Olivier Messiaen - Glaube jenseits der Stratosphäre?

  • Zumindest die "Turangalila" scheint nicht ganz unumstritten zu sein.


    Ein Kritiker warf dieser vor, sie sei nichts weiter als aufgeblasene Filmmusik sei.
    Ein anderer Kritiker erwiderte:"Sie ist nicht Filmmusik, sie ist der Film selbst!"


    (Ob es Kritiker oder Kulturjournalisten waren, weiß ich net mehr genau....)


    :hello:

  • Selbst sein Schüler Boulez ist ja nicht so ganz angetan von der Turangalila-Sinfonie. Zumindesten kenn ich keine Aufnahme mit ihm und wenn ich mich nicht irre stammt von Boulez auch der Ausdruck, um es mal ein wenig mild zu umschreiben, 'Freudenhaussinfonie".

  • Hallo Arietis,
    das wörtliche Zitat lautet "Bordellmusik" und bezieht sich auf den erotischen Inhalt der "Turangalila".
    Boulez hat sowohl frühe Werke Messiaens wie die "Poèmes pour Mi" dirigiert als auch die konstruktivistischeren Werke wie "Et exspecto" oder "Sept Haikai". Er hat allerdings um die "Turangalila" einen Bogen gemacht, weil ihn der Inhalt abstößt und er findet, daß Messiaen in der Musik zuviel Material mit zuwenig Strukturierung verwendet hat.
    :hello:

    ...

  • Hallo Edwin


    Zitat

    Du bist mit Chungs Klavierspiel also einverstanden? Mir erscheint es arg trocken gerade im Zusammenhang mit einer Musik, in der die Farben so wichtig sind.


    Hmmm. Also wenn Chung trocken Klavier spielt, so dirigiert er aber Messiaen's
    "Des Canyones aux etoiles" mit dem OPdR France ganz schön sch(f)lüssig :-)
    So empfinde ich es zumindest.
    (Könnte natürlich auch sein, dass es so ist, da nicht Chung, sondern
    Roger Muraro am Klavier sitzt) :pfeif:
    Besitze leider nur diese eine Aufnahme, in der ein paar Fotos vom Künstler
    mit Chung abgebildet waren, und ich meine mich zu erinnern, dass irgendwer einmal über Chung geschrieben hat, er sei sowas wie Messiaen's Hausdirigent gewesen (in Zeiten wo dieser noch lebte).


    Wenn also nun behauptet wird, Chungs Klavierspiel sei trocken, (Und
    Messiaen dürfte wohl mit dessen Klavierspiel vertraut gewesen sein),
    so gehe ich als Laie davon aus, dass die Interpretation trocken klingen müsse, da es Messiaen anscheinend selbst zusagte. Naja...möglichweise hatte Messiaen zu wenig Vergleichsmöglichkeiten an Interpreten zu Lebzeiten ???


    Und: Gibt es weitere Interpretationen von Canyons, die empfehlenswert sind und klanglich an die erwähnte heranreichen? (Es ist die Aufnahme von 2002 für DG)


    Gruß Jan

  • Hallo Jan,
    was der Komponist für die Spitzeninterpretation hält, hängt mitunter von Umständen ab, die nur peripher mit der Interpretation zu tun haben.
    Messiaen förderte Chung - aber niemand, auch nicht die Messiaen-Schüler, konnte sich dieses eigenartige Faible wirklich erklären. Es hängt wohl eher mit persönlichen Umständen zusammen, bei denen auch eine Rolle spielte, daß Chung bei der "Turangalila" bereit war, mit Yvonne Loriod am Klavier zu arbeiten, obwohl sie nicht mehr auf der Höhe ihres Könnens war. Und Chung war auch bereit, Messiaen permanent um Rat zu fragen, während sich andere Dirigenten längst eine eigene Interpretation zurecht legten, da sich die "Turangalila" längst als repertoirewerk etabliert und von ihrem Autor abgenabelt hatte.


    Das Ergebnis ist bei der "Turangalila" eine für mich sehr unentschiedene, vor allem in den langsamen Sätzen sehr schwächliche Aufnahme. Und auch das "Quatuor" wird bei Chung mehr aufgesagt als interpretiert. Ähnlich steht es meiner Meinung nach um "Eclairs sur l'Au-Delà": Chung erreicht weder das Feuer von Antoni Wit noch die einzigartige Schönheit der Aufnahme von Sylvain Cambreling.


    "Des Canyons" ist meiner Meinung nach Chungs beste Messiaen-Aufnahme, aber auch hier erreicht er für mich nicht die Faszinationskraft, die Marius Constants Aufnahme besitzt (bei der einige Details daneben gehen, der man aber die Begeisterung im Kampf um das damals noch neue und ungewöhnliche Werk anmerkt; aufnahmetechnisch gut, aber nicht auf dem DG-Niveau), und die Einspielung von de Leeuw ist einfach wesentlich genauer gelesen (speziell im Aldebaran-Satz). Die de-Leeuw-Einspielung ist übrigens technisch makellos, wenngleich ebenfalls nicht so perfekt wie die DG.


    :hello:

    ...

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  • Für den Sommer ist vielleicht Messiaens "Catalogue d`Oiseaux" ein geeignetes Werk. Das Werk ist eine Art umfangreiches Reisetagebuch in sieben Bänden, welche insgesamt 13 mehr oder weniger umfangreiche Klavierstücke enthalten.


    An anderer Stelle, dort, wo es um das Wetter in der Musik geht, hatte ich bereits auf die meterologischen Aspekte in Messiaens musikalischer Darstellung der Kurzzehenlerche hingewiesen. Messiaen gibt nämlich zu seinem Stück "L`Aloutte calandrelle" die folgenden Erläuterungen:


    Provence, im Juli: die Kurzzehenlerche. Zwei Uhr nachmittags, Les Baux, Les Alpilles, unfruchtbare Felsen, Ginster und Zypressen. Monotones Gezirpe, Zikaden, im Staccato Alarmruf des Turmfalken. Straße von Entressen: die Haubenlerche im zweistimmigen Kontrapunkt mit der Kurzzehenlerche. Vier Uhr nachmittags, La Crau. Kieselsteinwürste, grelles Licht, sengende Hitze. Einzig die kleine, kurze Phrase der Kurzzehenlerche bevölkert die Straße. Gegen sechs Uhr abends erhebt sich eine Feldlerche gegen den Himmel und schmettert eine jubilierende Melodie. Der lang-kurz-lange Ruf der Wachtel, Erinnerung an die Kurzzehenlerche...
    (Übersetzung des Messiaenschen Originaltextes von Britta Schilling im Heft zur Einspielung des Werkes durch Anatol Ugorski, 1994, DG)


    Ähnlich eindrucksvolle klimatische und landschaftliche Beschreibungen gibt es auch in den anderen Stücken:


    Zum Beispiel im dritten Stück, "Le Merle Bleu" (Die Blaumerle).
    Die Beschreibung lautet hier:


    Im Juni. Roussillon, die Côte Vermeille. Bei Banyuls: Kap l`Abeille, Kap Rederis. Überhängende Steilküsten über preußisch- und saphirblauem Meer. Schreie schwarzer Mauersegler, Wassergeplätscher. Die Landspitzen erstrecken sich ins Meer wie Krokodile. In einer Felshöhlung, die ein starkes Echo gibt, singt die Blaumerle. Ihr Blau ist anders als das des Meeres: violett, schiefern, seidig, schwarzblau. Ihr fast exotischer Gesang, der an balinesische Musik erinnert, mischt sich mit dem Geräusch der Wellen. Man hört auch die Theklalerche, die weit über den Weinbergen und dem Rosmarin umherflattert. Die Silbermöwen heulen draußen auf dem Meer. Die Steilküste ist schrecklich. In Erinnerung an die Blaumerle kommt das Wasser, um am Fuß der Steilküste zu ersterben. (Übersetzung s.o.)


    Die Texte weisen auf die ambitionierten musikalischen Darstellungen hin, die weit entfernt sind von beschaulichen oder genrebildartigen Darstellungen. Messiaen zeichnet die portraitierten Tiere äußerst genau. Die Übertragungen der Vogelstimmen auf das Klavier sind umfangreich und komplex. Sie gehen in den Anforderungen an Spieltechnik und Auffassungsgabe über das hinaus, was Debussy und Ravel zu fordern wagten, aber sie belohnen den Hörer mit sehr plastischen und naturnahen Eindrücken.


    Die Stücke wandern durch ganz Frankreich. Das erste Stück zeigt die Alpendohle in den Dauphiné-Alpen, das zweite den Pirol in der Charente, die folgenden Stücke spielen am Mittelmeer, die Regionen in Mittelfrankreich werden mit einbezogen... Das Schlußstück über den Großen Brachvogel ist in der westlichen Bretagne angesiedelt, auf der Île d`Ouessant. Das Werk endet in dunklen Farben. Die letzten Bilder dieses Stückes zeigen die Alarmsirene des Leuchtturms von Créac`h und die Geräusche des Meeres in der tiefen Nacht.


    Messiaens stellt die Lichtverhältnisse und die Farben dar und benutzt dafür die Möglichkeiten, die sein eigenes harmonisches System, welches zu Beginn dieses Threads vorgestellt wurde, zur Bildung zahlreicher komplexer und farbiger Akkorde bietet. Dabei werden auch die Wirkungen reiner Dur- und Mollakkorde mit einbezogen.


    Zur Darstellung der Vogelstimmen, aber auch für Bewegungen des Meeres und des Windes schreibt Messiaen äußerst genau, mit einer Vielzahl von überlegt gesetzten Noten. Der Interpret einer der neueren Aufnahmen des Zyklus, Anatol Ugorski, sagt dazu im Gespräch mit Eleonore Büning (siehe Booklet seiner Aufnahme, S. 34-35): "Vieles bei Messiaen klingt sehr einfach. Er stellt uns zum Beispiel vor das Meer und sagt: "Ach! Wie ist das schön!" Ganz naiv. Zugleich ist das aber nicht ohne Raffinesse. Denn das Meer, wie alle anderen Naturphänomene, erklingt bei Messiaen auf eigentümliche Art. Meer in der Musik gibt es ja gewiss tausendfach, von Debussy bis Rimski-Korsakow. Man erwartet da in der Musik für gewöhnlich eine Wellenbewegung, ein Arpeggio oder dergleichen. Für Messiaen aber klingt das Meer anders: zum Beispiel wie kurze, harte, feste Schläge. Oder auch pointillistisch, in einzeln blitzenden Tropfen: Wie eine Welle ausläuft oder wie die Wellen gegen einen Felsen schlagen, wie die Gischt aufspritzt oder in der Sonne blinkt - jeder von uns kennt das eigentlich. Dennoch hat das mit Nachahmung nichts zu tun. Messiaen komponiert nicht das übliche Abbild "Meer" - er komponiert einzelne Wesenszüge des Meeres und damit so etwas wie die platonische Idee des Meeres selbst, die sich im Klang repräsentiert. Manchmal schreibt er auch gar nicht "Meer" vor, sondern: "Wasser". Das ist dann wieder etwas anderes: Wenn man z.B. eine Weile unter Wasser taucht, dann hat man einen bestimmten Ton im Ohr. Das ist keine Stille, sondern ein spezifischer Klang. Und genau der erklingt auch bei Messiaen: Es ist absolut derselbe Ton! Manchmal klingt das Wasser aber auch froh, manchmal melancholisch, und dann wieder sind die Akkorde so scharfkantig und kalt wie Eisblöcke, die hart aneinanderstoßen. Wieso solche Klänge im Klavier vorhanden sein können? Das ist sein Geheimnis."


    Messiaen schrieb die rund 150 Minuten dauernde Sammlung von Stücken - es ist erstaunlich, dass einige Pianisten das vollständig in einem Konzert spielen - zwischen 1956 und 1958, in einer für ihn schwierigen Zeit. Er hatte Anfang der 1950er Jahre mit der Übertragung von Vogelstimmen begonnen, und zunächst einige kurze Stücke geschrieben:


    Le merle noir für Flöte und Klavier 1951,
    Reveil des oiseaux für Klavier und Orchester 1953,
    Oiseaux exotiques für Klavier, 11 Bläser und 7 Schlaginstrumente 1956.
    Ein ähnliches Konzept wie die Stücke des Catalogue d`oiseaux hat auch
    "La fauvette des Jardins" (die Gartengrasmücke), aus dem Jahr 1971, das allerdings mit knapp 30 Minuten Spieldauer die meisten Stücke des Catalogue übertrifft und auch in der Satztechnik noch anspruchsvoller und monumentaler angelegt ist.
    Andererseits sind die Klavierstücke des Jahres 1987 dann, so wie es der Titel sagt,
    "Petites Esquisses d'oiseaux", im Stil von kurzen Aphorismen oder Fragmenten.


    Die Orientierung am Klavier in allen diesen Stücken hängt natürlich mit dessen Möglichkeiten zu einem sehr präzisen und beweglichen Spiel zusammen, aber auch mit Messiaens Freundschaft zu seiner Pianistin und späteren Ehefrau Yvonne Loriod. Der Catalogue ist ihr gewidmet. Er wurde am 15. April 1959 in der Salle Gaveau in Paris von Yvonne Loriod zum ersten Mal vollständig aufgeführt.



    Im Januar und Februar wurden in diesem Thread einige Aufnahmen des Werkes vorgestellt,
    also hier zum Beispiel.


    Wenn ihr interessante Erfahrungen mit diesen Aufnahmen gemacht habt oder andere Anregungen und Stellungnahmen zu Messiaen habt, seid ihr zum Weiterschreiben dieses Threads herzlich eingeladen.

  • aus einem anderen thread hierher ausgelagerte Diskussion


    Zitat

    Wer von Dunkelheit, Schmerz und Leid konsequent verschont sein, also in reinstem, ungetrübtem Optimismus schwelgen, aber trotzdem klassische Musik hören möchte, der versuche es mit dem katholischen Mystiker Olivier Messiaen. Hier ist alles wie Hosianna und Vogelgezwitscher.


    Das könnte durchaus Probleme geben, wenn man jemanden, der von Dunkelheit, Schmerz und Leid konsequent verschont sein will, in eine Aufführung des "Quatuor pour la fin du temps", der "Chronochromie" oder
    "Mode de valeurs et d'intensités" schickt, denn diese Hörer hätten dann wohl ein Recht darauf, wegen nicht eingehaltener Versprechen sich ihr Eintrittsgeld
    erstatten zu lassen !

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von BigBerlinBear


    Das könnte durchaus Probleme geben, wenn man jemanden, der von Dunkelheit, Schmerz und Leid konsequent verschont sein will, in eine Aufführung des "Quatuor pour la fin du temps", der "Chronochromie" oder
    "Mode de valeurs et d'intensités" schickt, denn diese Hörer hätten dann wohl ein Recht darauf, wegen nicht eingehaltener Versprechen sich ihr Eintrittsgeld
    erstatten zu lassen !


    Ach was. Nur wenn man nicht zwischen der Musik und dem Hörer unterscheidet. Natürlich muss man Messiaens Sprache, also diese nicht selten kitschige Mischung aus dissonanten und harmonischen Chorälen, Lärmorgien, und Vogelgesängen per se ertragen können. Wenn dem von vornherein nicht so ist, kann der Hörer deshalb sein Geld natürlich nicht zurückverlangen. Dann darf er gar nicht in Messiaens-Konzerte gehen. Wer sich aber auf diese Sprache einlässt, wird in Sachen Optimismus sicher nicht enttäuscht, weil sich da eben immer wieder der gütige Himmel öffnet und die Vöglein dazu zwitschern.


    Loge

  • Schon eigenartig, dass jemand über Messiaen urteilt, der dessen Werke offenbar nur aus Konzertführern oder vom Hörensagen kennt. Sonst könnte es zu absurden Feststellungen wie "Kitsch", "Lärmorgie" etc. nicht kommen.
    Kann aber auch sein, daß Musik mit christlichem Hintergrund nicht auf jedermanns Verstehen trifft.
    :hello:

    ...

  • Wobei dann doch wohl haarscharf zu folgern wäre, dass Stockhausens Kitschanfälligkeit von seiner Lehrzeit bei Messiaen herrührt... :hahahaha:

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

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  • Lieber Loge, könntest du bitte konkret die Werke nennen, denen Du bei Messiaen diesen "Vorwurf" machst?
    Ich kenne bisher nur das mich sehr beeindruckende " Quartett zum Ende der Zeit", einige Orgelstücke und eine Cd mit seinen gesammelten Liedern.(Melodies)
    Eine Zyklus darinnen heisst z.B."Poème d'amour et de la mort" .
    Von Lärmorgie und Vogelgezwitscher habe ich zumindest da nichts gehört ?(
    Wenn es aber kitschig ist, hinter allem als Grundphilosophie eine "optimistische Heilsidee" zu haben, dann ist Bach der Kitschigste von allen..... 8o


    Fairy Queen

  • Zitat

    Lieber Loge, könntest du bitte konkret die Werke nennen, denen Du bei Messiaen diesen "Vorwurf" machst?


    Liebe FQ


    nein, das kann er mit Sicherheit nicht, denn nach seinem rhetorischen Ausflug
    in die Barock-Musik, (Bach), der zur schriftgwordenen Peinlichkeit geriet ist nun, bei seinem nächsten Rundumschlag-Paket, Messiaen dran, den er sich, was zu vermuten ist, lesenderweise erobert hat.


    Ich mag von Messaen auch nicht alles, das Dur-Finale des "Franziskus" erzeugte bei mir seinerzeit durchaus Naserümpfen aber seine Orgelwerke, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden, zählen zum Großartigsten, was auf diesem Gebiet überhaupt geschaffen wurde und sie sind so nur den Werken von Sweelinck, Buxtehude und Bach an die Seite zu setzen.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Liebe Fairy Queen,
    lieber BigBerlinBaer,


    warum gleich wieder so aufgeregt. Hier ist nach durch und durch optimistischen Komponisten gefragt und wenn man da Messiaen nicht mehr nennen darf, wen denn dann? Ich habe ja nicht gesagt, dass Messiaen nicht ein guter Komponist war. Er war sogar ein ungewöhnlich gewiefter Komponist. Man darf nur seine Intentionen nicht aus dem Auge verlieren und muss die von ihm eingesetzten Mittel dazu in Beziehung setzen. Und diese Intentionen waren nun einmal fast ausschließlich Hosianna und Vogelgesang. Messiaen wusste ja nicht einmal genau, ob er mehr Komponist oder Ornithologe war – und das hört man. Letztlich ordnet Messiaen dem Hosianna und Vogelgesang alles unter: Seine unglaublichen Harmonien (wenn sich mal wieder der Himmel öffnet), seine addierten Rhythmen und Notenwerte (die die Zeit zum stehen bringen, auf das es sich außerweltlich, quasi-paradisisch zwitschern lässt). Der Kitsch, liebe Fairy Queen, besteht dabei eben nicht in der „optimistischen Heilsidee“ als solcher, sondern in den Mitteln derer sich Messiaen zu ihrer Vertonung bedient.


    Ein paar Beispiele:


    In „Éclairs sur L’Au-delà“ etwa lässt Messiaen 48 verschiedene Vögelchen aufzwitschern. Dazu bietet er schier atemberaubenden Kitsch. Bemerkenswert finde ich, dass er damit zugleich sein letztes Wort auf dieser Erde getan hat!


    Die Turangalila-Sinfonie ist nicht weniger süßlich. Bevor jetzt wieder alle sauer werden, möchte ich daran erinnern, dass in der musikwissenschaftlichen Forschung der zurückliegenden vier Jahrzehnte kein anderer Komponist derart oft in Kitschverdacht geriet. Oftmals ist gar von "Hollywood-Kitsch" die Rede, und wie die kitschigen Filme aus Hollywood angelegt sind, dürfte hinlänglich bekannt sein.


    Messiaens „Vingt regards sur l'enfant Jésus“ etwa sind ganz herzallerliebste Betrachtungen des kleinen Jesulein. Dagegen sind die meisten kirchlichen Krippeninstallationen geradezu ernüchternd. Freilich gibt es hier auch die typisch Messiaen'schen Lärmorgien und Vogelgezwitscher. Wenn auch Dissonanzen vorkommen, so werden diese – das ist versprochen – durch harmonische Passagen, bei denen es einem den Atem verschlägt, mehr als wett gemacht.


    Weitere opulenteste Klangorgien bietet Messiaen in gewohnt versöhnlicher Manier auch in den allermonumentalsten „Des Canyons aux étoiles". Leider schlägt sein – beinahe sträflicher – Optimismus auch hier des öfteren in monumentalen Kitsch um.


    Wie gesagt, Viele haben das schon beschrieben. Von der Weil z. B. schreibt in seinem Buch zur Musik des 20. Jahrhunderts sinngemäß (ich habe es gerade nicht zur Hand), dass es jedem, der „Dunkles“ in sich trägt oder es sucht, schier unerträglich sein dürfte, Messiaen zu hören.


    Es ist eben alles auf das Beste eingerichtet in Messiaens Welt, und das ist nicht jedermanns Sache.


    Loge

  • Hallo Fairy Queen,
    hallo BBB!
    Er wird es zumindest schwer haben, denn selbst die süßesten Stellen bei Messiaen sind durch einen konstruktiven Unterbau gestützt. Und wenn sich Loge nicht dazu versteigt, dem Komponisten sein Material vorschreiben zu wollen, wird er sich auch mit seiner Abneigung gegen die Vogelrufe schwertun, die ja einerseits quasi-theologisch begründet sind ("Vögel sind die Sänger Gottes"), andererseits aber auch schlicht als Material verstanden werden ("es geht darum, Töne zu finden").
    Wenn Loge dann noch wissen sollte, daß die Vogelgesänge eingesetzt werden, um unumkehrbare Dauern-Perioden zu kolorieren, wird er's noch schwieriger haben. Aber das ist sein Problem - falls er überhaupt darauf eingeht.


    Was mich betrifft: Es gibt auch für mich Werke Messiaens, die zu meinen Dii minores gehören, etwa die "Turangalila", aber das liegt an mir, weil ich mich an ihren Ekstatik-Eruptionen irgendwie abgehört habe. (Falsch ausgedrückt: Ich stelle sie, nachdem ich Messiaens restliches Werk kennengelernt habe, einfach nicht mehr an die höchste Stufe).
    Wir könnten uns jetzt auch lange über den Dur-Schluß im "Saint Francois" unterhalten, der für mich ein Beweis ist, daß eine aus dem Herzen kommende Schönheit auch in der heutigen Musik möglich ist. Und wir hätten am Ende der Diskussion, glaube ich, keine Verständigungsprobleme. Denn über die außerordentliche Qualität von Messiaens Schaffen bestünde zwischen uns immer noch Konsens.


    Was mich ärgert, sind diese pauschalen Verurteilungen, die mich an wenig informierten Konzertführer erinnern.
    Die Basis des ganzen: In Frankreich wurde einige Zeit leidenschaftlich über Messiaen debattiert. Wobei seine Gegner in zwei Fraktionen gespalten waren. Die eine warf ihm "den Kitsch" vor, für die andere war er schlicht unanhörbar - die "Chronochromie" endete in Paris in einem Mega-Skandal!


    Daraus zogen nun wenig informierte Musikschreiber, die zwar die Diskussion um Messaien kannten, seine Werke jedoch weniger, den Schluß, daß Messiaen entweder Kitsch produziert oder unanhörbare Abstraktionen, wobei er in beiden Fällen die Vögel dazu zwitschern läßt.


    Die Wahrheit ist, daß Messiaens Vokabular von Anfang an in den grundlegenden Ideen feststeht, diese Ideen aber auf unterschiedliche Weise durchgeführt werden. Auf dieser Basis sind die kolorierten Tondauern der "Chronochromie" von den kolorierten melodischen Linien der "Turangalila" oder der "Trois petites liturgies" gar nicht so weit entfernt. Es ändern sich lediglich die Mittel der Farbgebung.
    Wenn man das Messiaensche Vokabular kennt, versteht man auch, daß er sozusagen zwangsläufig zum "Mode de valeurs et d'intensités" kommen mußte, aus dem Boulez, Stockhausen und andere die serielle Musik ableiteten (die "Structures" von Boulez verwenden den identischen Modus wie Messiaen - als Hommage einerseits, andererseits um zu zeigen, daß das Ausgangsmaterial für den Klangcharakter auch in der präfixierten Musik keineswegs bestimmend ist).


    Jedenfalls ist Messiaen für mich eine der großen Gestalten zumindest der Musik des 20. Jahrhunderts. Wer in ihm nur einen frömmelnden Optimisten sieht, der Kitschprodukte abliefert, hat meiner Meinung nach gar nichts verstanden.


    :hello:

    ...

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  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Fairy Queen,
    hallo BBB!
    Er wird es zumindest schwer haben, denn selbst die süßesten Stellen bei Messiaen sind durch einen konstruktiven Unterbau gestützt. Und wenn sich Loge nicht dazu versteigt, dem Komponisten sein Material vorschreiben zu wollen, wird er sich auch mit seiner Abneigung gegen die Vogelrufe schwertun, die ja einerseits quasi-theologisch begründet sind ("Vögel sind die Sänger Gottes"), andererseits aber auch schlicht als Material verstanden werden ("es geht darum, Töne zu finden").
    Wenn Loge dann noch wissen sollte, daß die Vogelgesänge eingesetzt werden, um unumkehrbare Dauern-Perioden zu kolorieren, wird er's noch schwieriger haben. Aber das ist sein Problem - falls er überhaupt darauf eingeht.


    Lieber Edwin Baumgartner,


    hatte ich alles schon erledigt (siehe oben). Die paradisischen Vögelchen, die "non-retrograden" (Messiaen) Perioden. Alles da. Irgendwie wusste ich, dass Du diese Elemente in Deinem Sinne umdeuten würdest.


    Außerdem nehme ich Messiaens gegen Dich in Schutz. Denn sicherlich wollte er nicht Zeiträume "kolorieren". Er war Künstler und hat (wenn auch mittels musikkompositorischer Techniken) seiner "Seele", seinem Empfinden Audruck geben wollen. Du siehst das alles aus meiner Sicht wieder einmal viel zu einseitig kompositionstechnisch.


    Loge

  • Hallo Loge,
    Das gewisse (für mich verständliche) Erregungspotential liegt in Deiner Wortwahl. Einen Komponisten wie Messiaen dermaßen abzukanzeln, kann bei naiven Gemütern, zu denen ich mich auch zähle, unter Umständen den Eindruck uninformierter Arroganz erwecken.


    Zitat

    Zitate Loge
    Er war sogar ein ungewöhnlich gewiefter Komponist.


    Keineswegs - denn "gewieft" bedeutet trickreich. Ein Anwalt kann beispielsweise "gewieft" sein - dann hat der Mandant sogar Glück. Messiaen war keineswegs "gewieft", sondern er war, zusätzlich zu seinem Genie, einer der besten Techniker, den die Musik des 20. Jahrhunderts hatte.


    Zitat

    Messiaen wusste ja nicht einmal genau, ob er mehr Komponist oder Ornithologe war


    ...oder Organist oder Lehrer...
    Er wußte es schon. Du weißt es nicht.


    Zitat

    Der Kitsch, liebe Fairy Queen, besteht dabei eben nicht in der „optimistischen Heilsidee“ als solcher, sondern in den Mitteln derer sich Messiaen zu ihrer Vertonung bedient.


    Muß ein Komponist bei Dir einreichen, welches Material er verwenden darf, um seine Ideen auszudrücken?


    Zitat

    In „Éclairs sur L’Au-delà“ etwa lässt Messiaen 48 verschiedene Vögelchen aufzwitschern.


    Ja und? - Siehe oben...


    Zitat

    Dazu bietet er schier atemberaubenden Kitsch.


    Ach so...?
    Beinahe interessant...

    Zitat

    Bemerkenswert finde ich, dass er damit zugleich sein letztes Wort auf dieser Erde getan hat!


    Leider falsch - aber weiter angesichts der sonstigen Behauptungen nicht weiter störend.


    Zitat

    Die Turangalila-Sinfonie ist nicht weniger süßlich. Bevor jetzt wieder alle sauer werden, möchte ich daran erinnern, dass in der musikwissenschaftlichen Forschung der zurückliegenden vier Jahrzehnte kein anderer Komponist derart oft in Kitschverdacht geriet. Oftmals ist gar von "Hollywood-Kitsch" die Rede, und wie die kitschigen Filme aus Hollywood angelegt sind, dürfte hinlänglich bekannt sein.


    Ja, ja, und denen, die den Kitsch-Verdacht aussprachen, plappert man halt wacker und unüberprüft nach.


    Zitat

    Messiaens „Vingt regards sur l'enfant Jésus“ etwa sind ganz herzallerliebste Betrachtungen des kleinen Jesulein.


    Dein Spott über die religiöse Überzeugung eines Menschen macht Deine folgende Behauptung auch nicht richtiger, nämlich diese:


    Zitat

    Freilich gibt es hier auch die typisch Messiaen'schen Lärmorgien und Vogelgezwitscher.


    Wo ist in diesem Werk eine Lärmorgie?


    Zitat

    Weitere opulenteste Klangorgien bietet Messiaen in gewohnt versöhnlicher Manier auch in den allermonumentalsten „Des Canyons aux étoiles". Leider schlägt sein – beinahe sträflicher – Optimismus auch hier des öfteren in monumentalen Kitsch um.


    Das "allermonumentalste" Werk hat ein Kammerorchester von rund 40 Musikern... Den Rest macht die virtuose Instrumentierungstechnik. Manche Hörer lassen sich von Äußerlichkeiten leider immer wieder allzu sehr blenden.


    Zitat

    Es ist eben alles auf das Beste eingerichtet in Messiaens Welt, und das ist nicht jedermanns Sache.


    Wunderbar.
    Manche können freilich auch die Auseinandersetzung mit den Letzten Dingen nicht ertragen und lehnen Messiaen deshalb ab.


    :hello:


    Zitat

    Außerdem nehme ich Messiaens gegen Dich in Schutz. Denn sicherlich wollte er nicht Zeiträume "kolorieren".


    Herzlichen Dank, ganz im Sinne Messiaens...
    Daher ein versöhnlicher Tip von mir: Lies seine Schriften, ehe Du etwas behauptest, was nachweislich falsch ist.

    ...

  • Ruhig, Brauner!


    Also, lieber Edwin Baumgartner,


    1. kann gewieft auch klug, scharfsinnig, schlau etc. heißen, und ich schrieb ja, dass Messiaen ein guter Komponist war, was sich natürlich auf seine Technik bezog,


    2. kann ich auch mit einem einzigen Klavier eine monumentale Lärmorgie erzeugen,


    3. kann man doch nicht bestreiten, dass Messiaen in seinem letzten großen Ding, nämlich „Éclairs", vor allem mal wieder eine ordentliche Portion paradisisches Vogelgezwitscher verarbeitet hat und


    4. kann ich kaum glauben, dass sich so viele Musiker immer wieder mit der Frage des Kitsches und der zwitschernden Opulenz in Messiaens Werken auseinandersetzen, ohne je auf die Idee gekommen zu sein, einfach mal bei Dir anzurufen und sich die Zusammenhänge aus erster Hand erklären zu lassen.


    Loge

  • Lieber Loge,
    ich bin überhaupt nciht aufgeregt gewesen, aber so langsam werde ich es hier in diesem Thread :rolleyes:
    Das was Du unter Kitsch verstehst, kann ich leider nicht nachvollziehen, denn die Werke, die Du als Beispiele aufzählst , kenne ich nicht.
    Statt dessen kenne ich aber das Quartett, etliche Orgelwerke und vor allem die Lieder.
    Wûrdest du bitte Kriterien nennen, die für Dich Kitsch definieren? Sind Komponisten , die sich mit Vôgeln beschäftigen per se kitschig? Und solche die zum herzlieben Jesulein komponieren ebenfalls? Welche stilistischen Merkmale definieren da für dich den Kitsch?


    Ist Wagners Waldvögelein auch Kitsch? Und Bach's "Ach mein herzliebes Jesulein"?
    Irgendwie verstehe ich noch nicht, worum es Dir geht. Ich höre in den mir bekannten Messiaen-Werken keinen Kitsch, aber ein tief empfundenes religiöses Weltverständis, in seriöser moderner Musiksprache-was schon eine Seltenheit für sich ist! :jubel:
    Religiösen Kitsch kann ich davon sehr gut unterscheiden , glaube ich. Findest du z.B. John Rutter kitschiger als Messiaen, gleich kitschig oder weniger kitschig? Und was ist mit Lloyd-Webbers Requiem, wenn schon Messiaen Kitsch ist? :D :pfeif:
    Mich interssieren wirklich mal genauer Deine Paradigmen, denn ich kann der Diskussion sonst leider nciht folgen.



    Fairy Queen


    P.S. Bin nur eine fortgeschrittene Hörerin ohne musikwissenschaftlichen Doktortitel

  • 10. Dezember 2007. Messiaen wäre heute 99 Jahre alt geworden. Im kommenden Jahr feiert die Musikwelt Messiaens einhundertsten Geburtstag mit hunderten von Konzerten.


    Die Internetseite messiaen2008.com zeigt über fünfhundert Aufführungen an, darunter zur Zeit 60 Aufführungen der Turangalîla-Symphonie, immerhin fünf Aufführungen des monumentalen Oratoriums La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ (in Essen, Helsinki, Amsterdam, Tokio und London) und zehn Aufführungen der Oper Saint François d'Assise (neun in der Aufführungsserie im Juni an der Nederlandse Opera Amsterdam und eine konzertante Aufführung in Paris). Die britische oliviermessiaen.org Website zeigt ähnlich viele Aufführungen an.


    Damit wird es Zeit, die beliebten Threads zu Messiaen wieder zu beleben und sich Gedanken dazu zu machen, welche Konzerte man besuchen möchte.


    Threads gibt es zum Beispiel zur Turangalîla-Symphonie, zu den Vingt regards sur l`enfant-Jésus, sodann zu den Orgelwerken, zu seiner Oper als Beitrag im Opernführer und natürlich hier.


    Seit dem 11. Dezember gibt es auch einen Thread über seine Lieder.

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  • Wir haben das Thema ja gerade auch in etwas kontroverser Form in einem anderen Thread.....
    Gibt es hier schon etwas zu den Liedern von Messiaen? ?(
    Edwin erwähnt auf dieser Seite z.B. die "Poème pour Mi" Es gibt aber noch Etliches mehr.


    Fairy Queen

  • Messiaens Lieder sind praktisch alle aus der "Turangalila"-Zeit. Ein sehr interessanter Zyklus ist "Harawi", eine Kombination von "Tristan"-Thematik und indischer Mystik mit einem Text, der stellenweise aus phonetischem Material besteht. Die "Mi"-Klangsprache wird erweitert und übersteigert, der Klavierpart ist ziemlich kompliziert, mitunter hat man den Eindruck, ein Klavierwerk mit obligater Singstimme zu hören. Die Melodik ist typischer Messiaen, also modal und in der Weise deklamatorisch wie in "Mi" (kurz: Wer französisch kann, hat's leichter...) - wobei in ähnlicher Weise die Deklamation zugunsten eines ekstatischen Ariosos verlassen wird. "Harawi" ist insgesamt das komplexere Werk, musikalisch und inhaltlich ein enger Verwandter der "Turangalila". Und wie "Mi" nicht eigentlich liedhaft, sondern in Richtung monologisierender Gesang gehend. Also gleichermaßen weit entfernt von der "Mélodie" traditioneller französischer Prägung wie von der Liedkomposition der deutschen Tradition.
    :hello:

    ...

  • Lieber Edwin, merci! Ich stelle morgen hier die Cd mit den Liedern vor. Da die Musik sehr komplex ist, muss ich sie erst noch wiederholt hören.
    Poème für Mi und Harawi sind beide mit drauf, ebenso" L'amour et la mort" und einige "zyklusfreie" Lieder.
    Die meisten Kompositinen finde ich ganz wunderbar gelungen- von Kitsch übrigens KEINE Spur....... :D


    Fairy Queen

  • Liebe Fairy Queen,

    Zitat

    von Kitsch übrigens KEINE Spur...


    Natürlich nicht. Aber es gibt im deutschen Sprachraum sehr oft das Mißverständnis mit der französischen Klangkultur, der Messiaen trotz seines Faibles für Mozart, Wagner und Berg angehört: Der perfekt ausgehörte Klang wird, auch wenn er nach den Regeln der Harmonielehre dissonant ist, als "Kitsch" bezeichnet. Und zwar zumeist von Leuten, die mit Schönheit in der Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts anzufangen wissen.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Der perfekt ausgehörte Klang wird, auch wenn er nach den Regeln der Harmonielehre dissonant ist, als "Kitsch" bezeichnet.


    Was für ein Satz! Was soll der denn bedeuten? In der Essenz bedeutet er wohl: Der perfekte Klang ist Kitsch. Oder: Der perfekte Klang, sei er auch dissonant, ist Kitsch. Was bitte ist der perfekte Klang? Haben denn Mozart und Beethoven nur unzulängliche Klänge komponiert, weshalb sie nicht als kitschig verrufen sind? Was soll in diesem Zusammenhang "aushören" bedeuten? Das klingt so, als gäbe es einen fixen Bezugspunkt, von dem aus man zum perfekten Klang gelangt. Wenn der dann sogar dissonant sein darf, wird es richtig spannend.


    Loge

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  • Zitat

    Zitate Loge
    Was soll der denn bedeuten?


    Er bedeutet, was er bedeutet.


    Zitat

    In der Essenz bedeutet er wohl: Der perfekte Klang ist Kitsch. etc.


    Genaues Lesen ist nicht jedermanns Sache.
    Der perfekt ausgehörte Klang in Zusammenhang mit Messiaen (über die Details kann man in seinen Schriften genau nachlesen, wo er die Resonanzen beschreibt und wie er sie verstärkt bzw. färbt) wird von Messiaen-Gegnern, die zumeist gegen seine religiöse Einstellung Aversionen haben, sich aber lieber auf das weniger anrüchige Parkett der ästhetischen, also musikalischen, Diskussion begeben, liebend gerne als Kitsch verleumdet. Ich glaube, eine derartige Diskussion hatten wir gestern. Sie wird heute nicht sinnvoller werden.


    Zitat

    Haben denn Mozart und Beethoven nur unzulängliche Klänge komponiert


    Die Klangtechnik von Beethoven und Mozart spielt in einer Diskussion über Messiaen keine Rolle.


    :hello:

    ...

  • Lieber Loge,


    bei all Deinen bisherigen Ausführungen ist mir eins aufgefallen - das ich bisher, da ich mich selbst nicht der Polemik beschuldigen lassen möchte, stets vermieden habe direkt auszusprechen (nun will ich aber doch, denn der Verdacht drängt sich geradezu auf). Gibt es überhaupt IRGENDEINEN französischen Komponisten, dem Du "wahre Größe", vielleicht sogar "Genie" attestierst?
    Zuerst kanzelst Du Rameau ab, dann mit Hilfe von Harnoncourt Berlioz, Debussy darf ja bekanntlich auch nicht zu den ganz Großen gehören und Messiean - nun ja, s. oben.
    Außer zwei Italienern (Verdi, und Monte-) fürt die musikalische Welt das deutsch/österreichische Musikertum an. Ist das nicht merkwürdig?
    Bitte nicht falsch verstehen. Ich möchte nur zum Ausdruck bringen, daß Dir PERSÖNLICH - die deutsch/österreichische Seinsweise in der Musik eher liegt als die französische. Ich habe das ja bereits einmal angeprochen, leider hast Du drauf nicht reagiert. Ich habe mich bei den verschiedenen "Seinsweisen" auf Ansermet bezogen, eine Perpsektive, die ich zumindest nachvollziehen kann.


    Außerdem muß ich Edwin in einem Punkte zustimmen: Deine Aussagen klingen in mancherlei Ohr arrogant. Daß gewieft auch eine andere Bedeutung haben kann, ändert kaum etwas an dem Umstand, daß die primäre Bedeutung die von Edwin in dem Zusammenhang erwähnte ist. Zumindest aus unserem heutigern Verständnis. Da Du aber ein schlaues Kerlchen bist, weißt Du von dieser primären Bedeutung und um die Konotation, die in der Aussage steckt, wenn Du dieses Wort benutzt. Ansonsten hättest Du auch gleich scharfsinnig, klug, schlau etc. schreiben können.....


    :hello:
    Wulf

  • Lieber Edwin Baumgartner, lieber Loge, liebe Messiaen-Bewegte überhaupt,


    verfolge Euren heftigen Streit, den Ihr beide da seit gestern führt, mit großem Interesse - nicht weil ich den Krieg der Geister besonders mag (gebe zu, daß mich der polemische Stil eher befremdet), sondern weil ich selbst gerade (wieder einmal) einen Versuch unternehme, mich den merkwürdigen Klangkonstruktionen des O. M. anzunähern und daher alles Bedenkenswerte und gut Gedachte gern aufnehme.


    Das "Quatuor pour la fin du Temps" schätze ich seit langem hoch; die Turangalila-Symphonie habe ich bereits zweimal, zuletzt in diesem Frühjahr, im Konzertsaal erlebt und fand's beeindruckend und erhebend - doch mit den übrigen Werken, vor allem denen für Orgel, wurde ich bislang nicht recht warm.


    Nun bin ich - gute Tips im Tamino-Forum, auf das ich erst kürzlich gestoßen bin! - auf die Gesamteinspielung durch Olivier Latry gekommen - und entdecke eine Welt! Was mir bislang spröde und kühl erschien, nimmt mich jetzt gefangen - habe sogar den Eindruck, mich auf eine, ich sag's ruhig mal, spirituelle Reise zu begeben, hochfaszinierend, und frage mich, was mich da so ergreift.


    Natürlich höre ich Vogelstimmen und habe gelesen, daß diese Laute O. M. anscheinend einen unmittelbaren Zugang zum Göttlichen ermöglicht haben. Aber das berührt mich nicht, bin ornithologisch weder versiert noch besonders interessiert.


    Auch der katholische Mystizismus, der in den Titeln so dominiert, beschäftigt mich weniger, fühle mich wenig angesprochen durch "heitere Hallelujas einer Seele, die den Himmel ersehnt" (ein Beispiel für viele andere).


    Bin auch kein ausgesprochener Freund des Orgelklangs (mit Kammer- und Orchestermusik viel besser vertraut).


    Aber es gelingt mir, gerade durch das, was O. Latry an der Notre-Dame-Orgel aufführt, im ruhigen Anhören ein Gefühl der Mitte in mir zu spüren, das ich aus anderen musikalischen Welten (darf mich da ohne Hemmungen als durchaus hör-erfahren bezeichnen) nicht kenne, glaube da vereinzelt "ätherische" Stellen zu entdecken und trete in Kontakt mit einem grundlegende, tiefen "Optimismus", den die Musik ausstrahlt.


    Ganz, ganz schwer zu beschreiben!


    Was ich mich frage: Was nehme ich da wahr (die Grenze zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung verschwimmt, ist sie überhaupt bestimmbar?)?


    Wahrscheinlich hängt es mit der besonderen Art des Statischen, wie ich sie nur bei Messiaen höre, zusammen? Einer ruhigen, in sich selbst begründeten Gewißheit?


    Damit beende ich zunächst meine Spekulationen und Fragen und bin neugierig auf weiter Anregungen...

  • Lieber Gurnemanz,
    was Dir widerfährt, ist Messiaens Zerreißen des Zeitgefühls.
    Der aufnahmebereite Hörer, der sich nicht von theologischen Titeln oder in den Partituren penibel aufgelisteten Vögeln abschrecken läßt, kann in diese Musik tatsächlich hineinfallen und eine Art Meditation erleben.
    Woher das wirklich kommt, läßt sich wissenschaftlich wahrscheinlich nicht erklären. Ich glaube, es hängt mit dem Puls zusammen: Messiaens Musik hat nämlich, wenn sie von guten Musikern wie Latry ausgeführt wird, einen merklichen Puls - aber er ist extrem verlangsamt. Man glaubt, eine völlig statische Musik wahrzunehmen. In Wahrheit ist es eine Musik der extrem verlangsamten Bewegung.


    Nun zu den theologischen und ornithologischen Abhandlungen. Messiaen läßt sich von theologischen Sätzen inspirieren und verwendet mitunter gregorianische "Allelujas" (die er in seine Modi transponiert - weniger ein Transponieren übrigens; mir kommt es vor, als würde er die Gregorianischen Melodien durch seine Modi brechen wie ein Prisma das Licht bricht). Durch diese Offenheit macht er sich angreifbar.
    Seltsamer Weise habe ich bei ihm aber nie das Gefühl eines katholischen Weihrauchs. Mir erscheint die Musik eher als symbolische Umsetzung der theologischen Inhalte, nicht als deren Beschreibung. Die Ingredienzen der Symbole sind dabei teilweise konstruktiver Natur. Gott wird etwa, da ohne Anfang und ohne Ende, in Rhythmen symbolisiert, die, laut Messiaen, langsamer sind als die langsamste Regung des Menschlichen Körpers; oder Messiaen benützt einen unumkehrbaren Rhythmus, der sozusagen seinerseits wiederum einen Kreis symbolisiert.


    Diese Durchdringung von kompositionstechnischen Finessen und geistigem Gehalt ist sicher nicht jedermanns Sache. Andererseits ist Messiaens Musik in einem Ausmaß durchstrukturiert, daß man keineswegs Ornithologe oder Theologe sein muß, um diese Musik zu verstehen. Weshalb Messiaen etwa auch in Japan sehr viele Anhänger hat.
    Ich persönlich glaube, daß man vielleicht einen Hauch von Gefühl für Mystik und Mysterium mitbringen muß, um sich von Messiaens Musik angesprochen zu fühlen. Ob dieses Gefühl für Mystik und Mysterium nun im Katholizismus wurzelt oder im Protestantismus oder im Buddhismus, ist letzten Endes egal.


    :hello:

    ...

  • Danke, lieber Edwin,


    damit kann ich etwas anfangen: Musik, die sich Zeit läßt, gern auch viel Zeit, hat mich seit jeher angesprochen (so etwa in den letzten Jahren Allan Pettersson, der im Unterschied zu Messiaen öffentlich fast gar nicht beachtet bzw. aufgeführt wird).


    Bei Latry empfinde ich eine besondere Lust, die Klänge festzuhalten, als könnte ich im den Prozeß noch weiter verlangsamen (also grad das Gegenteil von Ungeduld). Wie schön ein einzelner Akkord (konsonant oder dissonant) doch sein kann, wenn er für eine Weile erklingt, anstatt sich sofort wieder in den Prozeß aufzulösen! Dabei ist dieses Gefühl wahrscheinlich eine Illusion, denn die Schönheit des Details entsteht auf irgendeine Weise doch wieder nur aus dem Zusammenhang...

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