Deutsche Musikkultur im 20. Jahrhundert – Thesen zu geplanten Beiträgen

  • Dem Sprachgebrauch der entsprechenden Literatur folgend, ist hier mit „deutsch“ der deutsprachige Raum gemeint, also auch Österreich und die Schweiz, aber aus einer von Deutschland ausgehenden Sicht. Das wirft natürlich bereits Fragen auf, um die es jetzt aber nicht gehen soll.


    Der Tod von Joseph Joachim 1907 war ein Einschnitt. Jahrzehntelang hatte er die Hochschule für Musik in Berlin geleitet und mit Clara Schumann und Hans von Bülow die deutsche Musikkultur geprägt. (Siehe auch den früheren Beitrag). Verschlossen gegen alle Neuerungen brachte sie sich immer weiter ins Abseits. Das war keine Sonderentwicklung, sondern typisch für das Selbstverständnis des deutschen Bürgertums in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg. Um so größer der Schock, als der Krieg verloren ging und in Deutschland alle Werte infrage gestellt wurden, recht anders, als von den Schopenhauer- und Nietzsche-Begeisterten erwartet worden war.


    Es brauchte einige Jahre, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. 1923 veröffentlichte Richard Benz "Die Stunde der deutschen Musik". Dieses Buch zu lesen ist wie eine Offenbarung: Da wird alles ausgesprochen, was seit der Restauration nach 1848 unterschwellig fortgetragen wurde. So ein Buch war erst in den aufwühlenden Nachkriegsjahren möglich, und es machte entsprechend Furore.


    1925 hielt Paul Bekker die Radiovorträge "Musikgeschichte als Geschichte der musikalischen Formwandlungen", Heinrich Schenker begann mit der Herausgabe von "Das Meisterwerk in der Musik", und Ernst Bloch veröffentlichte "Über das mathematische und dialektische Wesen in der Musik". Damit waren alle Grundpositionen auf dem Tisch, um die es dann im weiteren ging. Allerdings waren sie nach 1945 ebenso schnell wieder vergessen, wie sie 1925 die Öffentlichkeit geprägt hatten.


    Das alles zu verstehen ist noch ein weiter Weg, hier daher nur einige erste Thesen. Schenker sieht bei Rameau und dessen Harmonielehre eine Weichenstellung. Er schreibt: Während "in Deutschland durch zwei Jahrhunderte Musikgenies, die, als gäbe es ringsum keine falschen Kunstlehren, ja überhaupt noch keine, aus den noch ganz verkannten obgleich mitgeborenen Grundgesetzen der Musik ... die Musik zu einer nie geahnten Entfaltung bringen", wurden in Frankreich der Obertonlehre folgend nacheinander die Sept, die Non, ja Undez- und Tredez-Akkorde eingeführt und gab es schließlich kein Musikgefühl mehr, das dem Jazz mit seinen Blue Notes und anderen Exotika aus allen Ländern dieser Welt hätte Einhalt gebieten können. Der Sache nach unterstützt er die damals weit verbreitete Haltung, dass sich Deutschland wieder auf seine eigenen Ursprünge in der Musik der Zeit von Heinrich Schütz zu besinnen hat, so die Orgel- und Singbewegung der 1920er.


    Adorno hat das in den Jahren 1941 - 1949 nochmals radikalisiert. Er greift Blochs Unterscheidung des dialektischen und mathematischen Wesens in der Musik auf und entwickelt daraus in seiner "Philosophie der neuen Musik" den "räumlich-regressiven, ... rhythmisch-räumlichen" Hörertyp einerseits, der dem "Schlag der Trommel ... gehorcht", und den "expressiv-dynamischen" andererseits, der "seinen Ursprung im Singen" hat und "aufs erfüllende Bewältigen der Zeit gerichtet" ist. Da ließen sich neue Erscheinungen wie Jazz, Rock'n Roll usw. bequem einordnen. Doch ist nicht zu übersehen, wie sich in dieser Philosophie ein weiteres Mal alle Vorstellungen der 1920er munter durcheinander mischen mit vielen Anspielungen, welche Musikrichtung denn nun durch den Nationalsozialismus desavouiert sei und welche nicht. Die Musiktheorie droht jede Wert-Orientierung zu verlieren.




    Berlin, Alter Philharmonie, nach der Zerstörung im November 1943


    Damit war nur 50 Jahre nach Joseph Joachim eine eigenartige Lage entstanden. Wie würden die Professoren aus der von ihm gegründeten Hochschule heute urteilen: Die "Stunde der deutschen Musik" scheint endgültig Geschichte, Schuberts Schwanengesang konnte substanziell nichts mehr hinzugefügt werden. Nur Brahms hat auf verlorenem Posten versucht, im alten Stil weiter zu machen. Liszt, Wagner und Bruckner haben dagegen die Musik in Deutschland widerstandslos den enharmonischen Verweichlichungen geöffnet - eine andere Konsequenz der kritisierten Harmonielehre von Rameau. Noch stärker haben Schönberg und seine Schule die Verbindung zum deutschen Volksgut verloren, so sehr sie sich in technischen Details auf Brahms berufen mochten. Nur der Publikumserfolg rechtfertigt die Aufnahme von Wagner und Bruckner ins Repertoire, aber im Grunde geht es nur noch darum, in den Konzertsälen und Musikaufnahmen das Andenken einer vergangenen Tradition zu wahren. --- Ist das übertrieben dargestellt? Diese Situation wird um so unwirklicher, je erfolgreicher diese vergangene Musik im Rahmen der Globalisierung weltweit vermarktet werden kann.



    Viele Grüße,


    Walter

  • Klingen diese Thesen - soweit ich sie überhaupt verstanden habe - nicht aus heutigem Blickwinkel ein wenig amüsant bis absurd? Ich denke, man sollte sich allmählich abgewöhnen, die "große deutsche Tradition" fortsetzen zu wollen. Obwohl sich dazu schon zwei Komponisten anbieten würden (nämlich als große alte Meister, zu denen man Bezüge knüpfen kann): nämlich Rihm und Lachenmann.


    Aber zurück zu jenem Gebiet, von dem angenommen wurde, es sei eine deutsche Glanzzeit gewesen. Wieso soll die harmonische Entwicklung von Haydn zu Wagner eine französische Abirrung vom deutschen Weg sein? Welche Franzosen haben denn den armen Wagner vom rechten Weg abgebracht?


    Und wieso ist die Zeit Schönberg/Berg/Webern/Hindemith/Weill keine deutsche Glanzzeit?


    Und was hat das mit dem Jazz zu tun?
    ?(

  • Hallo Walter,
    ich habe Deinen Ansatz noch nicht verstanden. Nach der deskriptiven Aufzählung (vor der Abbildung) folgt ein Absatz mit sehr plakativ wertenden Aussagen. Sind dies Deine Ansichten, die Du zur Diskussion stellen möchtest? Mich bringt auch teilweise die gewählte Terminologie ("Schönbergs verlorene Verbindung zum deutschen Volksgut") etwas ins Schleudern bzw. macht mich ratlos. ?(


    Ich liebe die echte tradierte Musikkultur des deutschen Volkes (bzw. der deutschsprachigen Völker) sehr und halte sie für unbedingt pflegens- und bewahrenswert. Genauso wie die der anderen Völker. Und es gab zu allen Zeiten Komponisten, die sich mit unterschiedlichsten Stilmitteln auf diese Schätze der Tradition bezogen haben. Im Rahmen verabsolutierter, mathematischer / aleatorischer / serieller etc. Kompositionstechniken diesen Bezug zu suchen oder zu vermissen, ist meines Erachtens keine sinnvolle Fragestellung.


    Im übrigen gab es in der "Kunstmusik" zu allen Zeiten einen ungeheuer vielfältigen und befruchtenden Austausch zwischen den Komponisten aus unterschiedlichen Völkern. Da kann man schon bei den Troubaduren / Minne- oder Bänkelsängern des frühen Mittelalters beginnen. Ursprünglich vor allem auf Grenzgebiete und Nachbarvölker beschränkt, wandelte sich der Radius mit den Reisemöglichkeiten. Heute sprechen wir diesbezüglich von der ganzen Welt.


    So lange aus dem Austausch Vielfalt erwächst, empfinde ich ihn unbedingt als Bereicherung. Tendenzen zur Vereinheitlichung und Uniformisierung (Weltbürger, Weltmusik, Weltgeschmack, Weltmode etc.) sind für mich Verarmung. Auch in der Musik.


    Herzliche Grüße :)

  • Zitat

    Original von Reiner_Klang
    Im Rahmen verabsolutierter, mathematischer / aleatorischer / serieller etc. Kompositionstechniken diesen Bezug zu suchen oder zu vermissen, ist meines Erachtens keine sinnvolle Fragestellung.


    Naja, also bei Pärt sieht diese Sache doch anders aus, der bleibt im Rahmen seiner "mathematischen" Kompositionstechnik und sucht den Bezug zur mittelalterlichen Musik, der ihm sogar völlig kritiklos geglaubt wird, was soweit geht, dass seine Fans gar nicht wahr haben wollen, dass er "mathematische" Musik schreibt.


    Wieso stellt sich die Frage des Traditionsbezugs bei "verabsolutierter" Musik nicht? Die Frage stellt sich überall, da (fast) nichts ganz ohne Traditionsbezug ist, und gerade dort, wo Traditionsbezug negiert wird, stellt sich die Frage ganz besonders - nämlich ob es da nicht doch einen Bezug gibt zur Tradition.

  • Hallo Walter,
    Du hast es geschafft, den Kurzstueckmeister aussteigen zu lassen, und Reiner Klang ebenfalls. Ich gebe zu: Ich schließe mich ihnen an: Ich komme nicht mit.


    Zur Not schlucke ich noch "deutsch" als stellvertretend für den deutschen Sprachraum - aber schon mit "Schweiz" funktioniert es nicht, weil die Komponisten der französischen Schweiz den Franzosen näherstehen als den Deutschen (siehe etwa die ästhetischen Unterschiede zwischen den Französisch-Schweizern Honegger und Martin und dem Deutsch-Schweizer Schoeck) - aber Verallgemeinerungen funktionieren ohnedies selten.


    Schenkers pseudo-deutsches Zurück-zu-Schütz, wie es ja in der Singbewegung etwa von Genzmer oder auch von Distler umgesetzt wurde, kann ich mit Bauchweh gerade noch nachvollziehen. Aber dass Rameau über den französisch verdorbenen Wagner zum "undeutschen" Jazz führt, lässt mir doch ein paar Grausbirnen aufsteigen (und mich, nebenbei bemerkt, fragen, ob Bruckners Neunte eher bei New Orleans oder bei Cool anzusiedeln ist).


    Geradezu lustig finde ich den harmonisch verweichlichten Wagner, denn auf dieser Verweichlichung baut Schönberg auf, der den Bezug zum "deutschen Volksgut" (was ist das? - "Am frisch geschnitt'nen Wanderstab" oder die "Matthäus-Passion" oder gar "Deutsch ist die Saar" :stumm: ) verloren hat. Also müsste eigentlich auch der Komponist der "Meistersinger" schon auf dem undeutschen weil unvölkischen Irrweg gewesen sein.


    Und was ist die Conclusio? - Daß Weill undeutsch ist und Webern auch? Wenn ja: Was folgt daraus wiederum? Daß ihre Musik Mist ist und man sein Heil doch lieber bei Cesar Bresgens kernigem deutschen Satz fern aller Verweichlichung suchen soll?


    Verzeih mir, Walter, Du siehst: Ich verstehe weder den Ansatz wirklich, noch das Ziel - vom Weg dahin ganz zu schweigen.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Naja, also bei Pärt sieht diese Sache doch anders aus, der bleibt im Rahmen seiner "mathematischen" Kompositionstechnik und sucht den Bezug zur mittelalterlichen Musik...


    M.E. weist ein solcher gezielter (?) Traditionsbezug gerade über den rein "mathematischen" Ansatz der Komposition hinaus! Die Verknüpfung beider Elemente würde für mich eine beachtliche schöpferische Leistung darstellen.


    Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Wieso stellt sich die Frage des Traditionsbezugs bei "verabsolutierter" Musik nicht? Die Frage stellt sich überall, da (fast) nichts ganz ohne Traditionsbezug ist, und gerade dort, wo Traditionsbezug negiert wird, stellt sich die Frage ganz besonders - nämlich ob es da nicht doch einen Bezug gibt zur Tradition.


    Hier habe ich mich vielleicht nicht präzise ausgedrückt. Natürlich ist ein vergleichender Bezug immer erlaubt und bringt in manchen Fällen sinnvolle Ergebnisse. Den fehlenden Traditionsbezug bei Werken der genannten neueren "technischen" Kompositionsweisen zu bemängeln, das halte ich für nicht sinnvoll. Man kann ihn höchstens feststellen. Punkt.


    Grüße :)

  • Zitat

    Original von Reiner_Klang
    Den fehlenden Traditionsbezug bei Werken der genannten neueren "technischen" Kompositionsweisen zu bemängeln, das halte ich für nicht sinnvoll. Man kann ihn höchstens feststellen.


    Du hast mich ein wenig mißverstanden. Ich nehme an, dass Du mit "neueren technischen" Kompositionsweisen vor allem den Serialismus meinst. Der hat aber einen sehr deutlichen Traditionsbezug zur Zwölftonmusik. Ebenso hat Pärt einen sehr deutlichen Traditionsbezug zum Serialismus. Diesen verbindet er mit mittelalterlichem Material, was mE ein eher loser Bezug ist verglichen zu seiner Verwurzelung im Serialismus.


    Sehr wenig oder eventuell keinen Traditionsbezug haben ein paar Sachen von Cage oder Xenakis.

  • @KSM:
    Ich glaube auch, daß wir etwas aneinander vorbeigeredet haben.
    Walter bezog sich ja auf "altdeutsche" Traditionen. Hierfür war meine Antwort bestimmt, während Du jetzt Pärt --> Serialismus --> Zwölftonmusik als "Traditionsbezüge" aufführst. Aber die vielleicht vorauszusetzende und notwendige saubere Abgrenzung der Bezüge und Bezugsgrenzen würde auf ein anderes Gleis führen und das Threadthema wahrscheinlich zu sehr verlassen.
    Grüße :)

  • Zitat

    Original von Reiner_Klang
    Aber die vielleicht vorauszusetzende und notwendige saubere Abgrenzung der Bezüge und Bezugsgrenzen würde auf ein anderes Gleis führen und das Threadthema wahrscheinlich zu sehr verlassen.


    Nein, eben das halte ich für notwendig. Ich sehe nämlich kein Ende der Tradition.


    Es folgt eine kleine Auswahl "großer deutscher Meister":
    Schütz - Buxtehude - Bach - CPE Bach - Gluck - Haydn - Mozart - Beethoven - Schubert - Mendelsohn - Schumann - Wagner - Bruckner - Brahms - Reger - Mahler - Schönberg - Berg - Webern - Hindemith - Weill - Hartmann - Stockhausen - Schnebel - Lachenmann - Rihm


    Wer davon ist traditionslos oder gar bezugslos? Niemand.

  • @KSM:
    Dreimal einverstanden! Auch ich sehe keinerlei Ende einer (deutschen ?) Tradition, alle Namen in Deiner Reihe sind berechtigt und noch tausend weitere und keiner davon ist bezugslos.
    Ich wollte hier auch nichts abwürgen, sondern mich nicht auf Nebengleise verlieren. Persönlich finde ich das Thema hochinteressant! Wenn Interesse an vertiefter Diskussion bestehen sollte, werde ich mit Spannung dabeisein!
    Grüße :)

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  • Hallo KSM,
    Ich glaube, die These war, daß Wagner eine französische Verweichlichung ist, infolge dessen alles, was auf Wagner aufbaut, "undeutsch" ist. Also ist Schönberg, da er ja Brahms- und Wagner-Bezüge verarbeitet, bestenfalls ein halber Deutscher.
    Und wenn, um Stockhausens "Gruppen" auf Schütz zurückführen zu können, die gesamte Aufzählung der Traditionslinie notwendig ist, ist das als Niedergang gegenüber den Chorsätzen Cesar Bresgens zu werten, der seinen Vierstimmigen Satz direkt bei Schütz abkupfert, also statt der gedanklichen Traditionslinie eine ganz handfest merkbare liefert.
    Mit advokatischem Diaboluslachen
    Der Unterzeichnete

    ...

  • Mir fällt auf, dass ich einerseits "Traditionsbezug" verwende als Hinweis darauf, dass auf etwas verwiesen wird, das sozusagen Stilgeschichtlich nicht mehr ganz frisch ist. Also Pärt, Schweinitz oder Bose fallen in meinem Sprachgebrauch unter "Traditionsbezug", weil sie auf mittelalterliche/romantische oder frei atonale expressive Musik Bezug nehmen.


    Andererseits habe ich hier behauptet, Traditionsbezug sei ohnehin immer gegeben. Das widerspricht sich offensichtlich.


    Meine obige Definition von Traditionsbezug würde aber z.B. zahlreicher Musik von Haydn den Traditionsbezug absprechen, da er in vielen Stücken nur auf die gerade aktuelle frühklassische Musik anknüpft und keinen Verweis auf den Barock liefert (in anderen Stücken macht er das dann allerdings schon - dennoch würde kein Mensch auf die Idee kommen, nur seine Werke mit Fugato-Elementen als vollwertig anzusehen).


    Aber wie man "Traditionsbezug" nun auch verstehen will, der Einführungsbeitrag wird dadurch nicht nachvollziehbarer. Dort geht es offenbar darum, spezifisch deutsche Stilelemente (also Stilelemente, die vor allem im deutschsprachigen Gebiet gepflegt wurden) zu erkennen und das Verhältnis der Musik des 20. Jh. dazu zu überlegen. Dabei wird übersehen, dass frühere deutsche Stile nicht unbedingt viel mehr miteinander zu tun haben als spätere deutsche Stile. So ist die Verwandtschaft zwischen Brahms und Schönberg durchaus recht eng, beide kann man eventuell als typische deutsch ansehen. Telemann respektive Bach haben mit Haydn wohl kaum mehr Gemeinsamkeiten bei etwa gleichem Abstand der Generationszugehörigkeit.

  • Nach einem misslungenen ersten Entwurf, den Beitrag in anderen Worten zu wiederholen und dadurch vielleicht klarer zu machen, seien einzelne Punkte angesprochen:


    Meinungen: Weitgehend ist das nicht meine eigene Meinung, sondern der Versuch, das Selbstverständnis der deutschen Musikkultur aus der Zeit von 1900 zu verstehen, reden zu lassen und mit der Situation nach 1945 zu konfrontieren. Mir selbst geht es darum zu verstehen, wie diese Sprachverwirrung entstanden ist, die harte und unversöhnliche Gegenüberstellung des französischen und deutschen Weges, des mathematischen und dialektischen Wesens, des räumlichen und zeitlichen Hörens, der harten Musikgesetze und des Aussingens erfüllter Zeit, oder wie auch sonst dieser Gegensatz formuliert wurde. Diese Gegensätzlichkeit hat sich erhalten und ist auch in diesem Forum zu spüren. Es fehlt eine gemeinsame Grundorientierung.


    Deutsche Komponisten: Natürlich gibt es auch nach Schubert bekannte und jeweils als führend anerkannte deutsche Komponisten, wie ‚Kurzstückmeister’ aufgelistet hat. Und doch bin ich mir sicher, dass seit 1900 die zündenden Ideen von woanders kommen. Siehe Ravel, Strawinsky, Prokofjew, Alain, Messiaen, Reich, Ligeti, Pärt, Dreyblatt. Natürlich haben auch Schönberg, Hindemith, Weill, Stockhausen, Lachenmann oder Rihm wichtige Werke geschrieben. Aber wenn es um Musik geht, die einen so erschüttert wie es früher Beethoven oder Schubert gelungen ist, dann ist in Deutschland eher ein Fehlen zu spüren, eine Unfähigkeit, den Ton der Zeit zu treffen. Hier geht es nicht um Wertung oder persönlichen Geschmack. Die französische Musik befand sich um 1890 in einer ganz ähnlichen Lage, und daraus ist etwas völlig Neues entsprungen. Erst einmal geht es mir darum, diesen Zustand überhaupt anzuerkennen (und da scheint die eigentliche Differenz zu ‚Kurzstückmeister’ zu bestehen). Erst dann lässt sich daraus etwas Neues entwickeln.


    Volksgut, Frömmigkeit: Diese Begriffe lösen zurecht intensive Gefühle aus. Ihre Schwierigkeit besteht darin, dass sie in dem Moment zu zerfallen drohen, wenn versucht wird, rational über sie zu sprechen. Die „altdeutsche Position“, um sie mit dem Etikett ihrer Kritiker zu benennen, vertraut auf die Musikalität, die ursprünglich in der Volksmusik enthalten war, und sieht sie in dem Moment gebrochen und verloren, wo sie analysiert, zerlegt und vermarktet wird. Hier fehlt einfach eine gemeinsame Ebene, um sich überhaupt verständigen zu können. Was von den „Aufklärern“ über Volksgut und Frömmigkeit gesagt wird, erscheint den „Altdeutschen“ als Zeichen der Entfremdung und des Verlustes, oder in den Begriffen der 1920er zu reden, als „Literatentum“ und „Diktat der Öffentlichkeit“. Um aus diesen Clinch herauszukommen, scheint mir am besten, zu Schubert (und vergleichend Hölderlin und E.T.A. Hofmann) zurück zu kommen, denn auf die beziehen sich beide einander befehdenden Positionen, also gibt es dort eine letzte Gemeinsamkeit. Es ist die Frage, wie dies aufgebrochen ist und zu der Lähmung im 20. Jahrhundert geführt hat.


    Wagners Verweichlichung: Hier ließen sich bestimmt viele Zitate beibringen. Mir genügt, was ich in den Biographien von Clara Schumann an Äußerungen von ihr, Brahms, Joachim über die Spätwerke von Robert Schumann, Liszt und Wagner gelesen habe, oder von Hanslick über Bruckner, womit er wohl auch Wagner meinte. Wo die „Altdeutschen“ ihren Kritikern innere Entfremdung, Leere und Kälte vorwerfen, da sehen diese umgekehrt bei den von ihnen Kritisierten letzten Endes einfach Krankheit, weil sie anders nicht verstehen können, wovon sie sich nicht angesprochen fühlen.


    Viele Grüße,


    Walter