Hallo, liebe Freunde der Musik von Schubert,
gern nehme ich die Idee von 'observator' auf, endlich den einzelnen Klaviersonaten von Schubert das gebührende Recht zukommen zu lassen. Für meine Annäherung an Schubert ist die c-Moll Sonate ein Schlüsselstück geworden. Das Finale hat eine Dynamik, die einen so schnell nicht wieder los läßt.
Die Sonate ist als Eröffnung der 3 zusammenhängenden späten Sonaten im Jahr nach Beethovens Tod gedacht, Schuberts letztem Lebensjahr, 1828. Er hatte im Jahr zuvor mit der "Winterreise" endgültig seine eigene Aussage gefunden. Die Große C-Dur Sinfonie war erfolgreich abgeschlossen, und er konnte nun frei neue Wege gehen. Wirklich ganz frei? Er war sich der tödlichen Krankheit immer bewusst, die er sich 1822-23 zugezogen hatte. In gründlichen Vorarbeiten wurden alle 3 Sonaten gemeinsam entworfen und stellen ein einheitliches Werk dar. Die c-Moll Sonate übernimmt als eröffnendes Stück am stärksten den Rückblick auf Beethoven.
Bei den ersten Klängen scheint jedoch Schumann zu hören, der von diesen Sonaten überaus begeistert war und sie "auffallend anders als die anderen" fand. Der langsame Satz zitiert sowohl Beethoven, wie auch in den unerbittlich pochenden Stellen die Verzweiflung der Winterreise zu spüren ist. Das Menuetto ruft fast noch einmal die längst vergangene frühere Unbeschwertheit wach.
Und nachdem all das gegenwärtigt ist, schließt ein ganz ungewöhnliches Finale. Da ist wieder etwas Beethoven, mal die Sturm- und mal die Waldstein-Sonate, aber ein völlig überraschender Rhythmus, der sich in keine Musikepoche einpassen will. Eine Tarantella, die wie kaum etwas anderes von Schubert auch aus dem 20. Jahrhundert kommen könnte. Die Musik erreicht einen Schwebezustand, entschwindet und kommt von woanders wieder her, taucht auf und geht unter, bleibt stehen und sprudelt über, täuscht Freudigkeit vor und ist doch in Moll gehalten, bringt ein neues festes Thema, wo eine Verarbeitung der etwas leichten ersten beiden Themen erwartet werden könnte. Ist das nun ein Rondo oder eine Sonate? Immer an der Grenze zur Improvisation.
Das Stück hält sich an keine feste Zeitordnung. Gülke schreibt in seinem Buch über Schubert von der "Diskretion, mit der sie den Zeitlauf durchschimmern läßt und ebensowohl eindeutig konsekutive Momente wie überstarke Prägnanz meidet, welche alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sich vor den Hintergrund des Zeitlaufs schieben und als einzige Realität erscheinen könnte. ... die eigentümliche Indifferenz der thematischen Gestalten, denen man nicht glaubt, daß sie unbeschwert-verspielt daherkommen, das ziellos Geschäftige, und mittendrin das Sirenenhafte, die 'elbische' Verlockung des H-Dur-Themas. In dieser Musik ist nichts festgeschrieben. ... Glaubwürdig erscheint sie am ehesten, weil sie die eigene Glaubwürdigkeit in Zweifel zieht."
Mit den Liedbegleitungen war es ihm ganz zwanglos gelungen, im Fluss der Melodie Zeit und Raum vergessen zu lassen. Ihm gelingt mühelos, die Tradition deutscher Liedvertonungen seit Luther zu vollenden. Luther hatte begonnen, den besonderen Rhythmus der deutschen Sprache in seiner Bibelübersetzung und seinen Chorälen zum Tragen zu bringen (Georgiades spricht von der Betonung auf der jeweils bedeutungsschweren Silbe, und den Auftakten und Abtakten im Sprachfluß, z.B. Abtakte bei Váter, Lében und Auftakte bei begréifen, herúnter). Beeinflusst von der völlig frei gewordenen Kompositionstechnik in Italien, hatten erst Schütz und dann Bach verstanden, immer kunstvollere deutsche Textvertonungen zu schreiben. Doch sie blieben noch im traditionellen Geist der Kirche bzw. höfischen Musik. Das änderte sich mit der Klassik. Beethoven gelingt es schließlich völlig, das eigene innere subjektive Erleben und Empfinden zu komponieren und nicht mehr den Lobgesang auf die Welt, wie sie von Gott eingerichtet wurde und in der sich der Mensch bewegt.
Aber auch Beethoven hielt sich bei aller Freiheit an die klassischen Formen der Sonate und mit wachsender Ehrfurcht der Fuge. Schubert scheint zunächst zum Geist von Bach zurückzukehren, dessen Hineinhorchen in die innere Unendlichkeit der Klänge. Doch ist er nicht mehr vom Glauben gesichert. Neben Mathematik waren seine Leistungen in Religion stets zweifelhaft. Er konnte nie zu einem festen Lebenswandel finden. Aber ganz anders als die jugendbewegten Generationen 100 Jahre später gerät er auch in keine anti-bürgerliche oder anti-gesellschaftliche Attitüde. Hier ist er wieder Schütz und Bach nahe, wenn er sich im Fluss der ihn umgebenden Fülle von Liedern geborgen weiß. Das ist sicher ein Erbe des aus Böhmen nach Wien eingewanderten Vaters.
Wozu so weit ausholen: Im Finale der c-Moll Sonate stößt beides aufeinander. Die Themen werden nicht streng gegeneinander gestellt und dann thematisch verarbeitet, entwickelt und schließlich in der Reprise wieder kunstvoll zusammengefügt, so eine sichere Zeit-Architektonik schaffend, sondern führen einander fort, strömen aus den Gesetzmäßigkeiten der Sonate hinaus, werden daher plötzlich abrupt unterbrochen und kehren doch wie verjüngt und mit neuer Frische wieder.
Aber seit dem "Leiermann" ist Schubert auch die innere Dynamik des Liedschaffens abhanden gekommen. Zu lange hat er sich unverstanden gefühlt, konnte in seinem Leben keine Richtung erkennen und ihm keine Richtung geben, und empfindet nun das früher unbeschwert in "himmlische Längen" alle Maße der Zeit überschreitende Singen nur noch als leeren Gleichklang, den niemand mehr hören mag. Der Leiermann steht an der Grenze zum Verstummen, die Klavierbegleitung spinnt keinen durchgehenden Faden mehr.
Vom Leiermann her ist die Tarantella des Finale zu hören. Und dann ist zu verstehen, wie sich hier erstmals jene leerlaufende Motorik und eine Rastlosigkeit zeigen, die alle Gefühle erkalten lässt, wie es dann zum Grundzug der Musik bei Tschaikowsky, den Scherzi von Bruckner, Scriabin, Ravel, Prokofjew, Schostakowitsch, Strawinsky, dem Jazz wird, der seither die Musikgeschichte antreibt. Wurde versucht, mit technisch immer aufwändigeren, intellektuell anspruchsvolleren Werken seit Brahms dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, erwies sich das als unmöglich. Der Geist koppelte sich vom Lebensgefühl ab.
Gustav Klimt: Schubert am Klavier, 1899 (1945 verbrannt). Eine geniale Idee, Schubert in das Ambiente des Fin de Siècle in Wien zu versetzen und so den Kontrast von Schubert und seiner Umgebung so grell wie möglich zu beleuchten
In diesem Finale ist der Anfang zu spüren, wie die Musik auseinander zu brechen beginnt. Es hat eine fast betäubende Wirkung, wie die Zeit abwechselnd beschleunigt und zum Stehen gebracht wird. Schubert beginnt seine eigene Identität nicht mehr wahren zu können und fühlt entgegengesetzte Gefühlsinhalte einander durchkreuzen. Kein Bild fasziniert ihn am Ende stärker als Heines Gedicht vom "Doppelgänger", der sich selbst als einen Fremden vor dem Haus der verlorenen geliebten Frau stehen sieht und dem alle tiefen Gefühle vor sich selbst zu Theatralik erstarrt sind.
Als Interpretin kann Elisabeth Leonskaja empfohlen. Ihre Einspielung ist sehr günstig bei jpc zu erhalten.
Viele Grüße,
Walter