante, was der französischen Musik eigen ist. Gardiner verzichtet als Auskenner im französischen Repertoire natürlich nicht auf die Triller.


    Die folgenden beiden Stücke für den Tenor gefallen mir wirklich gut. Sehr schön, wie sanglich die Geigen den Sänger in der Arie begleiten.


    Grandios dann das Klopfrezitativ. Man kann die Erwartung und die Hoffnung, dass die Menschen ihre Türen (und Herzen) auftun, geradezu mit Händen greifen.


    Die Sopranarie ist dann nicht so flehentlich wie bei Leusink, sie strahlt eher die Vorfreude auf das nahende Kommen des Heilandes aus.


    Der Schlußchoral beginnt dann mit den Amenrufen wieder so massiv wie der Eingangschor. Danach nimmt Gardiner das Ensemble deutlich zurück um bis zum Ende das Ganze wieder zu steigern. Mir gefällt das sehr gut, vor allem weil man die zu den Worten "Komm, du schöne Freudenkrone" die vielen Bewegungen des Orchesters sehr schön durchhören kann.


    -------------------


    Nummer drei ist Koopman.
    Solisten: Schlick, Prégardien und Mertens
    Koopman läßt nicht wie bei den meisten anderen HIP-Aufnahmen mit einem Stimmton von 415Hz spielen sondern einen ganzen Ton höher in 465Hz, dem sog. Chorton. Im booklet erklärt er, dass dieser Stimmton in Leipzig üblich gewesen sei.


    Auch er verzichtet nicht auf den Triller. Das Tempo ist deutlich gemessener und die langen Noten im Orchester werden viel besser belebt als bei Gardiner. Auch trifft er den französischen Ton IMO besser als Gardiner. Und der Chorklang gefällt mir auch besser als bei Gardiner. Er ist nicht so forciert und er ist irgendwie freier.


    Tenorrezitativ und -arie sind wieder sehr schön, sehr ähnlich zu Gardiners Interpretation, obwohl die Arie hier deutlich schneller ist. Mir gefällt das etwas gemesserene Tempo allerdings besser. Der Solist bei Koopman hat´s offenbar eilig, dass Jesu endlich kommt.


    Bei Koopman ist das Klopfen eher ein zaghaftes Anhauchen der Tür als ein Anklopfen. Auch wünschte ich mir hier einen Solisten, der mehr nach Baß klingt als das bei Mertens der Fall ist. Er kriegt das auch nicht so salbungsvoll hin wie der Solist bei Gardiner.


    Nächster Schwachpunkt ist die Sopranarie. Barbara Schlicks Stimme ist Geschmackssache - meinen Geschmack entspricht sie nicht. Sie klingt schrill und unangenehm in der Höhe und eben dort werden alle Vokale zu A (Bsp. Jasas statt Jesus). Koopman ist deutlich langsamer als Gardiner und damit meiner Meinung nach eine Spur zu träge.


    Der Schlußchoral ist dann wieder so kultiviert wie der Anfang. Die Violinenstimme, die bei Gardiner noch von allen Orchestergeigen gespielt wird und damit gut gegen den massiven Chor bestand hat, wird bei Koopman von einer einsamen Geige gespielt, die etwas verloren wirkt. Aber dieser Effekt ist auch nicht ohne Reiz.


    ----------------------


    Schließlich Herreweghe.
    Solisten: Rubens, Prégardien und Kooy


    Auch hier findet der Triller natürlich statt. Er wird sogar geradezu zelebriert. Ausgesprochen gut gefällt mir auch der Fugenteil. Endlich mal ist er durchsichtig musiziert, das bietet Koopman in Ansätzen, Gardiner gar nicht und bei Leusink ist dieser Teil nur latschert.


    Pregardien, der die Tenorpartie ja auch bei Koopman singt, gefällt mir hier im Rezitativ noch etwas besser, weil Herreweghe ihm etwas mehr Zeit zur Ausgestaltung gibt. Die folgende Arie ist zwar ähnlich schnell wie bei Koopman, gefällt mir hier aber besser, weil die Geigen wesentlich leichtfüßiger spielen.


    Im Klopfrezitativ erreicht Herreweghe fast die Intensität Gardiners. Mir persönlich gefällt auch die Stimme von Kooy besser als die von Bär.


    Die Sopranarie ähnelt sehr der Version von Gardiner. Auch ist sie freudig erwartungsvoll. Die Rubens kling etwas weniger knabenartig als ihr Pendant bei Gardiner. Aber beide machen ihre Sache toll.


    Die Kantate schließt mit freudig erregten Amenrufen und der wunderbar durchsichtig musizierten Aufforderung "Komm, du schöne Freudenkrone, bleib nicht lange!"


    -----------------------------


    Fazit für mich: Herreweghe hat die beste Einspielung der vier im Vergleich vorgelegt und wird nur in einigen Details von den anderen übertroffen (das Klopfen bei Gardiner, der französische Gestus des Eingangssatzes, aber nur im Orchester bei Koopman). Dann folgen Koopman, Gardiner und abgeschlagen Leusink.



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Wie geschaffen zum Auftritt eines Herrschers
    oder
    Prinz Charles lässt grüßen


    Als am 9. April 2005 kurz vor 15 Uhr der britische Thronfolger Charles, His Royal Highness The Prince of Wales, und Camilla Parker Bowles, seit zwei Stunden The Duchess of Cornwall, in der St. George’s Chapel von Windsor Castle sich nun auch kirchlich das Ja-Wort gaben, erklang dazu eine ihrer Lieblingsmusiken: „Nun komm der Heiden Heiland“, BWV 61, der 1. Satz.


    Es ist eine Musik, wie geschaffen zum Auftritt eines Herrschers. ThomasBernhardt hat in seinen den Thread einleitenden Worten bereits (und mit dem gleichen Zitat) darauf hingewiesen. Ich wiederhole es hier, weil es tatsächlich der Schlüssel zu einem Aspekt dieser Kantate ist: In dem Eingangssatz hat Bach geschickt eine Choralbearbeitung als Französische Ouvertüre gestaltet. „Die Ouvertüre eröffnet das Kirchenjahr; zugleich ist sie in der französischen Oper dasjenige Musikstück, während dessen der König seine Loge zu betreten pflegt. Auch in dieser Kantate gilt es aber, einen einziehenden König zu begrüßen“ erläutert es Alfred Dürr in seinem Standardwerk über die Bachkantaten.


    In der Himmelsburg


    Als Bach diese Kantate das erste Mal aufführt, am 2. Dezember 1714 in der Schlosskirche von Weimar, erklingt sie ebenfalls vor erlauchten Ohren. Bach begrüßt mit seiner französischen Ouvertüre nämlich nicht nur „der Heiden Heiland“, sondern auch einen irdischen Herrscher. Es ist ein ganz besonderes Exemplar, ein starrsinniger Machtmensch und bigotter Frömmler, zugleich aber auch ein verantwortungsvoller Landesvater und für Bach ein wichtiger Förderer: Herzog Wilhelm Ernst, der regierende Fürst von Sachsen-Weimar, Bachs Dienstherr. Der hatte neun Monate zuvor den 28-Jährigen zum Hofkonzertmeister befördert – ein Titel, den es vorher gar nicht gab. Verbunden war das erstens mit noch mehr Geld (was Bach am wichtigsten war, aber auch vorher wurde er bereits fürstlich bezahlt) und zweitens mit der Aufgabe, eine der monatlich vier Kantaten zu schreiben. Dass der Herzog den berühmten Musikus, auf den er doch so stolz ist, später einsperren wird, darauf kommen wir im Lauf dieses Jahres sicher noch bei der einen oder anderen Kantate zurück.


    Himmlisch, und sicher noch eindrucksvoller als bei der Hochzeit von Charles und Camilla, muss die Kantate in der Weimarer Schlosskirche geklungen haben, die den Beinamen „Himmelsburg“ hatte. Die Klänge kamen für das wohledle Publikum – nur Adel und andere hochgestellte Persönlichkeiten hatten Zutritt zu den Gottesdiensten, es sei denn, der autoritäre Fürst befahl wieder einmal einigen Soldaten die Teilnahme, um sie anschließend über den Inhalt der Predigt zu examinieren – für die andächtigen Zuhörer also kam die Musik tatsächlich wie vom Himmel: in mehr als 20 Metern Höhe war eine Öffnung in die Decke der Kirche geschnitten, darüber wölbte sich eine Kuppel. Auch die Orgel befand sich dort oben. Am Geländer rings um die rechteckige Öffnung standen die Sänger und Musiker. Für Seine Hochfürstliche Durchlaucht unten in der Fürstenloge der Kirche wird es gewesen sein, als schwebten Klänge aus einer jenseitigen Welt auf ihn herab: „Öffne dich, mein ganzes Herze...“

    Veni redemptor gentium


    Die Nummer 1 im Evangelischen Kirchengesangbuch ist das Luther-Lied „Nun komm der Heiden Heiland“. Es ist das wahrscheinlich älteste Kirchenlied der Christenheit. Martin Luther hat 1524 den ambrosianischen Hymnus „Veni redemptor gentium“ verdeutscht – nicht ungeschickt verdeutscht, möchte ich hinzufügen, doch die literarische Qualität dessen, was Ambrosius im 4. Jahrhundert gedichtet hat, ist in Luthers Übertragung nur rudimentär spürbar. Die katholische Version (Gotteslob 108 ), eine Übertragung von 1971, ist allerdings noch schwammiger. Was im lateinischen Original des Ambrosius zum Beispiel „Non ex virili semine“ heißt, übersetzt etwa „Nicht aus eines Mannes Samen“, wird im katholischen Kirchenlied zu „Nicht nach eines Menschen Sinn“. Naja.


    Weil selbst Trierern, wenn man sie nach den berühmtesten Söhnen und Töchtern ihrer Stadt fragt, zuallererst Guildo Horn und dann vielleicht noch Karl Marx einfallen, will ich gerne erwähnen, dass Kirchenvater Ambrosius um das Jahr 339 als Sohn des römischen Statthalters in dieser ältesten Stadt Deutschlands geboren wurde. Dass er, später römischer Politiker und noch später Bischof von Mailand, als Heiliger oft mit einem Bienenkorb dargestellt wird, soll nicht nur Fleiß und Gelehrsamkeit symbolisieren. Es ist auch Erinnerung an eine Legende, nach der ein Schwarm Bienen über der Wiege des Kindes gekreist und, statt ihn zu stechen, Honig in seinen Mund geträuft haben soll; das habe ihm die honigsüße Sprache seiner Schriften und Hymnen verliehen. Ein Kirchenmosaik, allerdings 70 Jahre nach seinem Tod entstanden, zeigt einen schmalen, asketischen Kopf mit abstehenden Ohren und großen, staunend blickenden braunen Augen: ein Dichter und Denker.


    Dieser ambrosianische Hymnus „Veni redemptor gentium“ war in der Luther-Übersetzung jahrhundertelang das Hauptlied zur Adventszeit und prägt alle drei Adventskantaten Bachs. In BWV 61 ist die erste Strophe zur Ouvertüre umgewandelt, in BWV 62 sind erste und letzte Strophe des Luther-Liedes der Eingangs- und der Schluss-Choral, in BWV 36 sind gleich drei Strophen des Liedes verarbeitet.



    Einige Gedanken zum Inhalt der Kantate und den von mir bisher angehörten Interpretationen folgen in einem gesonderten Posting. Aber nicht mehr heute...


    Alfons

  • Hallo,


    das von Euch schon so hervorgehobene "Klopf-Rezitativ" ist auch eines meiner liebsten Rezitative von Bach überhaupt:


    Fantastisch, wie er hier durch raffiniert angebrachte Kleinigkeiten (wie das gezupfte Streicher-Continuo) diese intensive Stimmung und sinnfällige Textausdeutung erreicht! Ein Meisterwerk in nur ganz wenigen Takten - aber hier wird die gesamte theologische Bedeutung der Adventszeit für jeden "klein aber fein" eindringlich und nachvollziehbar zusammengefasst und auf den Punkt gebracht :jubel:


    Ich habe gestern die schon erwähnte Gardiner-Aufnahme mit der Richter-Einspielung aus den Jahren 1970/ 71 (Solisten: Edith Mathis, Peter Schreier, Dietrich Fischer-Dieskau) verglichen und war überrascht, festzustellen, dass der ja eigentlich für seine expressive und deutliche Textvermittlung bekannte Fischer-Dieskau das "Klopf-Rezitativ" zwar auch sinnfällig gestaltet, von Olaf Bär in der Gardiner-Einspielung jedoch noch übertroffen wird!
    Bär setzt beispielsweise beim Wort "klopfe" dreimal komplett ab ("und klo- -o- -opfe an...") - imitiert quasi das Pizzicato der begleitenden Streicher, während FiDi hier zwar die Akzente setzt, insgesamt die Gesangslinie aber "durchzieht".


    Ansonsten wählt Gardiner (erwartungsgemäß?) durchweg raschere Tempi bei seiner Interpretation der Kantate, was ich in diesem Fall ganz angebracht finde.
    Dafür hat Richter natürlich den Vorteil der idiomatisch sichereren SängerInnen, obwohl ich sagen muss, dass ich Anthony Rolfe Johnsons Tenor-Arie mit der von ihm gesungenen Textstelle "... und gib ein selisch neues Jahr" als Rheinländer schon sehr charmant finde ;)


    Überhaupt: Hochachtung vor allen (nicht deutschsprachigen) Solisten, die -gerade bei Gardiner- wirklich sehr intensiv an der korrekten deutschen Aussprache gearbeitet haben müssen!


    P. S.: Ich meine, mich erinnern zu können, dass auch Richter im Eingangschor auf den erwähnten Triller beim Wort "Heiland" verzichtet. Ich glaube, es lässt die Soprane nur einen kurzen Vorhalt singen.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Hallo, liebe Bachfreunde,


    die vorliegende Kantate gehört seit Jahrzehnten zu meinen Lieblingskantaten und kann mich immer wieder neu für sie begeistern.


    In diesem Beitrag möchte ich mich auf den Eingangschor der Kantate beschränken.


    BWV 61 Ouverture (Coro) „Nun komm der Heiden Heiland“


    Oberflächlich betrachtet wagte es Bach mit diesem Eingangschor, die damals sonst übliche und gewünschte Trennung von Opern- und Kirchenmusik recht großzügig auszulegen.
    Er beginnt mit einer französischen Ouvertüre, die ja z.B. bei Lully den Auftakt für eine Opernaufführung bildete. Und das ganze kombinierte er dann auch noch mit dem alten, eher meditativen Choralhymnus „Nun komm, der Heiden Heiland“, einer Melodie, die alte Meister wie Eccard oder Schein zu tiefsinnigen ( und wunderbaren!) Chorsätzen inspirierte.
    Bei genauerem Hinsehen wird aber schnell klar, dass es ihm nicht darum ging, sozusagen mit Gewalt einer vokalen Choralbearbeitung irgendeine instrumentale Opernmusik zu unterlegen.


    Der Grund für dieses eher ungewöhnliche Stilmittel ist theologisch leicht zu erklären:
    Mit dem erwarteten Erlöser kommt nicht nur ein kleines Baby eines bescheidenen Ehepaares, dem „Gott solch ( ärmliche) Geburt....bestellt“ hat, sondern auch derjenige, der in Händels Messias als „King of Kings, and Lord of Lords“ besungen wird.
    Thomas Bernhard hat in seinem Dürr-Zitat schon auf diese Zusammenhänge hingewiesen.


    Einige mir aufgefallene Besonderheiten dieses Satzes möchte ich nun erwähnen:


    Bevor der Chorsopran die Choralmelodie intoniert, wird diese bereits im Continuo in den Takten 1-3 ( nur erster Ton von Takt3) bis auf eine - vielleicht nur stilistisch bedingte- Sechzehntel-Umspielung nahezu unverändert vorgetragen
    Bevor also der erste Vokalton erklingt, ist der unvoreingenommene Hörer auf die Choralmelodie bereits eingestimmt worden; wenigstens unterbewusst, denn einem nicht an Polyphonie gewöhnten Hörer werden solche Dinge wahrscheinlich erst durch das Notenbild auffallen.


    Danach wird der erste Teil des Chorals viermal durch die Chorsänger vorgetragen, und zwar zunächst nur vom Sopran (Takt 4) , dann vom Alt (Takt 9), dann vom Tenor ( Takt 16) und zum Schluss vom Bass ( Takt 21 ).
    Warum tritt der Text hier eigentlich auf der Stelle? Die Textstelle „der Jungfrauen Kind erkannt“ wirst erst in Takt 28 gesungen, dann aber vierstimmig und nur einmal.
    Die erste Textzeile muss Bach für diesen Eingangschor also besonders wichtig gewesen sein.
    Es gibt hier sicher verschiedene Auslegungen.
    Mich interessieren vor allem jene Deutungsversuche, die auf die Interpretation direkten Einfluss haben können.


    Mein Erklärungsversuch sieht so aus:
    Unter dem „Heiden Heiland “, stelle ich mir eine sehr demütige, friedfertige und vor allem nicht machthungrige Person vor. Es ist derjenige, der demütig und willig genug ist, auf die Erde zu kommen, um sein Leben für die Errettung der ganzen (ablehnenden) Welt ( also der „Heiden“) hinzugeben.
    Der melodische Charakter ( weich, meditativ, irgendwie nach „Kreuz“ klingend) des alten Hymnus passt für mich genau zu dieser Charakterisierung.
    Die Orchesterbegleitung dieser Bachkantate spielt aber eine französische Ouvertüre, die ich hier einmal als Musik gewordenes Machtsymbol bezeichnen möchte.
    Über dieser Begleitung erheben sich die gesungenen Töne des Chorals wie mächtige Brückenpfeiler. Es sind Halbe-Noten denen es an rhythmischer Klarheit und Eindeutigkeit nicht fehlt. Das textliche Statement der ersten Zeile wird unmissverständlich, wie in Stein gemeißelt ausgerufen, wobei Bach wohl das Wort „Heiland“ besonders wichtig war, da er auf der ersten Silbe dieses Wortes immer einen Triller gesetzt hat, dem zwei hinweisende Aufgangsnoten ( auftaktik und punktiert) vorausgehen.
    Es könnte sein, dass die Reihenfolge Sopran/Alt/Tenor/Bass, bzw. auch die fallenden Quarten/Quinten der tonalen Zentren a-moll, e-moll, a-moll, e-moll ein auskomponierter Hinweis auf den Abstieg des aus dem Himmelreich kommenden Gottessohnes auf die Erde ist.


    Aus meiner Sicht lässt Bach eigentlich jede Chorstimme extra sagen, bzw. musikalisch predigen:


    „Nun kommt der Heiden Heiland, d.h. er ist zwar schon gekommen, aber er steht gerade heute vor dem Leben des Kantatenhörers. Der da kommt ist zwar ein demütiger ( der Abstieg von oben= Sopran nach unten= Bass) Heiland, aber er ist auch gleichzeitig der Herr, der König der Welt ( die Orchesterouvertüre und die markigen Choralnoten) Vergiss das bloß nicht, lieber Kantatenhörer! Präg es Dir ein ! Das Weihnachtswunder ist ein riesiges Paradoxum!“


    Erst nachdem dieser Inhalt auch dem letzten klargeworden sein muss, geht es im Text weiter.
    Bei „ der Jungfrauen Kind erkannt“ ( Takt 28 ) erzeugt die plötzliche Vierstimmigkeit einen besonders mächtigen Eindruck, bei gelungenen Aufführungen kann es eine Gänsehautstelle werden.
    Durch die Harmonik entsteht ein mächtiger, nahezu aufbrausender Eindruck. Die Töne von Takt 28 drängen auf den im Bass vorkommenden Quartvorhalt von E7/4 mit a im Bass (Takt 29) hin.
    Ist es nicht wirklich bewusst paradox, dass sich diese machtvolle Musik zu einem Text mit Worten wie "Jungfrau" oder "Kind" abspielt?
    Ich meine schon.


    Es folgt der B-Teil der französischen Ouvertüre, ein etwas tänzerisch-bewegtes Fugato im ¾-Takt zum Text „ des sich wundert alle Welt“.
    Die im A-Teil vorgestellte Reihenfolge S A T B der Choreinsätze wird auch hier wohl nicht gerade zufällig beibehalten.
    Aus meiner Sicht greift die umspielte Choralmelodie stilistisch recht deutlich auf Menuet-Floskeln zurück.
    Soll das etwa eine versteckte Anspielung auf „die Welt“ bei Hofe sein, gar auf den Herzog Wilhelm Ernst?
    Vielleicht wollte Bach im Zusammenhang der gesamten Kantate versteckt fragen:


    „Willst du dich, lieber Herzog, auch nur wie „die Welt“ wundern und weiter deine höfische Tanzkultur pflegen, oder willst du diesem wahren Herrscher so „dein Herze“ öffnen, wie es der Sopran später eindringlich„vormacht“. Schliesslich ist auch ein Herzog nichts als nur „Staub und Erde“...“


    Interessant ist auch, dass Bach in diesem B-Teil keine eigene Orchesterbegleitung komponiert hat. Die Orchesterinstrumente unterstützen fast ausnahmslos nur colla-parte die Chorsänger, was an die Aufführungspraxis für Bachs Motetten, oder auch an die noch viel älteren Chorwerke vorangegangener Komponisten ( z.B. H. Schütz) erinnern mag.
    Das sich wirklich alle Welt über den Heiland der Heiden wundert, scheint Bach besonders wichtig gewesen zu sein, was durch die Melismen auf dem Wort „Alle“ deutlich wird.
    Ab Takt 50 wird diese besonders ausgedehnt, und die Harmonik moduliert etwas „über fremde Dörfer“ wie man unter Musikern manchmal sagt. Hierdurch wird wohl betont, dass sich wirklich alle Welt wundert, auch die „fremden Ländern und Menschen“ ;).
    In den beiden Schlusstakten des B-Teils wird das Wort „alle“ auch dadurch hervorgehoben, dass der Chor singt: „des sich wundert, alle, alle Welt“ .
    Die Wiederholung eines wichtigen Wortes ist ein klassischer Kunstgriff in der Redekunst.
    Auf die Verbindung zwischen Rhetorik und Musik kann bei Bachs Kompositionen nicht genug hingewiesen werden.
    Übrigens gibt es diesen rhetorischen Kunstgriff auch schon bei Heinrich Schützens Vertonung von Johannes 3.16 zu hören: SWV 380 "...auf dass alle, ( Pause) alle, alle, alle...."


    Zurück zu Bach.
    Im C-Teil wird der machtvolle Tonfall des A-Teils wieder aufgegriffen.
    Die Musik wird aber klar und ohne Umschweife mit der vierstimmigen Choralzeile „ Gott solch Geburt ihm bestellt“ zum Schluss geführt, der für mich wie ein großes Ausrufezeichen klingt.


    Analyse und Interpretation gehören für mich zusammen, da eine reine Formanalyse die wichtige Frage nach dem „Warum“ ausklammert. Die formale Analyse ist für mich als Musiker höchstens zu 50% interessant, wenn überhaupt.
    Gerade von der Beantwortung der „Warum-Frage“ kann der Bachinterpret jedoch sinnvolle und im Ergebnis hoffentlich überzeugende Entscheidungsgrundlagen für seine musikalische Deutung des Werkes erhalten.
    Das Risiko des Irrtums muss man bei dieser interpretierenden Analyse natürlich eingehen.
    Doch nicht nur der Interpret, sondern auch der Hörer bekommt ein Mittel in die Hand, seinen Geschmack zu bilden, sein Ohr zu schärfen und Live-Aufführungen sowie Tonkonserven mit wacherem Ohr beurteilen zu können.
    Im vorliegenden Fall wird mir wahrscheinlich die Aufnahme am besten gefallen, bei der ich am meisten von meiner eigenen oben beschriebenen Deutung wiederhöre.


    Hierzu jedoch (hoffentlich) mehr in einem späteren Beitrag.


    Gruss :hello:
    Glockenton


    PS.: Danke an alfons für die hochinteressanten Hintergrundinformationen!

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Original von Glockenton
    PS.: Danke an alfons für die hochinteressanten Hintergrundinformationen!


    Danke zurück!
    Ich lese gerade mit großem Genuss deine lehrreiche Interpretation des 1. Satzes, die weit mehr in die Tiefe geht, als ich das bisher beim Nachdenken über diese Kantate auch nur versucht habe.


    So ist mir erst durch deine Analyse klar geworden, wie genau Bach bereits hier, im 1. Satz, den Gegensatz zwischen weltlicher und himmlischer Macht thematisiert. Deine Vorstellung


    Zitat

    Unter dem „Heiden Heiland “, stelle ich mir eine sehr demütige, friedfertige und vor allem nicht machthungrige Person vor. Es ist derjenige, der demütig und willig genug ist, auf die Erde zu kommen, um sein Leben für die Errettung der ganzen (ablehnenden) Welt ( also der „Heiden“) hinzugeben.


    bezeichnet genau den Gegensatz, den Bach in dieser Kantate aufscheinen lässt. Mir war das erst an dem Gegensatz-Paar Tenor-Arie Nr.3 und Bass-Rezitativ Nr.4 klar geworden, in dem die Vorstellungen der Menschen, was Jesus jetzt bitte alles zu erledigen habe, auf das friedfertige Angebot des Erlösers treffen (ich habe gestern Abend angefangen, meine Ideen dazu aufzuschreiben, mal sehen, ob ich heute damit fertig werde).


    Einer deiner Überlegungen möchte ich allerdings widersprechen. Dieser hier:


    Zitat

    Aus meiner Sicht greift die umspielte Choralmelodie stilistisch recht deutlich auf Menuet-Floskeln zurück.
    Soll das etwa eine versteckte Anspielung auf „die Welt“ bei Hofe sein, gar auf den Herzog Wilhelm Ernst?
    Vielleicht wollte Bach im Zusammenhang der gesamten Kantate versteckt fragen:


    „Willst du dich, lieber Herzog, auch nur wie „die Welt“ wundern und weiter deine höfische Tanzkultur pflegen, oder willst du diesem wahren Herrscher so „dein Herze“ öffnen, wie es der Sopran später eindringlich„vormacht“. Schliesslich ist auch ein Herzog nichts als nur „Staub und Erde“...“


    Das ist eine schöne Idee, kollidiert allerdings mit der historischen Realität (soweit wir heute davon wissen). Herzog Wilhelm Ernst war niemand, dem die höfische Tanzkultur am Herzen lag, man könnte ihn eher als moralinsauer, herrschsüchtig und von allerstrengster Frömmigkeit beschreiben - in Weimar wurden zu seiner Zeit abends um 8 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt. Wenn Bach jemandem ins Gewissen reden wollte, dann eher dem Mitregenten Ernst August. Aber das ist wenig wahrscheinlich, denn in dem Dauerstreit zwischen dem drögen Wilhelm Ernst und seinem den Künsten deutlich mehr zugetanem Neffen Ernst August stand Bach mit großer Wahrscheinlichkeit auf der Seite des Jüngeren.


    Aber davon abgesehen finde ich deine Deutungen sehr zutreffend und lehrreich, und ich freue mich auf mehr.


    Alfons

  • Siehe, ich stehe vor der Tür


    Die erste Strophe aus dem altehrwürdigen Adventslied „Nun komm der Heiden Heiland“ und ein Vers aus der letzten Strophe von Philipp Nicolais „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ geben in der Kantate BWV 61 den Rahmen für eine musikalische Adventspredigt. Heute würde man das Thema flott so formulieren: „Advent heißt Ankunft. Jesus kommt – aber kommt er auch bei dir an?“ Erdmann Neumeister, der konservative Pfarrer und Kantatendichter, hat im Text zu BWV 61 den Raum zwischen den beiden Liedstrophen mit diesem „predigtartigen Gedanken“ (Dürr) gefüllt.


    Das in der Ouvertüre so eindringlich benannte Staunen, dass Gott Mensch werden will, führt der Tenor im 2. Satz weiter aus. Er fragt – eine rhetorische Frage – was dieser Heiland denn nun für die Seinen tue? Mit einer zu Herzen gehenden Basso-Figur leitet sein Rezitativ in ein Arioso über, so als sei die Antwort zu groß, zu wichtig, als dass sie ein Rezitativ noch fassen könne. Glückliches Staunen: „Du kommst und lässt dein Licht mit vollem Segen scheinen“.


    Schroffer Wechsel zur Tenorarie (Nr. 3). Jesus wird in ziemlich bestimmtem Ton gebeten, zum Jahresbeginn – dem Kirchenjahresbeginn, wir haben ja den 1. Advent – zu „seiner Kirche“, der protestantischen selbstverständlich, zu kommen und dafür zu sorgen, dass sich die „gesunde Lehre“ erhalte. Der Hintergrund dieser Bitte um „gesunde Lehre“ scheint mir die damalige Auseinandersetzung zwischen Pietisten und Traditionalisten zu sein; Bach übrigens war stets bemüht, sich da raus zu halten.


    Wieder ein Wechsel. Und welche Dramatik! Gerade ist Jesus gebeten worden, zu kommen und zu segnen, nun erscheint er und spricht selber. Aber nicht als der erbetene strahlend Ordnung schaffende Heilsbringer, nein! Sondern als Bittender, der das Heil nur jenen bringt, die sich für ihn öffnen. „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.“ Das schlichte Bibelzitat (Offenbarung 3 Vers 20) wird durch Bachs Genie zu einem expressiven Kunstwerk auf kleinstem Raum. Gezupfte Streicherakkorde machen das Klopfen hörbar. Nur zehn Takte hat dieses Rezitativ und ist doch der Kern und Höhepunkt der Kantate. Wie Bach hier das Bild eines gütigen und zugleich majestätischen Himmelsherrscher zeichnet, der vor der Tür des Herzens steht und um Einlass bittet – mir fehlen da die Adjektive, die Genialität zu würdigen.


    Ich will gleich hier erwähnen, dass mich unter meinen fünf Aufnahmen bei diesem Rezitativ nur eine wirklich begeistert. Das ist die von Fritz Werner mit Erich Wenk als Bass. Schade, dass ich nicht die Aufnahme von Karl Richter habe, in der Dietrich Fischer-Dieskau singt. Seine Kunst, jedem Wort das ihm zukommende Gewicht und die ihm passende Klangfarbe zu geben, müsste dieses Rezitativ zu etwas tief Beeindruckenden machen.


    In der Sopran-Arie folgt die Antwort auf Jesu Bitte: Ja. Zusammen mit dem Bass-Rezitativ ist diese Arie einer der vielen Dialoge zwischen Jesus (Bass) und Seele (Sopran) in den Kantaten Bachs. Mit der Besonderheit, dass diesmal die Seele quasi in einem Selbstgespräch ihr frommes Vertrauen ausbreitet. Die Begleitung lediglich vom Continuo betont noch den intimen Charakter – welch ein Gegensatz zur Tenor-Arie! Mit einem „Amen, amen!“, das sich zu adventlichem Jubel steigert, schließt das Werk.



    Die Interpretationen


    Hier möchte ich zuerst auf die Besprechung von salisburgensis weiter oben hinweisen. Eigentlich könnte ich es mir sparen, über die von ihm beschriebenen Aufnahmen hier noch etwas zu schreiben; ich bin, soweit ich die gleichen Einspielungen habe, völlig seiner Ansicht. Außer dass ich vielleicht mit Leusink nicht ganz so harsch umgehen würde – aber natürlich hat salisburgensis bei allem, was er in der Sache zu Leusinks Aufnahme schreibt, Recht. (Und einige seiner Formulierungen, besonders jene von den „zur Faust geballten Gesichtern“ sind so schön, dass ich sie demnächst bedenkenlos klauen werde).


    Ich kenne leider nur fünf Aufnahmen der Kantate BWV 61. Leider deshalb, weil diesmal beim intensiven Hören der Gedanke keimte: Das kann noch nicht alles sein! Jede dieser fünf ist auf ihre Weise großartig, und in jeder sind Stellen, die ich mit tiefer Ergriffenheit und großer Freude höre. Und doch...


    Alle bekannten Kantaten-Spezialisten haben BWV 61 eingespielt. Neben den fünf hier näher besprochenen gibt es Aufnahmen unter anderem von Karl Richter, Ton Koopman, Philippe Herreweghe, Masaaki Suzuki sowie eine DVD, die Nikolaus Harnoncourt mit dem Schönberg-Chor aufgenommen hat. Insgesamt werden im Internet 17 Aufnahmen dieser Kantate genannt.


    Ach, und eh ich’s vergesse: Die folgenden Beschreibungen sind selbstverständlich subjektiv und geben vor allem meine Eindrücke beim Hören wieder. Ich gehe davon aus, dass jeder Musikfreund diese und alle anderen Bachkantaten auf seine eigene Art hört und versteht.



    Werner
    Für den, der traditionelle Interpretationen bevorzugt, tut sich mit dieser Einspielung das Himmelreich auf. Die Aufnahme ist technisch ohne Tadel, hat hervorragende Solisten und ist stellenweise von einer derartigen Wucht, dass man, wenn man sie im Auto hört, besser nicht das Fenster runterdreht – es könnte den Fahrradfahrer, den man gerade überholt, von seinem Rad pusten.


    Für mich geradezu eine Offenbarung: Tenor Helmut Krebs in seinen beiden Sätzen, Rezitativ und Arie. Er singt wunderbar klar, eindringlich, ernsthaft, ohne jede Anstrengung. Er will nicht glänzen, er will dienen – das ist tief beeindruckend. Beeindruckend auch die massive Ausgestaltung des Bass-Rezitativs Nr. 4 „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“. Der Gesang von Erich Wenk ist grandios – herrscherlich und gütig zugleich. Die Pizzicato-Töne sind bei Fritz Werner so überdeutliche Klopfzeichen, dass sie mir wie Wassertropfen in einer Tropfsteinhöhle erscheinen, die langsam, einer nach dem anderen, auf den Boden klatschen, und wenn der Bass weiter sänge, würden Stalagmiten im Konzertsaal wachsen, ganz sicher.

    Orgel und Kontrabass begleiten als Continuo Friederike Sailer in der Sopran-Arie „Öffne dich, mein ganzes Herze“. Auch sie gibt nicht dem Drang nach, glänzen zu wollen. Jubelnd und zugleich mit großem Ernst geht die Kantate mit dem Choral zu Ende.


    Fritz Werner 1961, Ev. Kirche Ilsfeld
    Heinrich-Schütz-Chor Heilbronn, Pforzheimer Kammerorchester
    Friederike Sailer Sopran, Helmut Krebs Tenor, Erich Wenk Bass
    Länge 17.09 Minuten (3.48 / 1.29 / 5.27 / 1.15 / 3.59 / 1.11)



    Harnoncourt
    Musiker und Chor starten in die Ouvertüre, als würden sie nicht eine Kantate spielen, sondern das Holz für einen langen Winter hacken: „Nun! Komm! Der! Hei! de-hen! Hei! Land!“ Ich sehe fast die Scheite fliegen. Ganz sicher wird es dafür eine musiktheoretisch gültige, einleuchtende Begründung geben. Ich kenne sie nicht und genieße, so lange sich das noch nicht geändert hat, den Vorzug der Ignoranz, diese Art zu musizieren nicht mögen zu dürfen.


    Weiter oben hatte ich geschrieben, im 2. Satz, dem Tenor-Rezitativ, werde eine rhetorische Frage gestellt. Kurt Equiluz, der dieses Stück unerhört ausdrucksstark singt, stellt diese Frage wirklich fragend: „Was hast du nicht an uns getan?“ Da geht seine Stimme – kein anderer in meinen Aufnahmen singt das so – noch einmal nach oben, und man erwartet fast mit Herzklopfen die Antwort. Wunderbar. Und wo ich gerade beim Schwärmen bin: Wie Equiluz die folgende Tenorarie singt „Komm, Jesu, komm“ – mal lockend, mal bittend, mal fordernd, das ist große Kunst. Aber wie die Streicher diese Bitten begleiten – hinterfragend, soufflierend, vorwegnehmend, kommentierend – das ist noch darüber. Über das, was in dieser Arie bei Harnoncourt zwischen den Streichern und dem Tenor passiert, könnte Glockenton wahrscheinlich mindestens fünf Seiten schreiben. Ich beschränke mich da auf ein einziges Wort: genial.


    Zu den Pluspunkten dieser Aufnahme zählt auch das Bass-Rezitativ mit der leisen, aber eindringlichen Pizzicato-Begleitung. Kein Pluspunkt ist die Sopranarie „Öffne dich, mein ganzes Herze“. Seppi Kronwitter, der Jungensopran, klingt wie eine dieser modernen ständig atemlosen Popsängerinnen, die bewusst auf kindlich machen – ich grübele seit Tagen über den Namen nach. Nee, fällt mir nicht ein. Schlecht finde ich die Arie nicht wegen des stimmlichen Unvermögens des jungen Sängers – so unvermögend ist er nämlich gar nicht – sondern weil er die interpretatorischen Möglichkeiten der Arie nicht erkennt. Er ist froh, dass er sauber durchgekommen ist, nun gut. Aber reicht das? Nein.


    Beim Sichten von dem, was andere vor mir bereits über diese Arie geschrieben haben, bin ich auf einen Gedankengang gestoßen, der über diese Besprechung hinausführt. Ich hänge ihn deshalb unten an mein Posting an und nenne es „Das Seppi-Kronwitter-Argument“.


    Der 6. Satz, diese jubelnd bis zum dreigestrichenen G in den Violinen hinauf führende Begrüßung des Advents, gefällt mir recht gut. Nur die Tenöre, die im Hintergrund „pom-pom-pom-pom“ singen, stören mich etwas. Das wirkt auf mich wie ein schwuler a-capella-Chor.


    Nikolaus Harnoncourt 1976
    Tölzer Knabenchor, Concentus musicus Wien
    Seppi Kronwitter (Tölzer Knabenchor) Sopran, Kurt Equiluz Tenor, Ruud van der Meer Bass
    Länge 14.40 Minuten (3.42 / 1.34 / 3.59 / 1.04 / 3.24 / 0.57)



    Rilling
    „Meine Damen und Herren, Sie hören das Largo von Johann Sebastian Bach. Am Pult Helmuth Rilling.” Fast en passant setzt die Musik ein, der erste Ton kommt, als sei man bereits mitten im Stück. Langsam, fließend umfangen uns die Klänge. Wer die Harnoncourt-Aufnahme noch im Ohr hat, mag es kaum glauben. Die Ouvertüre ist aber kein Largo, und das langsame Tempo, das Rilling anschlägt, wirkt auf mich orientierungslos und lahm. Auch wenn es angenehmer in den Ohren ist als Harnoncourts Holzhacker-Ouvertüre.


    Dass Helmuth Rilling ein Cembalo als Continuo-Instrument einsetzt, stört mich in anderen Kantaten meist nicht. In dieser sehr. Das Märchenspiel-Geklimper von Martha Schuster lässt die Stimme von Adalbert Kraus im 2. Satz, dem Tenor-Rezitativ, überdreht und zu dramatisch wirken. Das setzt sich im dritten Satz fort. Die Ausführungen des Tenors, dessen Stimme ich sonst sehr mag, wirken hier ein wenig wie Show. Was bei Equiluz echt ist, erinnert hier an Talmi.


    Ganz besonders stört mich das Cembalo im 4. Satz, dem anklopfenden Bass-Rezitativ. Statt Streicher-Pizzicato gibt es hier Topfdeckelschlagen. Aber herrlich langsam gesungen!


    5. Satz, die Sopranarie. Oh nein, nicht schon wieder dieses Cembalo! Wie eine Spieluhr, Modell Weihnachtsglöckchen. Warum fällt mir dabei die Nussknackersuite ein? Nun, wie geht das alte Spruch – man muss es halt mögen, und wenn man’s mag, dann mag man’s, aber wenn man es nicht mag, dann mag man es schon gar nicht mögen. Helen Donath singt schön dazu.


    Helmuth Rilling Jan./Feb. 1974, Gedächtniskirche Stuttgart
    Gächinger Kantorei Stuttgart, Bach-Collegium Stuttgart
    Helen Donath Sopran, Adalbert Kraus Tenor, Philippe Huttenlocher Bass
    Länge 18.07 Minuten (4.42 / 1.31 / 5.00 / 1.07 / 4.42 / 1.05)



    Gardiner
    Schon an der Länge der Sätze lässt sich erkennen, wie ähnlich sich die musikalischen Auffassungen von Gardiner und Leusink sind. Auffallend bei John Eliot Gardiner ist das mächtige Continuo in der Ouvertüre, angesichts dieser Wucht wirkt der Chor schon blass. Den 2. Satz gestaltet Anthony Rolfe Johnson dezent, unaufdringlich. In der folgenden Arie wirkt er etwas pomadig. Dass er „und gib ein SEELISCH neues Jahr“ singt, wie bereits MarcCologne kritisch angemerkt hat, wird alle Psychiater im Publikum von Herzen freuen.


    Gardiner hat sicher genau überlegt, wie er das Anklopfen im Bass-Rezitativ gestaltet. Das Pizzicato kommt leise, der Gesang von Olaf Bär noch leiser, verschwörerisch. „Pssss! Ein Haustür-Angebot, ganz persönlich nur für Sie!“


    In der Sopran-Arie „Öffne dich, mein ganzes Herze“ soll sich wirklich das Herz in frommem Vertrauen und rückhaltlos öffnen – so interpretieren Gardiner wie auch Leusink (beziehungsweise ihre Sopranistinnen) sehr richtig diese Arie, übrigens auf die Sekunde gleich lang. Dass mir Nancy Argenta diesmal nicht gefällt, liegt daran, dass ich auf dem Lande groß geworden bin: ihr Vibrato klingt für mich wie Ziegengemecker.


    Der Schlusschoral ist mir zu schnell. Das „Amen, amen!“ hört sich an, als kicherten die Sänger.


    John Eliot Gardiner Januar 1992 Blackheath Concert Halls, Great Hall, London
    Monteverdi Choir, English Baroque Soloists
    Nancy Argenta Sopran, Anthony Rolfe Johnson Tenor, Olaf Bär Bariton
    Länge 14.05 Minuten (2.48 / 1.20 / 4.17 / 1.08 / 3.47 / 0.45)



    Leusink
    Der 1. Satz in der Aufnahme von Pieter Jan Leusink kommt wuchtig – nicht ganz so wuchtig wie bei Gardiner, aber gut strukturiert, rhythmisch, ohne zu übertreiben, jedoch mit Schwächen im Chor.


    Als ich die Leusink-Einspielung das erste Mal hörte, notierte ich mir zu Knut Schoch, dem Tenor: „Zu dünn. Innigkeit fehlt. Es fehlt ihm an Wärme.“ Beim zweiten Mal stand auf meinem Notizblock „Weiß mit dem Thema nicht so recht etwas anzufangen.“ Als ich sie das dritte Mal hörte, schrieb ich „Nichts ist falsch, aber überzeugen kann es mich nicht.“ Die letzte Notiz ist von gestern und lautet „Je länger ich es höre, desto besser gefällt es mir.“ So kann es gehen. Die technischen Schwierigkeiten bei tiefen Tönen, die Salisburgensis angeführt hat, bestehen aber durchaus.


    Hat noch jeder die Pizzicati von Gardiner im 4. Satz im Ohr? Hier kommen die Klopfzeichen ebenfalls verhalten. Aber viel hastiger, und das zerstört alles, obwohl Bas Ramselaar wunderbar singt. Dieser Leusinksche Jesus hat es mindestens so eilig wie mein Postbote, wenn ich ein Päckchen mit neuen CDs erwarte. Da habe ich jedes Mal das Gefühl, wenn ich nicht sofort runter renne und die Tür aufreiße, ist er schon ein paar Häuser weiter.


    Die Sopran-Arie von Ruth Holton in einem Wort: Grandios! Nur dezent von Frank Wakelkamp am Cello begleitet, singt sie dieses Bekenntnis einer frommen Seele bescheiden, schüchtern und doch voller Gewissheit. Zu Herzen gehend ist das, wunderbar.


    Pieter Jan Leusink 1999, St. Nicolaskirche, Elburg, Holland
    Holland Boys Choir, Netherlands Bach Collegium
    Ruth Holton Sopran, Knut Schoch Tenor, Bas Ramselaar Bass
    Länge 14.15 Minuten (3.10 / 1.33 / 3.59 / 0.46 / 3.47 / 1.00 )



    Fazit


    Meine Lieblingsinterpretation: Bislang Fritz Werner. Aber ich warte auf Herreweghe.


    Herausragende Sätze: bei Fritz Werner die Sätze 2, 3 und ganz besonders das Bass-Rezitativ Nr. 4. Bei Nikolaus Harnoncourt die beiden Tenor-Sätze 2 und 3. Bei Pieter Jan Leusink Nr. 5, die Sopran-Arie.





    So, und hier zum Abschluss noch eine Anekdote, die weiter oben nicht hinein passte:



    Das Seppi-Kronwitter-Argument


    Echte Fans – das gilt für Anhänger von Metallica ebenso wie für Verehrer von sagenwirmal Pavarotti, Karajan, Gould, oder, wo wir gerade bei Bachkantaten sind, die Adepten von Richter, Gardiner oder Harnoncourt – finden immer Argumente, die auch grobe Fehlgriffe noch in ein goldenes Licht der bewussten Gestaltung rücken. („Wie, das klingt schrecklich? Das muss so!“). Und wenn das nicht geht, werden sie klein geredet, zu unbedeutenden Randerscheinungen erklärt.


    Ein schönes Beispiel fand ich in einer älteren Internet-Diskussion über die Knabensoprane in Harnoncourts Kantateneinspielungen, speziell über Seppi Kronwitter in der Sopran-Arie „Öffne dich, mein ganzes Herze“. Da schrieb ein Fan dieser Aufnahme, es stimme schon, dieser junge Sänger lasse bei Technik und Atemkontrolle viel zu wünschen übrig. Natürlich könnte es auch sein, dass damals, als die Kantate aufgenommen wurde, gerade kein besserer Sänger zur Hand war. Er hingegen glaube jedoch lieber, Harnoncourt habe ganz bewusst diese sehr kindliche Stimme für diese Arie ausgewählt. Denn stehe nicht in der Bibel, Matthäus 18, 2 bis 4: „Jesus rief ein Kind zu sich und stellte das mitten unter sie und sprach: Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, dass ihr euch umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.“ Und deshalb, versicherte damals der Fan, sei diese Aufnahme für ihn „total glaubwürdig“.


    Seitdem ich das gelesen habe, nenne ich Argumente, die völlig an den Haaren herbei gezogen sind, still für mich „Seppi-Kronwitter-Argumente“.


    Alfons


  • Wenn ich mich hier als kümmerlicher Besitzer nur einer einzigen Aufnahme dieser Kantate (Gardiner) mal kurz einmischen darf: Das von Dir geschilderte Phänomen ist ja ein Grundproblem der Hermeneutik, das man einfach nicht umschiffen kann. Schön zu illustrieren am guten, alten "Literarischen Quartett". Reich-Ranicki brüllte: "Das Buch ist sooo schlecht, soooo langweilig", seine Kombattanten schrien zurück: "Ja eben, das hat der Autor doch EXTRA so gemacht", worauf dann wieder alle Fragen offen waren :D.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo wieder einmal,


    ich melde mich mit einige Gedanken zu den mir bekannten Interpretationen des Eingangschors auf CD und DVD zurück.


    Karl Richter
    Es war Karl Richter, durch dessen Einspielung ich als Kind mit der Kantate als Kind erstmalig bekannt wurde. Durch ihn habe ich begonnen, diese Musik zu lieben, wofür ich ihm auch heute noch dankbar bin.
    Natürlich fallen mir an seiner Interpretation heute Dinge auf, die mir damals nicht auffielen, und die mich vor allem nicht gestört haben.
    Heute sehe ich diese Aufnahmen als historische Dokumente der Bachinterpretation, die man aus ihrer Zeit heraus verstehen muss. Historisch informiertes Spiel auf Originalinstrumenten war zu dieser Zeit ( Ende der 60er bis Anfang 70er-Jahre) jedenfalls in der vom Plattenmarkt wahrgenommenen Öffentlichkeit noch eher eine Randerscheinung, obwohl man schon in den Startlöchern saß, die erste Gesamtaufnahme der Bachkantate auf Originalinstrumenten in Angriff zu nehmen.
    Richters in der Tat individueller Bachstil galt damals für viele als das Maß aller Dinge, durchaus auch mit einigem Recht, wie ich finde. Denn verglichen mit dem, wie in dieser Zeit sonst noch Bach interpretiert wurde, empfand ich seine Deutungen meistens als schwungvoller, musikantischer und frischer.
    Mit seinem gewählten Tempo für den Eingangschor bin ich auch heute noch einverstanden.
    Auch die Art, wie er die Punktierungen des Orchesters ausführen lässt, ( nämlich so, wie es in den Noten steht) wird von einigen heutigen HIP- Protagonisten wieder als der richtige Weg für jene französische Ouvertüren angesehen, die aus der Feder J.S. Bachs stammen (!), doch dazu später mehr.
    Die Frage, ob man die Punktierungen nun schärfen solle oder nicht, wird Richter sich wahrscheinlich aber nicht ernsthaft gestellt haben, nehme ich jetzt an.
    Natürlich gefällt mir mit meiner heutigen Hörerfahrung weder die Tongebung der Streicher ( Dauervibrato) noch deren im Ouvertürenteil durchgehende Sostenutodynamik auf den Einzeltönen.
    Trotz der beachtlichen Leistungen des damaligen Münchener Bachchors kann man diesen m.E. nicht mit heutigen professionellen Kammerchören direkt vergleichen, wenn es um solche Dinge wie z.B. Klangkultur, Durchsichtigkeit und Virtuosität geht.
    Die auch von salisburgensis schon angesprochenen wichtigen Triller auf „Heiland“ fehlen bei dieser Einspielung dann auch.
    Insgesamt finde ich den von Bach beabsichtigten herrschaftlich-mächtigen Affekt der langsamen Teile aber recht gut getroffen und unter den Non –HIP -Voraussetzungen hat Richter für die Orchesterbegleitung und für die vokalen Choralrezitationen ein schlüssiges und auch kultiviertes Ergebnis erzielt.


    Nun zu einigen HIP-Aufnahmen, deren Besprechung ich einige Überlegungen voranstellen möchte.


    Hier stellt sich nämlich grundsätzliche Frage nach der Ausführungsart der Punktierungen der französischen Ouvertüre bei Bach.
    Soll man sich nun wie bei einem Stück von Lully, Rameau oder auch Händel schärfen ( also überpunktieren und synchronisieren) oder rhythmisch das spielen, was in den Noten steht?
    Hierüber gehen die Ansichten unter den Fachleuten auseinander, vor allem auch, seit Reinhard Goebel mit seiner Musica Antiqua Köln eine Einspielung der Bachschen Orchestersuiten vorgelegt hat., in der bewusst ( bis auf die zweite Suite) auf die Überpunktierungen verzichtet wurde.
    Goebel bezieht sich in seinem interessanten Begleittext auf die Thesen des amerikanischen Musikwissenschaftlers F. Neumann, die u.a. besagen, dass die in Alte-Musik-Kreisen damals übliche Überpunktierungspraxis seiner Ansicht nach eine Fehldeutung der Sekundärliteratur sei.


    Zitat

    Zitat Reinhard Goebel


    Zeitgenössische Kritiker Johann Sebastian Bachs heben hervor, dass er selbst die „willkürlichen Verzierungen“ keineswegs dem Interpreten überließ, sondern alles klar und eindeutig niederschrieb – was de facto bedeutet, dass er es seinem gestalterischen Vermögen unterwarf.
    Es kann somit überhaupt kein Zweifel darüber bestehen, dass die rhythmische Ordnung , die Bach in seinen Ensemblewerken schrieb, die beabsichtige ist. „Prächtig, majestätisch, würdig, gravitätisch, grandios“ so die zeitgenössische Literatur über die Ouvertüre, kann nicht unbedingt gleichbedeutend sein mit doppelpunktiert und synchronisiert.


    Es gibt nun Quellen aus der zeitgenössischen Sekundärliteratur, aus denen man erkennen kann, dass man für die Ausführung der französischen Ouvertüre die synchronisierten Überpunktierungen machen soll. Die Frage ist jetzt, man diese auch Quellen ( z.B. die Flötenschule von Quantz) auch auf Bachs Musik anwenden kann. Für viele Dinge sicherlich ja, für andere Dinge vielleicht aber auch nicht.
    Manches mag nur im musikalisch-geografischen Wirkungskreis des Autors gültig gewesen sein. Zusätzlich darf man auch die Zeitfrage nicht vernachlässigen. Wie groß ist der zeitliche Radius, für den man annehmen darf, dass die Aussagen des Verfassers gültig sind?


    Die Frage, ob nun überpunktiert werden soll oder nicht, kann ich hier aus Zeitgründen nicht weiterdiskutieren und schon gar nicht eindeutig beantworten.
    Goebels Worte wirken schlüssig. Wenn er nun sagt „kann nicht unbedingt gleichbedeutend sein mit doppelpunktiert und synchronisiert“ dann könnte man entgegenhalten: Nicht unbedingt, aber dieser Affekt lässt sich dadurch jedenfalls leichter darstellen als durch das notengetreue Spiel.
    Durch die „normale“ Spielart wirkt die Musik naturgemäß fließender, weicher und weniger streng, was nicht heisst, dass man mit guten Musikern den gewünschten Affekt nicht doch erzeugen könnte.
    Bei der überpunktierten Version ist das dynamisch gleichmäßige Tenuto auf den langen Tönen lt. den Schulwerken ausnahmsweise erwünscht.
    Die in diesen Büchern beschriebenen und weiter oben aufgeführten Affekte „Prächtig, majestätisch, würdig, gravitätisch, grandios“ erreicht man damit leichter, jedenfalls dann, wenn man diese Töne ohne, bzw. nur mit sparsamen Vibrato spielt.


    Gardiner
    Diesmal beurteile ich Gardiners Deutung deutlich positiver als bei BWV 140.
    Schön inspiriert und lebendig singt hier sein virtuoser Monterverdi Choir.
    In meinem vorherigen Beitrag ließ ich meine Auffassung anklingen, dass die anfangs einstimmigen Choralzitate wie mächtige Brückenpfeiler klingen sollten, die sich über die herrschaftliche Orchesterbegleitung spannen. Bei Gardiner geht es für mich schon sehr in diese Richtung. Sein Ouvertürentempo finde ich ein wenig zu schnell, diesmal aber nur ein wenig...
    Gardiner lässt sein Orchester überpunktieren, hierzu siehe oben. Es klingt für mich jedenfalls schlüssig, wenngleich ich mir auch vorstellen kann, dass man es auch rhythmisch notengetreu gut hinbekäme, ohne dass es gleich traditionell, wie etwa nach dem Rilling der 70er-Jahre klingen muss. „Gut“ hieße für also mich hier, dass man die von Goebel zitierten Affekte ausspielt, ohne den fließenden Charakter der - dann nur noch stilisierten- französischen Ouvertüre durch ein zu langsames Tempo und ein schwerfällig- breites Spiel zu zerstören.
    Es wäre dann sehr wichtig, dass man die melodischen Zielnoten im dynamischen Kontext aufbauend verdeutlicht und die „Kurz-Lang-Paare“ ( 16-tel zur punktierten 8-tel) mit dieser Bewegung artikuliert: dahdamm dahdamm...etc. ( eng hin- und her bei den Streichern)
    Ganz falsch wäre m.E. das Gegenteil: tatt- taaah, tatt- taaah ...etc.


    Das Fugato des Mittelteils geht Gardiner erwartungsgemäß schnell und leichtfüßig tänzerisch, sowie mit hüpfend-kurzen Notenwerten an.
    Sein Chor meistert diese Aufgaben technisch und musikalisch mit Bravour, das muss ich anerkennen. Selbstverständlich hat es durchaus etwas für sich, wenn man das Fugato so spielt, doch erschiene mir ein etwas ruhigeres Tempo, und eine etwas breitere, nach vorne weisende Artikulation vom Affekt her angemessener.
    Die ( durch Tanzsätze kultivierten Heiden) wundern sich, aber wenn man hüpft, dann tut man es doch eher vor Freude, nicht aber vor Verwunderung... ;)
    Es könnte für mich zwar durchaus etwas schneller gespielt werden, als es Harnoncourt bei seiner Einspielung mit dem Tölzer Knabenchor noch gemacht hat, aber nicht so schnell. Die melodischen Anklänge ans Menuet sollte man ggf. in die Tempowahl miteinbeziehen und es vielleicht wie ein schnelles Menuet spielen, nicht aber bald wie ein langsames Scherzo der Klassik...


    Koopman
    Ton Koopmans Aufnahme habe ich zwar nicht, doch habe ich mir hier schon einmal einen Ausschnitt angehört.
    Koopman lässt sein Orchester so gut wie nicht überpunktieren, macht aber aus den dann eigentlich fließenden Sechszehnteln z. B. in Takt 1, Violino I/II auf dem zweiten Viertel ( ff.) punktierte Sechzehntel ! Wie kommt er nur dazu? Irgendeinen Grund wird er wohl gefunden haben. Für mich klingt es so im Moment überhaupt nicht einleuchtend....wüsste gerne, welche Gedankengänge dem vorausgingen.
    Andere Hörer mögen es sicher anders empfinden als ich.
    Chor und Orchester klingen hier wesentlich weicher und meditativer als etwa bei Gardiner oder Harnoncourt.
    Aber auch diese Sichtweise hat etwas für sich, weil sie u.a. den ursprünglichen Charakter des alten Chorals miteinbezieht und sich insgesamt angenehm anhört. Der klangschöne und durchsichtig klingende Chor singt die von salisburgensis angesprochenen Triller ungefähr so, wie es Ton Koopman auf der Orgel oder dem Cembalo selbst spielen würde – ausladend und beeindruckend, gerade für einen Chor!
    Das Orchester spielt nicht gerade zupackend-herrisch sondern schon eher bekümmert, sehnsuchtsvoll oder traurig bittend– für sein eher auf einen nachdenklich-weichen Affekt ausgerichtetes Interpretationskonzept passt es aber.


    Herreweghe
    Der Eingangschor ist trotz der Tatsache, dass ich auch ein Herreweghe-Fan bin, für mich nicht vollkommen überzeugend. Es fehlt nicht an Perfektion, nicht an schönen Feinheiten, vor allem nicht Klangkultur. Das Orchester spielt mir die Ouvertüre zu beiläufig-undramatisch und auf manchen kurzen Zieltönen der Ouvertüre hätte ich gerne ein Vibrato gehört.
    Hier ziehe ich neben der Concentus-Fassung auch Gardiners Orchesterspiel vor. Das tänzerisch Elegante, dass man hier bei Herreweghe hören kann, muss aus meiner Sicht für gewisse französische Tanzsätze sein. Für eine gewichtige Ouvertüre halte ich den Ansatz aber für weniger geeignet.
    Der Chorklang Herreweghes ist für die Musik Bachs meistens mein Favorit. Auch bei diesem Eingangschor lässt es dieses Vokalensemble nicht an klanglichen Reizen fehlen.
    Wenn sie doch im A-Teil so kraftvoll gesungen hätten, wie beim Schluss: „Gott solch Geburt ihm bestellt“
    Es hört sich für mich so an, als ob sie hier endlich, aber zu spät aufgewacht wären.
    Dass dahinter eine Absicht steht, den A-Teil im verhalten-beiläufigen ( von mir aus auch eleganten) Mezzoforte zu musizieren und zum Schluss ein richtiges Forte zu singen, kann ich mir schon denken.
    So recht überzeugen kann es mich leider nicht.
    Ich gebe saliburgensis darin Recht, wenn er sagt, dass das Fugato durchsichtig klingt.


    Harnoncourt, erste Aufnahme
    Wie Gardiner lässt Harnoncourt das Orchester überpunktieren und dabei etwas langsamer spielen. Vom Affekt her klingt es noch kraftvoller und strenger, darüber sollten dann eigentlich nur noch die mächtigen Brückenpfeiler des Chorals kommen.
    Sollten eigentlich – womit ich sagen will, dass die richtige Absicht zwar mehr als erkennbar, das akustische Resultat hier jedoch nicht befriedigend ist, und zwar im Hinblick auf den Chor.


    Zitat


    Original von alfons
    Ganz sicher wird es dafür eine musiktheoretisch gültige, einleuchtende Begründung geben...


    Die gute Absicht, hier die machtvollen "Einzelstatements" der Chorstimmen über den herrschaftlichen Orchesterklängen abzugeben, kann ich erkennen. Im klingenden Ergebnis muss ich alfons allerdings Recht geben.
    Diesen ins Übertriebene abgleitenden Chorgesang werde ich keinesfalls versuchen, durch irgendwelche (m.E. nicht vorhandene) musiktheoretische Begründungen zu verteidigen, auch nicht durch sogenannte .„Seppi-Kronwitter-Argumente“ ( den Jungen fand ich meistens ziemlich gut, dazu aber später mehr)
    In dieser Phase der Kantatenaufnahmen wurde u.a. nach meiner Auffassung ein Problem erkennbar: Harnoncourt hat mit dem Concentus in jahrzehntelanger Arbeit unglaublich viel entwickelt, neben der Spieltechnik der alten Instrumente vor allem die praktisch interpretatorische Ausführung der barocken Klangrede.
    Da Bach die Stimmen meistens nicht viel anders als die Instrumente behandelte, wurde es notwendig, die musikalischen Ergebnisse des Orchesters ( die aus unglaublich vielen Feinheiten bestehen) auch irgendwie auf den Chor zu übertragen.
    Hiermit war der Tölzer Knabenchor überfordert, vor allem dann, wenn der große Ausdruckswille Harnoncourts noch sein Übriges bewirkte.
    Demgegenüber konnte der Chor wohl nur noch stellenweise kapitulieren und reagierte mit diesen von Alfons beschriebenen Vergröberungen.
    Mit der Detaildynamik des Mittelteils bin ich sehr einverstanden, das Tempo dürfte für meinen Geschmack aber etwas schneller ausfallen.


    Harnoncourt, zweite Aufnahme ( DVD)
    Den besten Beweis, dass es besser gewesen wäre, das gesamte Kantatenprojekt ohne Knabenchöre, sondern mit guten Kammerchören durchzuführen, liefert Harnoncourts zweite Aufnahme aus dem Jahre 2000, die bei TDK als DVD-Produktion ( zusammen mit BWV 147 und dem Magnificat BWV 243)erschienen ist.
    Hier kam der aktuelle Concentus musicus Wien, sowie der Arnold Schönberg Chor zum Einsatz.
    Meine Kommentar zu diesem Eingangschor: Großartig, ich kann all das wiederhören, was ich hier in meinem ersten Beitrag bereits erwähnte!
    Von der Praxis der synchronisierten Ûberpunktierung der Bachschen Ouvertüre ist NH jedenfalls nicht abgewichen – siehe oben.
    Ich hätte es an seiner Stelle wenigstens einmal in der "geraden" Version versucht, wenigstens in der Probe.
    Der Chor ist stark besetzt, mit ca. 8 Personen pro Stimme wohl doppelt so stark, wie es Bach in seinem „Entwurff“ als Wunschtraum vorschwebte.
    Ein massiger, unflexibler Gesang ist hier jedoch keineswegs das Ergebnis.
    Besonders gut gefällt mir auch das Fugato des Mittelteils hinsichtlich Tempo, Grob- und Detaildynamik. Typisch Harnoncourt sind die Artikulationen der Takte 69 und 70 im Sopran:
    Während in den vorherigen Takten die Worte „ des sich“ portato abgesetzt und nach vorne weisend gesungen werden, lässt er dort die beiden Worte fast Legato singen ( noch drängender), wodurch zum einen die melodisch/rhetorisch wichtige Stelle herausgehoben wird, der Hörer aber auch überrascht wird. Bei den vielen „ des sich wundert....“ kann es zwischendurch langweilig werden, immer die gleiche Artikulation zu hören. NH wäre nicht NH, wenn er diese Stelle nicht so gemacht hätte...


    Fazit ( nur für den Eingangschor)
    Jeder der hier beschriebenen Ansätze hat etwas für sich und ich empfinde es als bereichernd, diese zu kennen.
    Obwohl ich mich mit Koopmans Punktierungslösung nicht so recht anfreunden kann, hätte ich doch auch gerne seine Aufnahme in meiner CD-Sammlung, allein schon wegen des schönen Chorklangs.
    Wenn ich mich für eine Aufnahme entscheiden muss, dann ist es sicher Harnoncourts zweite auf Konserve erhältliche Aufführung. Von der Holzhackerei der ersten Aufnahme ist hier nichts mehr zu hören, wohl aber sehr eindringliche, mitreißende und überzeugende Klangrede mit einem hochintensiven Dirigenten, einem traumhaft spielenden Orchester und einem hervorragenden, auf Harnoncourts Interpretationsgrundsätze eingespielten Chor.
    Trotz des guten Orchesterspiels des Concentus musicus Wien auf der ersten Harnoncourt-Aufnahme trüben die dortigen Chorleistungen das Bild -je nach Hörer- mehr oder weniger erheblich.
    Als Erholung hiervon schiebe ich mir dann entweder die Herreweghe-CD, oder die Harnoncourt II-DVD in den Player.
    Von den mir bekannten nicht HIP-Aufnahmen empfinde ich Richters Version als empfehlenswert aus dem Blickwinkel seiner Zeit
    Für die, die auch heute noch diesen ästhetischen Ansatz bevorzugen, ist die Aufnahme eine Empfehlung, die bei heutigen Preisen nicht einmal teure Konsequenzen haben muss.


    Gruss :hello:
    Glockenton


    PS.:
    alfons: Du solltest Dir die DVD zulegen. Ich bin mir sicher, dass sie Dir gefiele!

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo Glockenton,


    na das wird ja wieder eine Monsterrezension, wenn Du satzweise vorgehst (Vielen Dank, ich lese es lüstern)


    aber was hälst Du denn davon, wenn im Eingangssatz der "langsame" Teil der "französischen" Ouvertüre (also die ersten zwei Textzeilen) annähernd so schnell sind wie der "schnelle" Teil (die Fuge, dritte Zeile des Chorals) und somit kein hörbarer Tempokontrast besteht? Aber Bachs Partitur bietet wahrscheinlich keine Tempovorgaben diesbezüglich... Gibt es Aufnahmen mit einer deutlich hörbaren Tempo-Dreiteiligkeit?


    Vielen Dank auch für die Hinweise zur "Doppel-/Überpunktierung", wußte gar nicht, daß es schon wieder "out" ist...

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Hallo ThomasBernhard,


    Zitat


    Original von ThomasBernhard
    ...aber was hälst Du denn davon, wenn im Eingangssatz der "langsame" Teil der "französischen" Ouvertüre (also die ersten zwei Textzeilen) annähernd so schnell sind wie der "schnelle" Teil (die Fuge, dritte Zeile des Chorals) und somit kein hörbarer Tempokontrast besteht?


    ehrlich gesagt: überhaupt nichts, denn die allgemein oft mit Grave bezeichnete punktierten A-Teile einer französischen Ouvertüre sollten sich schon vom mit "vite" bezeichneten fugierten B-Teil unterscheiden.
    Wenn Du es entsprechend Deiner Frage machen würdest, dann käme als
    Resultat die Nivellierung aller Unterschiede heraus.
    Auch von der historischen Aufführungspraxis her kann ich keine Möglichkeit sehen, dies zu rechtfertigen. Selbst die Non-Hip-Musiker haben so etwas meines Wissens nie gemacht. In vorliegenden Fall von BWV wäre es ohnehin schwer, den Eindruck eines durchgehenden Choralgesangs zu erzeugen, weil sich erstens die Taktart und zweitens die Schreibweise ( der B-Teil ist im Gegensatz zu den anderen homophonen Teilen ja ein Fugato) ändert.


    Zitat


    Original von ThomasBernhard
    Gibt es Aufnahmen mit einer deutlich hörbaren Tempo-Dreiteiligkeit?


    Da bin ich jetzt überfragt, und ich hoffe auch, dass es diese Aufnahmen nicht gibt, denn es sollte nach meinem Dafürhalten nur zwei Tempi geben: das eine bei den punktierten Teilen, das andere für das mittlere Fugato.
    Auf die Idee es anders zu machen wäre man wohl in späteren Musikepochen gekommen, nicht aber im Barock.
    Im vorliegen Fall von BWV 61 bin ich davon überzeugt, dass Bach nach dem Fugato wieder das Tempo des Anfangs haben wollte.


    Zitat


    Original von ThomasBernhard
    Vielen Dank auch für die Hinweise zur "Doppel-/Überpunktierung", wußte gar nicht, daß es schon wieder "out" ist...


    Gern geschehen! Ich muss nur einschränken, dass der Text von Goebel auch schon wieder bald 20 Jahre alt ist...die Zeit vergeht, und man entdeckt, dass man alt wird.
    Ob es im Moment eine neue "angesagte" Ansicht gibt, oder ob sich jeder seine eigene Wahrheit zurechtbastelt, kann ich nicht beurteilen.
    Wie gesagt, es geht dabei nicht um die französische Ouvertüre aus Frankreich, sondern um Bachs Ouvertüren.
    Ich hab`mir in dieser Frage ja auch nur meine eigene kleine Wahrheit zurechtgelegt... ;)...nicht nur durch Nachdenken, sondern vor allem durch eigenes Ausprobieren am Instrument.
    Bei der D-Dur-Fuge aus dem WTK I etwa wirkt auf mich die Überpunktierung furchtbar aufgesetzt. Auch solche Stücke, wie die nach französischer Ouvertüre klingende Variation aus den Goldberg-Variationen oder gerade auch der Contrapunctus 6 aus der "Kunst der Fuge" sollte m.E. nicht rhythmisch verändert werden. Da es ja eine Fuge mit stilistischen Anklängen aus der französischen Ouvertüre ist, müsste man hier wegen des Angleichungszwangs den Rhythmus des Themas ändern, was ich für extrem abwegig hielte. Ob und in welchem Maße es hier gelungen ist, den französischen Ouvertürencharakter beizubehalten, obwohl die Notenwerte aufgrund der Fugenstruktur so wie notiert ausgeführt wurden, kannst Du ja selbst hören: Contrapunctus 6 ( Klick)


    Man kann sich darüber streiten, ob man anhand solcher Beispiele aus der Bachschen Klavierliteratur Rückschlüsse auf die Ausführung der Punktierungen in BWV 61 Satz 1 ziehen kann.


    Selbst wenn die geschärfte und synchronisierte Punktierung hier ein Irrtum wäre, höre ich doch die Aufnahmen mit grosser Anteilnahme, die diesen "Irrtum" großartig zelebrieren. Trotz meiner Auffassung, dass die historische Auffühungspraxis der beste Weg für eine lebendige Wiedergabe Alter Musik ist, höre ich einen hinreissend gespielten "Irrtum" immer noch lieber als eine fantasielos und unbeseelt gespielte historische "Wahrheit".


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Satz 2 Recitativo Tenore: „Der Heiland ist gekommen“


    Dieses Rezitativ ist für mich ein kleines Meisterwerk.
    Es wundert mich immer wieder, wie textbezogen und direkt Bachs Klangsprache ist.
    Hier übernimmt der Tenor seine in Bachs geistlicher Musik übliche Rolle des Heilsvermittlers:


    „Der Heiland ist gekommen“.


    Dieser erste Teilsatz bis zum Komma kommt in einfacher, nach „unten“ ( zum Grundton) gerichteter C-Dur Melodik als freudige Tatsache zum Ausdruck.


    „...hat unser armes Fleisch und Blut an sich genommen“ :


    Hier wird über E- Dominantsept mit Quinte im Bass zur parallelen Molltonart a-moll moduliert. Auf die erste freudige Aussage folgt ein leicht betrüblicher, vielleicht schon an das Kreuz erinnernder Einschub. Nicht nur harmonisch, sondern auch melodisch kommt dies zum Ausdruck, und zwar durch die drei nach unten gerichteten Töne im D – H –Gis ( eine Reihenfolge von kleinen Terzen = verminderte Harmonik) auf den Worten „Fleisch und Blut“.
    Hier kann man leicht eine Parallele zur „Kreuzstabskantate“ BWV 82 Satz 2 „Mein Wandel auf der Welt“ ziehen.
    Bis zu den Worten „ ...ist einer Schiffahrt gleich“ sind die Harmonien und die Melodieführung sozusagen auch „gut gelaunt, frisch und fröhlich“.
    Auf dem Wort : „Betrübnis“ haben wir dort auch die in kleinen Terzen nach unten gerichteten drei Töne, wodurch eine affektive Eintrübung im wahrsten Sinne des Wortes erzielt wird.


    „und nimmet uns zu Blutsverwandten an“ :


    Die Harmonik wird versöhnlicher und moduliert zur Dominante G-Dur, die zur neuen Zwischentonika wird.


    Danach wird wieder auf die Verdienste des Heilandes ( das Erlösungswerk) mit der rhetorischen Figur der Exclamatio „ O!“ über der wiederum verminderten Gis-Harmonik hingewiesen.


    In gleicher Weise könnte man nun bei diesem Rezitativ Takt für Takt vorgehen und sein Verständnis der Bachschen Klangsprache vertiefen. Man wird immer etwas finden, worüber man staunen kann.



    Noch einige Worte zum Ariosoteil, der sich m.E. weich und fließend aus dem Rezitativ entwickeln sollte, vor allem aus Gründen der Harmoniefolgen:
    Takt 9 ab dem dritten Viertel, noch im Rezitativ:
    B-Dur mit großer Septime wird zur B-Dur 5/6 und löst sich zunächst scheinbar nach A-Dur auf – doch dieser A-Dur-Akkord ist wiederum die Dominante zur nächsten D-Dur-Tonika auf dem Wort „kömmst“ , dass sich bereits im Arioso befindet.


    Manche Interpreten gehen hier nur vom Text aus und meinen einen verhältnismäßig drastischen Affektwechsel Rezitativ – Arioso spielen zu müssen:
    Ab den 16-teln des Ariosos wird dann ein zügig-frisches Tempo angeschlagen. Dadurch hört es sich für mich so an, als ob nun etwas völlig Neues geschehe, der Ariosoteil also irgendwie hinter dem Rezitativ angesetzt wäre.
    Dies ist jedoch -jedenfalls für mich- nachweislich nicht der Fall.
    Durch die von Bach extra eingezeichnete kleinteilige Artikulation der 16-tel mit jeweils zwei Noten unter einem Bogen wird für mich sein Wunsch zu einer weiterhin eher verhalten-moderaten Spielweise deutlich. Es kann hier also nicht um einen musikalischer Lichtschalter ( wie etwa beim Beginn von Haydns „Schöpfung“) gehen; sondern das Continuo beschreibt im Dialog mit dem Tenor vielmehr den friedlichen Eindruck, den eine angezündete Adventskerze in einem vorher dunklen Raum vermittelt.
    Es ist für mich etwas Einzigartiges, Zerbrechliches, etwas, worüber man sich in der Tat wundern kann ( des sich wundert alle Welt) was hier durch die Musik beschrieben wird; nicht die plötzlich angesetzte Aufforderung zu Tanz und Bewegung.
    Die Emotion des Einzigen, Zerbrechlichen wird m.E. am besten ausgedrückt, wenn man es nur mit einem Barockcello und einer kleinen Continuoorgel spielt und strukturell wichtige Töne durch eine leichte agogische Verbreiterung sowie ein gelegentliches Vibrato hervorhebt.


    Am überzeugendsten finde ich hier zusammen mit Herbert Tachezis Orgelcontinuo das Cellospiel Nikolaus Harnoncourts von der Teldec-Gesamtaufnahme.
    Eigentlich genauso gut und in seiner Nachfolge stehend macht der Cellist Herwig Tachezi zusammen mit seinem Vater seine Sache beim schon weiter oben genannten DVD-Konzertmitschnitt.


    Auf Herreweghes Aufnahme singt Pregardien dieses Rezitativ besonders klangschön, deutlich und intonationstechnisch sicher, ebenso auf Koopmans Aufnahme, hier wird von ihm aber doch noch ein anderes Tempo verlangt.

    Eine Eigenheit Herreweghes ist es übrigens, dass er – im Gegensatz etwa zu Harnoncourt oder Koopman- bei Bachs Rezitativen nicht nur ein Cello, sondern auch einen Violon, bzw. einen Kontrabass mitgehen lässt.
    Sicherlich wird er hierfür eine schlüssige Begründung haben, und es stört mich sonst bei den relativ kurz angespielten Begleittönen eines Rezitativs eigentlich weniger.
    Beim Arioso ist der Cellist jedoch nach meinem Dafürhalten zur persönlichen Expressivität aufgefordert, ähnlich wie es der Sänger auch ist.
    Bei vergleichbaren solistisch-expressiven Stellen ließ Herreweghe (z.B. bei BWV 21) das Violoncello noch solo spielen, hier jedoch spielt der Kontrabass alles mit.
    Ich empfinde dies als einen gewissen Verlust an kammermusikalischer Expressivität und bedaure es deswegen grundsätzlich bei vielen Bachaufnahmen Herreweghes ein wenig.
    Dies vor allem auch deshalb, weil davon abgesehen seine Deutungen auf mich oft einen runden, stimmigen und überzeugenden Eindruck machen - sehr oft.


    Wer möchte, kann durch die folgenden Links in dieses Rezitativ hineinhören und sich ein eigenes Bild machen:


    Gardiner
    (Realplayer erforderlich)


    Harnoncourt
    ( man achte auf die typische Betonung der Leittönigkeit im Cello auf h-c, unter den Worten "Segen scheinen")


    Koopman


    Suzuki
    ...aus "kömmst" wird hier bald "kemmst", aber man kann auch darüber hinweghören.


    Rilling
    Für mich auch ein kleines Beispiel, dass die HIP-Bewegung die Geschichte der Bachinterpretation insgesamt doch positiv beeinflusst hat.
    Kann man hier nicht schon von einem eher grobschlächtigen Continuospiel sprechen?
    Das Cembalo ist hier entweder schlecht aufgenommen, oder es handelt sich noch um eines dieser früheren "Eierschneider"-Exemplare.


    Den warmen, weichen und volleren Klang einer Truhenorgel ziehe ich für Bachs geistliche Werke ohnehin dem Cembalo vor.
    Im Internet habe ich keine Möglichkeit gefunden, das Rezitativ von Herreweghes Einspielung probehören zu können.


    Ich weiss, dass man durch die kurzen Ausschnitte einen verzerrten Eindruck gewinnen kann, aber nicht zwangsläufig muss.
    Wer diese Art von Häppchenmusik aus irgendwelchen Gründen nicht hören mag, muss ja nicht auf die Links klicken. Wenn man aber nicht über alle CDs verfügt und sich nicht schon grundsätzlich auf nur einen einzigen Interpreten festgelegt hat, den man persönlich für aktzeptabel hält, dann sehe ich oft keine andere Möglichkeit, als zunächst einmal mit solchen Häppchen vorlieb zu nehmen.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Original von Glockenton
    Noch einige Worte zum Ariosoteil, der sich m.E. weich und fließend aus dem Rezitativ entwickeln sollte.
    (...)
    Es kann hier also nicht um einen musikalischer Lichtschalter ( wie etwa beim Beginn von Haydns „Schöpfung“) gehen; sondern das Continuo beschreibt im Dialog mit dem Tenor vielmehr den friedlichen Eindruck, den eine angezündete Adventskerze in einem vorher dunklen Raum vermittelt.
    Es ist für mich etwas Einzigartiges, Zerbrechliches, etwas, worüber man sich in der Tat wundern kann was hier durch die Musik beschrieben wird; nicht die plötzlich angesetzte Aufforderung zu Tanz und Bewegung.



    Genau so habe ich es gefühlt, aber nicht die passenden Worte gefunden. Bravo!


    Alfons

  • Liebe Bach-Freunde,


    mit großer Freude lese ich die hier erscheinenden Beiträge. Sie erhöhen mein Verständnis der Kantaten in so hohem Maße, wie ich es zu Beginn des Projektes, als noch diskutiert wurde, ob es sich lohne, Einzelthreads zu eröffnen, nicht zu hoffen gewagt habe. "Weiter so", möchte ich euch zurufen. Geht nie in Urlaub, fahrt nie weg, sondern schreibt weiter über die Bach-Kantaten!


    Meine Aufnahmen sind von Harnoncourt, Gardiner und Leusink. Neues kann ich zu den Aufnahmen nicht mehr beitragen. Daher beschränke ich mich auf einige kurze Anmerkungen. Bei Harnoncourt gefällt mir der ruppige Beginn gut, viel besser als das von salisburgensis so treffend beschriebene Anfangsbombast bei Gardiner. Ohnehin stelle ich zu meinem Erstaunen fest, dass für meinen Geschmack der zugegeben nicht mangelfreie Chorgesang bei Leusink besser zu der Kantate passt als der perfekte, auf mich unpersönlich wirkende Gesang des Monteverdi-Chores. Harnoncourt gefiele mir sehr gut, wenn nicht der Seppi Kronwitter wäre. Schlimmer noch als den Klang seines Knabensoprans finde ich seine Aussprache. Und der bei der Kantate BWV 140 noch so gescholtenen Holton gebührt hier tatsächlich die Krone.


    Unabhängig von den Aufnahmen empfinde ich übrigens stets den Schlusschoral als zu kurz. "Bleib nicht lange", scheint Bach hier auch auf die Dauer des Stückes bezogen zu haben.


    Wissend, dass Alfred keine links mag, erlaube ich mir gleichwohl, hier auf die online greifbaren Noten dieser Kantate hinzuweisen. Sollten die Moderatoren diesen link nicht wollen, mag er gestrichen werden:


    "http://www.dlib.indiana.edu/variations/scores/cab8932/large/index.html
    (auf der linken Seite nach unten scrollen!)


    Thomas

  • Satz 3 Aria Tenor: „Komm Jesu komm zu deiner Kirche“


    Allein schon über das Orchestervorspiel könnte man sehr viel schreiben – bei entsprechender Spielweise können die Streicher hier die Noten zu einer Predigt in Tönen werden lassen.
    Im weiteren Verlauf der Arie kommentiert das Orchester im Dialog mit dem Tenor den Text, wirft Redeteile ein und legt somit aus.
    Aus Gründen des Umfangs möchte ich nur auf eine markante Stelle des Orchestervorspiels eingehen, und zwar Takt 14 bis zum Schlusston in Takt 17.
    Eigentlich hätte Bach den Schlusston C schon auf der Eins des Taktes 15 setzen können.
    Stattdessen kommt nach dem kleinen H des letzten Tons von Takt 14 auf der Eins von Takt 15 schon wieder ein H, diesmal eine Oktave höher und mit einem längeren Notenwert.
    Abgesehen davon, dass die Schlusswendung ohne diesen Einschub wesentlich langweiliger ausgefallenen wäre, haben die Takte 15 und 16 wohl auch eine rhetorische Bedeutung, die man durch den Vortrag der Streicher auch hören sollte:
    Die Stelle scheint mich an einen Redner zu erinnern, dem noch kurz bevor er den letzten Satz beenden will, noch ein wichtiger Gedanke einfällt, den er vor der Verabschiedung unbedingt noch einmal betonen möchte.
    Ein sehr profanes Beispiel: Eine Mutter packt ihrem Sohn den Koffer für eine Klassenfahrt und hält ihm eine lange Rede, an was er alles denken soll. Bevor sie fertig ist und er schon in der Hauseingangstür steht, sagt sie zum Schluss noch einmal: „Und denk dran: Du sollst an deine Mütze - DIE MÜTZE sollst du nicht vergessen immer schön aufzusetzen!“
    Ob die Streicher hier quasi so etwas Ähnliches sagen“ wie z.B. : „ ....ein selig neues, SELIG neues Jahr“ ? Ganz so konkret kann man es nicht immer deuten, aber für bemerkenswert halte ich die Stelle schon.
    Bei dieser Sichtweise scheint es mir folgerichtig zu sein, das H auf der Eins von Takt 15 mit einem deutlichen Nachdruck zu spielen. Bei Parallelstellen, die während des Tenorgesangs stattfinden, sollte man den Akzent nur im Piano sehr wenig andeuten, um erstens den Tenor nicht damit zu stören und zweitens nicht so eine „Pointe“ stur durchs ganze Stück wie ein Schema anzuwenden.


    Etwas zu einigen Interpretationen möchte ich auch noch erwähnen:


    Zitat


    Original von alfons
    Über das, was in dieser Arie bei Harnoncourt zwischen den Streichern und dem Tenor passiert, könnte Glockenton wahrscheinlich mindestens fünf Seiten schreiben. Ich beschränke mich da auf ein einziges Wort: genial


    Um es nicht zu fünf Seiten kommen zu lassen ;) , schließe ich mich hier einfach den Worten alfons an und empfehle genaues Hinhören mit Partitur und die gleichzeitige Bereitschaft, sich emotional mitnehmen zu lassen.
    Auf der wesentlich neueren Harnoncourt- DVD formulieren die Streicher des Concentus musicus Wien ihre Klangrede noch um einiges eloquenter und eindrucksvoller, als auf der älteren Teldec-CD.
    Meinem Geschmack und meinem Verständnis einer instrumentalen Bachinterpretation kommt dies schon sehr nahe.
    Zum Gesang der Tenöre Kurt Equiluz ( CD) oder Ian Bostridge (DVD) kann ich nur Gutes berichten. Es ist klar, dass man bei einem Live-Mitschnitt wirklich sehr kleine Ungenauigkeiten tolerieren sollte. Diese fallen mir nur dann auf, wenn ich mich bewusst konzentriere und die Arie von der DVD – wie im Abhörraum eines Tonstudios- sehr oft hintereinander höre.


    Vielleicht nicht ganz so rhetorisch prägnand, dabei sogar etwas weicher und langsamer ( !), doch trotzdem insgesamt sehr überzeugend und angenehm zu hören: So würde ich die Orchesterbegleitung dieser Arie in der Ausführung durch Gardiners English Baroque Soloist beschreiben. Tenor Anthony Rolfe-Johnson singt diese Arie einfühlsam und mit gewohnter Souveränität.


    Etwas schade finde ich das in meinen Ohren deutlich zu schnelle Tempo bei Herreweghes Einspielung. Es gibt möglicherweise gut vertretbare Gründe für diese wohl in größeren Einheiten empfindende Sichtweise. Für mich muss dabei über viele wichtige „Aussagen“ der Streicher sozusagen aus Zeitgründen hinweggegangen werden, wodurch sich bei mir der Eindruck einer gewissen, darüber hinweghuschenden Oberflächlichkeit einstellt. Die trotz allem vorzügliche Leistung des fabelhaften Christoph Prégardien möchte ich aber gleichzeitig nicht unerwähnt lassen.


    Auf weitere Interpretationen gehe ich mit Verlaub nicht weiter ein.
    Hierzu ist auch schon in diesem Thread viel geschrieben worden.


    Es kann interessant sein, die manchmal übereinstimmenden und manchmal wiedersprüchlichen Höreindrücke verschiedener Bachfreunde hier zu lesen. Doch ersetzen diese m.E. niemals die Notwendigkeit, durch eigenes genaues Hören verschiedener Aufnahmen sich sein eigenes Bild über die Aufführungen zu machen und vielleicht auch einmal seine Hörgewohnheiten dadurch auf den Prüfstand stellen zu lassen.
    Wer Noten lesen kann oder dies ausgerechnet durch das Mitlesen von Bachkantaten lernen möchte, dem empfehle ich dringend, sich die Noten zu besorgen ( ggf. auch durch Internet-Download).
    Man hört tatsächlich mehr, auch wenn man die Kantate nicht jedes Mal mitlesen, sondern manchmal nur mit vielleicht geschlossenen Augen auf sich wirken lassen will.


    Vielleicht können unsere hier niedergeschriebenen Gedanken zum Werk und zur Interpretationen einigen interessierten Bachfreunden mit noch nicht so umfangreicher Hörerfahrung eine Hilfe sein, sich in die immer wieder erstaunlichen Klangwelten der Bachkantaten einzuhören.
    Damit wäre schon viel Gutes erreicht.


    Zur Klopfarie wurde schon einiges geschrieben, weshalb ich in meinem nächsten Beitrag gerne gleich auf die Sopranarie eingehen möchte – unter dem Vorbehalt, dass ich dazu komme...


    Gruss :hello:
    Glockenton


    ThomasNorderstedt
    Hallo Thomas,


    für einen Link, bei dem man sich diese Noten herunterladen kann, bin ich immer sehr dankbar! :)

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Satz 5 Aria Soprano Solo: “Öffne dich, mein ganzes Herze”


    Wieso möchte ich schon wieder schreiben, dass diese Arie eine der schönsten Arien von Bach ist? Ich nehme an, dass es mir bei so mancher Bacharie noch so gehen wird...


    Als Reaktion auf die klopfende und ernste Mahnung des Basses: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“ reagiert die Seele ( bei Bach sehr häufig durch den Sopran dargestellt) mit Aufforderung an sich selbst: „Öffne dich, mein ganzes Herze“


    Diese Arie ist ein weiteres, anschauliches Beispiel, dass die Instrumente bei Bach in plastischer Klangrede den ebenfalls ziemlich instrumental gesungen Text auslegen, und damit die Musik zu einer Predigt in Tönen wird.
    „Normal“ ist an der Continuobegleitung der Arie eigentlich kaum etwas...


    Die folgenden Überlegungen kann man wohl nur nachvollziehen, wenn man die Noten vor Augen hat, weshalb sie hier mit meinen handschriftlichen Eintragungen zu sehen sind.


    Im Thema des Continuos gibt es zwei bestimmende Gedanken, die durch Figuren ausgedrückt werden:
    A: Die Geste des Öffnens
    B: Das vor Freude schlagende Herz



    Interessant ist erst einmal, dass hier zwar der ¾ -Takt steht, die sich aus den Figuren und der Harmonien ergebenden Betonungen aber gegen die im ¾ -Takt übliche Betonung 1 2 3 zu gehen scheinen.


    A:
    Da die ersten Noten einer Einheit im Barock gewöhnlich stärker gespielt werden als die späteren und auf der Eins von Takt 1 eine Pause steht, beginnt die über dem Grundrhythmus stehende Betonung bereits mit den ersten 3 Noten der Geste des Öffnens.
    Für die Sekundintervalle sehe ich ein sehr enges quasi-Legato ( Abstrich/Aufstrich/Abstrich) als die geforderte Artikulation an.
    B:
    Das „schlagende Herz“ lässt sich in Takt 2 bis 7 ( erstes Viertel) beobachten.
    Dieser Teil besteht aus kleinen Unterteilungen B0 bis B4, die Auswirkungen auf die Betonungen der Detaildynamik haben.


    B 0 : Note d, zweites Achtel Takt 2 sehe ich als Auftakt zur nächsten Einheit B 1, der mit langem Aufstrich dynamisch auf die „1“ ( Note e, drittes Achtel) hinführen sollte.


    B 1: die unteren Noten „e“ „fis“ g“ sehe ich als die Hauptnoten einer verschobenen ¾-Einheit, die oberen Harmonienoten „c“ „c“ „h“ dienen Bach zusammen mit den unteren Bassnoten zur Darstellung des schlagenden Herzens in Achtelbewegung.
    Die in Dreiereinheiten sich auflösenden harmonischen Sequenzen unterstreichen die von mir empfundene Einteilung. Die Akkorde habe ich in heutiger Bruchstrichschreibweise aus Platzgründen ab Takt 8 in eine Parallelstelle eingezeichnet ( die platzsparendere Generalbassbezifferung versteht u.U. nicht jeder)



    C2/E -> D7/Fis -> G
    Man sollte als Musiker auch in diesem figurierten Zusammenhang im Hinterkopf haben, dass nach den Regeln der historischen Aufführungspraxis die Auflösung schwächer als die Vorhalte gespielt werden muss.


    B 2: Analog zu B 1 , die Akkorde sind hier: C6 -> D-> Em


    B 3: Analog zu B 1 und B 2, die Akkorde sind hier: F6/A ->G7/H -> C


    B 4: Hier sehe ich die Noten „a“ „fis“ ( drittes und viertes Achtel Takt 5 auftaktig zu den folgenden Tönen, und zwar aus rhythmischen und harmonischen Gründen.
    Von dieser Stelle aus gesehen empfinde ich die hemiolischen Betonungen bis zum Schlusston G so: und ( +) 1 2 -> 1 2 1
    Die Harmonien unterstützen diese Sichtweise: D7/A bezieht sich „auftaktig“ auf G/H; über die funktionsharmonisch vierte Stufe C6 drängt es dann in die Schlussakkorde G/D ->D7-> G.
    Diese Betrachtungen sind keine Haarspaltereien, sondern führen zu einem wesentlich überzeugenderem Continuospiel. Nach den harmonischen Auflösungen sollte der Organist m.E.. leicht absetzen und nicht durch ein durchgehendes Legato die Struktur zukleistern.


    Dies gilt auch für die Pause in Takt 2, die eigentlich schon etwas vorher beginnt, denn der letzte Ton von Takt 1 sollte nicht Tenuto bis zur Achtelpause durchgehalten werden, sondern viel mehr um ca. die Hälfte verkürzt gespielt werden ( etwas mehr als der Wert einer Achtelnote) – das dynamische Zurückschwingen der Glockenton-Dynamik des Cellos sollte der Organist durch passgenaues Wegnehmen der Finger von den Tasten nachvollziehen. Für völlig falsch hielte ich es hier, die Pause durch die Orgel zu negieren, denn sie hat die wichtige Trennungsfunktion (das Komma der Klangrede) zwischen den Figuren unterschiedlicher Bedeutung.


    Auf den jeweils ersten Noten der gedachten Einheiten sollte m.E. der Cellist etwas breiter und agogisch länger spielen, auch eine leichte Betonung wäre angebracht, vor allem auf dem ersten „e“ von B 1. Diese Note würde ich auch als Cellist ( der ich leider nicht bin :( :() mit einem Vibrato versehen, ebenso die das erste „d“ von B4/2 .


    Ausgehend davon, dass weitere Intervalle nach den Regeln der Bachzeit eher abgesetzt zu spielen sind, sehe ich für das „schlagende Herze“ (B) insgesamt ein weiches Portato als die richtige Artikulation an.


    Ab Takt 16 ff. passiert rhythmisch zwischen Sopran und Continuo sehr viel.
    Um nicht alles in Worten beschreiben zu müssen, verweise ich auf meine Eintragungen in den Noten.
    Während der Sopran „Jesus kömmt und ziehet ein“ singt, wirft der Continuobass seine polyrhythmischen „Öffne Dich“ –Figuren ein
    Solche Dinge ergeben sich wie von selbst aus der korrekten Aussprache der Klangrede.



    In Takt 27 ff. geht das polyrhythmische Spiel weiter. Sopran und Continuo werfen sich das „Öffne dich“ hin und her. Es ist aber noch viel mehr, als ein reines Echospiel:
    „Öffne dich, öffne dich mein ganzes Herze“
    Durch die Wiederholung des Textes „Öffne dich“ wird beim zweiten Mal die raffinierte hemiolische Betonung auf das „dich“ und die folgenden betonten Sylben gelegt, was dem Text mehr Nachdruck verleiht.


    Währenddessen kombiniert das Continuo in Takt 29 (mit Auftakt) die Figur des Öffnens mit dem vorher in Takt 16 vom Sopran vorgestellten Wendung „ Jesus kömmt“.
    Der Kunstgriff wird deutlich, indem man die erste Note von Takt 29 zwar etwas breiter, aber doch noch abgesetzt (siehe Achtelpause) spielt, wodurch es gleichzeitig die letzte Note der „Öffne dich“ – Figur bleiben kann. Was in der Sprache unmöglich wäre, nämlich die Worte „dich“ und „Jesus“ gleichzeitig zu sprechen/singen, ist musikalisch in der barocken Klangrede also möglich.



    Die Hemiole ab Takt 35 ( durch die eingekreisten Zahlen habe ich den gedachten 3/2- Takt angedeutet) sollte man auch hören können.



    Ab Takt 43 werden die Bässe zu einer normalen Achtelbegleitung, die trotzdem ausdrückend ist.
    Bei „Staub und Erde“ macht die verminderte Harmonik des Continuos eine demütig-pathetische Verbeugung; es gerät sogar ein verminderter Akkord auf die Takteins von Takt 43.
    Hier muss der Ton m.E. unbedingt dynamisch und von der Tongebung her hervorgehoben werden. Bei „doch nicht verschmähn“ werden die Continuobässe wieder harmonisch aufgehellt und brauchen nicht mehr in der „demütigen“ Tiefe geführt werden.




    Bei dieser Arie hat sich Bach entschieden, wenig „normale“ Continuobässe zu verwenden, den ab Takt 47 wird es schon wieder „unnormal“ : Wir hören und sehen für Bach wohl typische „drehende“ Seligkeitsfiguren, die wir in ähnlicher Form auch schon bei BWV 140 Duett „ Mein Freund ist mein...“ in den Oboenstimme gesehen haben.
    Obwohl man die kleinen Absätze der von mir eingezeichneten Einheiten hören sollte, meine ich hier, dass diese nur angedeutet, nicht aber sehr deutlich gemacht werden sollten, da ich hier bis zum Schlusston auch einen grossen Spannungs-Zusammenhang sehe.
    Zum Schluss hin werden die Seligkeitsfiguren von weicher artikulierten ( gebundene 16-tel-Paare) „Herzfiguren“ abgelöst, die nun passend zum Grundmetrum in ruhiger Seligkeit zu den Schlussakkorden des B-Teils hinführen.



    Jesus ist eingezogen, das Herz schlägt ruhig „im richtigen Takt“ , die freudig erregte „Herzrhythmusstörung“ des A-Teils ist der vollkommen ruhenden Seligkeit gewichen, was auch durch den ruhenden Orgelpunkt auf dem kleinen d im Bass verdeutlicht wird.
    Die Harmonik setzt hier nicht wie zuvor Gegenakzente zur Taktbetonung, sondern ruht selig auf dem Orgelpunkt, und zwar in kreisförmig wiederkehrenden G/D -> D -Akkorden.
    Nun kann sich die Seele ausruhen ( auf dem Orgelpunkt ;)) , denn Jesus wohnt im Herzen.


    Als mögliche Affekte sehe ich für diese Arie eine Mischung aus Intimität und freudiger Erregtheit, die im B-Teil in innig-schwärmerische Seligkeit übergeht.


    Auf einige auf Konserven vorliegende Interpretationen gehe ich ggf. im nächsten Beitrag ein.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo!


    Ich bin wirklich tief beeindruckt über das Bach-Kantaten-Fachwissen, das hier im neuen Unterforum von verschiedenen Taminos zu Tage tritt! 8o:jubel:


    Ich traue mich ja kaum, selbst etwas zu schreiben... :O
    Beim Bach-Kantaten-Hören bin ich noch Anfänger.


    Heute habe ich mir meine beiden Aufnahmen von BWV 61 angehört:



    Harnoncourts Interpretation finde ich irgendwie ungewöhnlich akzentuiert, es wirkt spritzig und facettenreich und macht (mir zumindest) Freude beim Zuhören.
    Gardiner finde ich im Vergleich eher nüchtern und konzentriert, das paßt aber zu Bach wahrscheinlich besser. Zumindest würde ich diese Aufnahme eher als persönliche Referenz in Betracht ziehen.
    In eine ruhige besinnliche Adventsstude passen aber beide nicht so recht.
    Den Ausschlag gibt für mich die Arie "Öffne dich, mein ganzes Herz": Der Knabensopran bei Harnoncourt ist ja furchtbar! 8o :wacky: :motz:
    Sorry, aber da muß ich abschalten bzw. weiterzappen! Schade!


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Satz 5 Aria Soprano Solo: “Öffne dich, mein ganzes Herze” - Interpretationen


    Diese Arie ist für mich ein schönes Beispiel dafür, dass Bachs Musik unter Einhaltung gewisser notwendiger Grundsätze ( die im Forum schon oft angesprochen, angezweifelt und verteidigt wurden) ziemlich unterschiedliche und dennoch überzeugende Interpretationen verträgt und diese sicherlich auch herausfordert.
    Es kann also sein, dass bei vier durchaus unterschiedlichen klanglichen Realisierungen trotzdem jeder Interpret recht hat, wenn eine gewisse Basis vorhanden ist.
    Die schlichte "0 oder 1-Denkweise" eines Computers wird dieser hohen Kunst also niemals gerecht.


    Nun zu den einzelnen mir bekannten Aufnahmen:


    Karl Richter


    Diese Aufnahme habe ich, wie schon gelegentlich erwähnt, noch als 11-jähriger sehr genossen und geliebt.
    Heute sehe ich sie als ein schon historisches Dokument einer handwerklich hochwertigen Bachinterpretation, die aus einer Zeit stammt, in der sich jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung noch nicht so viele dafür interessierten, wie man Bachs Notenskelette aus dem Kontext einer historisch informierten Spielweise heraus verstehen könnte.


    Von dem, was ich in meinem vorherigen Beitrag versucht habe zu vermitteln, höre ich hier nicht sehr viel.
    Das Continuo spielt in meinen Ohren nach dem eher schlichten Konzept, die Sängerin mit einem fromm und schön andächtig klingenden Background zu unterstützen.
    Dadurch, dass die Orgel die Einschnitte bewusst überspielt, wird dem Hörer die semantische Struktur der Klangrede nicht eben verdeutlicht.
    So werden etwa die rhetorisch wichtigen Pausen ( z.B. Takt 2 auf Eins) hier mit imitierenden Improvisationen ausgefüllt.
    Wie die Orgel, so zelebrieren von Anfang bis zum Ende auch die sonstigen Bassinstrumente ihre durchgehende Legatokultur.
    Eine sprechende, barock-farbenreiche Spielweise kommt durch solch eine Einheitsartikulation kaum zustande, wodurch dem Hörer nur die Schönheit der Melodieführung und der harmonischen Progression vermittelt wird.
    Noch reizvoller ist es m.E., wenn der Hörer noch die zusätzliche Möglichkeit bekommt, die „Predigt in Tönen“ durch Detaildynamik, eine farbenreiche Tongebung und eine reichhaltige Artikulation verstehen zu können.
    Der etwas opernhafte Gesang von Edith Mathis passt in diese Gesamtinterpretation hervorragend hinein:
    Man hört ein vibratoreich – ausdrucksvolles Timbre und einen auf die gesangliche Schönheit der großen Linie abzielenden Vortrag . Von der naiven „Schlichtheit“ eines sich öffnenden Herzens möchte ich hier jedoch nicht sprechen.
    Wenn es um das rein handwerkliche Niveau der Aufführung geht, muss man dieses durchweg anerkennen. So entwickelt etwa das Orgelcontinuo in den Solopassagen harmonisch und melodisch durchaus überzeugende Lösungen.


    Harnoncourt 1


    Ein angenehm-heilsamer Schock war für mich in jener Zeit meine erste Bekanntschaft mit Harnoncourts damaliger Interpretation dieser Arie ( Teldec-Gesamtaufnahme).


    Zum ersten Mal habe ich damals durch Harnoncourts und Tachezis Continuospiel angefangen zu begreifen, dass die Continuobässe bei Bach wirklich etwas zu sagen haben. Sie sind in der Tat viel mehr, als nur die klangliche Untermalung einer schönen Sopranmelodie.
    Das meiste von dem, was ich in meinem Beitrag weiter oben versucht habe zu beschreiben, kann man hier wirklich hören: Die Geste des Öffnens, das schlagende Herz, die ausdrucksvollen Achtelbässe im B-Teil, die schwärmerische Seligkeit etc.
    Tachezi demonstriert hier, wie gutes und sprechendes Orgel-Continuospiel aussehen kann.
    Der Knabensopran fügt sich nach besten Kräften in das Interpretationskonzept Harnoncourts ein. Dass bei dem hochmusikalischen Jungen noch keine technisch-musikalische Meisterschaft vorhanden war, höre ich natürlich wie meine Vorschreiber auch.
    In Takt 30 etwa ( siehe Notenbeispiel oben) möchte er zurecht den dynamischen Höhepunkt auf dem Triller singen, aber seine Stimme überschlägt sich dabei fast.
    Seine sehr bewusste Aussprache von „Staub und Erde“ nährt bei mir die Vermutung, dass er damals wohl ein großer Bewunderer Fischer-Dieskaus war...
    Es ist in der Tat eine für das Alter erstaunliche, aber dennoch sicherlich recht „unfertige“ Leistung eines jungen Menschen, die man hier in der durchaus ungleichen Kombination mit einem meisterhaft gespielten Continuo hört.
    Trotz dieser unbestreitbaren grundsätzlichen Problematik habe ich viele Jahre lang diese Aufnahme vielen anderen vorgezogen, vor allem solchen, wie der oben besprochenen Richter/Mathis-Fassung.
    Mir kam es mehr auf eine inspirierte musikalische Gesamtinterpretation an, die besonderen Wert auf den Aspekt des Redens in Tönen vor allem im instrumentalen Bereich legt.
    Die Perfektion der Vokalpartien erschein mir demgegenüber zweitrangig zu sein.
    Mittlerweile habe ich meine Meinung hierzu jedoch geändert.
    Im Laufe der Zeit entdeckte ich, dass mich die unbestreitbaren Unvollkommenheiten der Knabensolisten zunehmend zu stören begannen.
    Hier geht es ja auch um den an sich künstlichen Zustand der auf Tonträgern eingefrorenen und deswegen immer wieder gleich erklingenden Musik.
    Bei einem einmaligen Konzert wird man möglicherweise gewisse Unzulänglichkeiten als weniger störend empfinden.


    Harnoncourt 2


    Umso mehr freute ich mich natürlich, als ich vor wenigen Jahren eine neue Harnoncourt-Fassung dieser Kantate auf DVD erschien.
    Auch Harnoncourt ist ja schon längst davon abgewichen, Knabenstimmen für seine Aufführungen Bachscher Vokalwerke einzusetzen.
    Auf dieser DVD wird Arie von der Sopranistin Christine Schäfer wesentlich reifer und überzeugender als einige Jahrzehnte vorher vom Knabensopran vorgetragen.
    Das Continuo-Duo Tachezi/Tachezi gefällt mir unter den von mir im vorherigen Beitrag angesprochenen Aspekten wirklich sehr gut, in den Details besonders auch der Cellist Herwig Tachezi.
    Sehr wichtig finde ich z. B. auch, dass die Viertelpause in Takt 1 wirklich zu einem bewusst gestischen Einatmen genutzt wird.
    Obwohl ich hier insgesamt mit großem Genuss zuhöre, kann mich Christine Schäfers Gesang nicht wunschlos glücklich machen.
    Das Timbre dürfte für meinen Geschmack hier etwas weniger Vibrato enthalten, die Detaildynamik könnte vor allem bei Trillervorhalten weniger flächig sein, und die nicht besonders sauber gesungenen Triller lassen jene Duktus vermissen, den man z.B. von Emma Kirkbys „Barockgesang“ her kennt.


    Emma Kirkby/London Baroque Ensemble


    Ziemlich gut gefällt mir dann auch Fassung mit der Sopranistin Emma Kirkby und dem Ensemble London Baroque hinsichtlich vieler der von mir als wichtig eingestuften Aspekte.
    Allerdings enthält diese bei BIS erschiene Weihnachts-CD mit dem Titel „A Baroque Celebration“ nur diese Sopranarie von BWV 61 und nicht die ganze Kantate.
    Wer aber –so wie ich- Emma Kirkbys Gesang grundsätzlich sehr schätzt, der wird den Kauf dieser CD sicherlich schon in Erwägung gezogen haben.


    Herreweghe


    Die bei Richter aus meiner Sicht ziemlich einseitig hervorgehobene Schönheit der Melodieführung geht bei Herreweghe trotz der Beachtung gewisser Grundlagen der historischen Aufführungspraxis überhaupt nicht verloren, was sicherlich auch daran liegt, dass er tendenziell mehr als andere Bachinterpreten eine mehr gebundene Artikulation bevorzugt.
    Diese Arie macht auf mich in Herreweghes Interpretation einen besonders abgerundeten, vollkommenen und stimmigen Eindruck. Sein Tempo ist dabei um einiges langsamer als Harnoncourts Tempi.
    Überzeugend finde ich hier auch, dass der Aspekt des schlichten, naiv-ehrlichen und einfachen Herzens m.E. sehr gut zu hören ist. An Sibylla Rubens Gesang kann ich absolut nichts aussetzen, ebenso wenig an der hier hervorragenden Aufnahmetechnik ( gilt leider nicht für die eher undurchsichtig klingenden Tutti-Aufnahmen von Satz 1 und Satz 6)


    Gardiner


    Wirklich sehr erfreulich finde ich auch Gardiners Fassung dieser Arie!
    Vor allem vor der Glanzleistung der Sopranistin Nancy Argenta kann man hier tief beeindruckt sein, aber auch vom Spiel der Continuogruppe ( zum Glück ohne Cembalo !), an dem ich sehr viel loben und nicht wirklich etwas aussetzen kann.
    Die Art, wie Argenta hier die Trillervorhalte singt, gefällt mir besonders gut.
    Gardiners Tempo ist annähernd das gleiche wie bei Harnoncourt.



    Fazit: Die schwierige Frage, welcher Fassung ich den Vorzug gebe, kann ich kaum beantworten. Klar ist, dass man nachdem man Nancy Argenta (Gardiner) oder Sibylla Rubens (Herreweghe) gehört hat, sich kaum noch den Knabensopran (Harnoncourt 1) zu Gemüte führen möchte, obwohl im Continuo viele schöne, wichtige und richtige Dinge passieren.
    Die Richter-Fassung kann ich nur eingefleischten Richter/Mathis-Fans empfehlen, denen die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis nicht besonders am Herzen liegen.


    Der Affekt der heiligen und reinen Naivität des Herzens ist bei allen genannten Interpretationen ( außer Richter/Mathis) hörbar, naturgemäß auch und besonders bei der mit dem Knabensopran.
    Während bei Harnoncourt/Gardiner/London Baroque als Grundaffekt ein vor freudiger Erregung schlagendes Herz angenommen werden kann,
    dass erst bei der Stelle mit dem Orgelpunkt zur vollkommenen Ruhe kommt, hört es sich für mich in Herreweghes intim-langsamerer Version nach dem vorsichtigen Öffnen einer zarten, verletzlichen Blume an. Man merkt wirklich, dass der Mann einmal Psychologie studiert hat.
    Es ist ihm auch hervorragend gelungen, seine Vorstellungen von runder Klangschönheit auf die Sängerin Rubens zu übertragen.
    Bei Harnoncourt 2 hört man den Aspekt der instrumentalen Klangrede besonders lebendig, überzeugend und deutlich, bei Kirkby/London Baroque und vor allem Argenta/Gardiner begeistern die Vokalanteile der „Barocksopranistinnen“ besonders, aber auch die instrumentalen Anteile werden hervorragend musiziert.
    Wenn jemand diese Musik also derart liebt wie ich, dann muss er wohl allein schon wegen dieser Arie alle der hier besprochenen Aufnahmen haben ( Koopmans Aufnahme kenne ich leider noch nicht, wird aber sicher noch angeschafft)
    Wenn ich z.B. nun Harnoncourt 2/ Schäfer ( DVD) , Rubens/Herreweghe( CD) , oder Argenta/Gardiner (CD) höre, empfinde ich es so, dass mir gerade die Version, die ich im Moment höre, am besten gefällt und ich neben der tiefen Freude beim Hören auch viel davon lerne.
    Zum jetzigen Zeitpunkt favorisiere ich gerade Gardiners Einspielung, was sich aber bald auch ändern kann...vor zwei Stunden glaubte ich noch, dass nichts über das weiche Öffnen des Blumenkelchs bei Herreweghe geht.


    Lieber Herr J.S. Bach, vielen Dank dafür, dass Sie sich diese wunderbare Arie haben einfallen lassen!


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Satz 6, Schlusschoral Amen, Amen


    Hier gefällt mir eindeutig Harnoncourts zweite Fassung (DVD) am besten.
    Im Gegensatz zu anderen Barockensembles artikulieren die Concentus-Streicher hier die 16-tel der Violinen ausführlicher, d.h. sie spielen nicht einfach alles detaché sondern definieren Figurgen dadurch, dass sie an den passenden Stellen oft drei 16-tel unter einen Bogen setzen und das vierte 16-tel davon abgesetzt gespielt wird.
    Der Anfang des Satzes wird hier besonders kraftvoll gespielt, während ab den letzten vier Takten die Kraft allmählich aus der Musik genommen wird. Der in schwungvoll nach oben gerichtete Lobpreis wird bei Harnoncourt zum Schluss überraschend ( und doch sehr organisch!) weich und friedvoll, wodurch eine Besonderheit der instrumentalen Begleitung gut hörbar wird:
    Die ersten Violinen wurden in den Schlusstakten von Bach in für damalige Barockorchester ungeahnte Höhen geführt. Überhaupt sind die 16-tel Begleitfiguren dieses Schlusschorals bemerkenswert.
    Mir kommen sie wie ein Heiligenschein vor; so als ob der Glanz der „Freudenkrone“ nachgezeichnet werden soll. Hierfür spricht, dass der Chor-Alt diese instrumentalen Figuren in Takt 5 mit der Melisma auf dem Wort „Freudenkrone“ übernimmt.
    Dieser Glanz geht im Schlusstakt dahin zurück, wo er hergekommen ist, nämlich in den Himmel, zu Gott.
    Aus diesem Grund ist Bach wohl auf die Idee gekommen, die ersten Violinen zum Schluss in ungewöhnliche, geradezu schwindelerregende Höhen zu führen.
    Ein zarter, schon fast verhauchender Schluss im Piano, wie hier bei Harnoncourt zweiter Fassung, scheint mir für diesen Satz besonders gut geeignet zu sein.


    Auch nicht schlecht gefallen mir Gardiners und Herreweghes Schlusschoräle.
    Auf gewisse raffinierten Feinheiten bei den Violinen und den weichen Piano-Schluss muss der Concentus –gewohnte Hörer zwar verzichten. Dafür kann er sich aber an einer besonders vorbildlich polyphonen Durchhörbarkeit des Monteverdi-Chores und des hochkultiviert klingenden Collegium vocale Gents erfreuen.
    Beide Bachdirigenten schlagen hier ein grundsätzlich schnelleres Tempo als Harnoncourt an, der in seiner DVD-Fassung allerdings auch ein erheblich zügigeres Tempo als in der alten Teldec-Ersteinspielung wählt.
    Mag sein, dass Harnoncourt mit seinem Mut zu manchmal durchaus genial – subjektiven Einfällen hin und wieder auch danebengegriffen hat ( siehe manche Details aus der zweiten Messias-Aufnahme)
    Hier jedoch liegt er m.E. genau richtig und erreicht einen sehr spannungsvollen und bewegenden Abschluss der Kantate, bei dem die Live-Zuhörer erst nach einigen endlosen Sekunden wagen, die Hochspannung durch Applaus aufzulösen.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Heute ist es also wieder soweit - 1. Advent.


    Des Kronwitter-Arguments habe ich mich mittlerweile entledigt, es standen die Interpretationen von Richter und Gardiner auf dem Programm.


    Richter dirigiert ein recht gemütliches Tempo, der Klang wirkt irgendwie "einlullend". Für eine ruhige, besinnliche Adventsstimmung gerade richtig. Nur leider reißt er mich mit dem forschen Schlußchor recht abrupt wieder in die Realität zurück.


    Danach wirkt Gardiner recht zügig (insgesamt viereinhalb Minuten kürzer) und unsentimental, aber nach ein paar Minuten stellt sich auch hier beim Anhören die gewünschte beseelte Stimmung ein.


    Ich wünsche allen einen frohen 1. Advent!
    Pius.


  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose