Die Bachkantate (046): BWV84: Ich bin vergnügt mit meinem Glücke

  • BWV 84: Ich bin vergnügt mit meinem Glücke
    Kantate zum Sonntag Septuagesimae (wahrscheinlich Leipzig, 9. Februar 1727)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Kor. 9,24-10,5 (Wettlauf um den Sieg)
    Evangelium: Matth. 20,1-16 (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg)



    Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 16 Minuten


    Textdichter: unbekannt (evtl. von oder nach Picander)
    Choral: Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt (1686)



    Besetzung:
    Solo: Sopran; Coro: SATB; Oboe, Violino solo, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Aria Sopran, Oboe, Streicher, Continuo
    Ich bin vergnügt mit meinem Glücke,
    Das mir der liebe Gott beschert.
    Soll ich nicht reiche Fülle haben,
    So dank’ ich ihm vor kleine Gaben
    Und bin auch nicht derselben wert.


    2. Recitativo Sopran, Continuo
    Gott ist mir ja nichts schuldig,
    Und wenn er mir was gibt,
    So zeigt er mir, dass er mich liebt;
    Ich kann mir nichts bei ihm verdienen,
    Denn was ich tu’, ist meine Pflicht.
    Ja! wenn mein Tun gleich noch so gut geschienen,
    So hab’ ich doch nichts Rechtes ausgericht’.
    Doch ist der Mensch so ungeduldig,
    Dass er sich oft betrübt,
    Wenn ihm der liebe Gott nicht überflüssig gibt.
    Hat er uns nicht so lange Zeit
    Umsonst ernähret und gekleid’t
    Und will uns einsten seliglich
    In seine Herrlichkeit erhöh’n?
    Es ist genug vor mich,
    Dass ich nicht hungrig darf zu Bette geh’n.


    3. Aria Sopran, Violino solo, Oboe, Continuo
    Ich esse mit Freuden mein weniges Brot
    Und gönne dem Nächsten von Herzen das Seine.
    Ein ruhig Gewissen, ein fröhlicher Geist,
    Ein dankbares Herze, das lobet und preist,
    Vermehret den Segen, verzuckert die Not.


    4. Recitativo Sopran, Streicher, Continuo
    Im Schweiße meines Angesichts
    Will ich indes mein Brot genießen,
    Und wenn mein Lebenslauf,
    Mein Lebensabend wird beschließen,
    So teilt mir Gott den Groschen aus,
    Da steht der Himmel drauf.
    O! wenn ich diese Gabe
    Zu meinem Gnadenlohne habe,
    So brauch’ ich weiter nichts.


    5. Choral SATB, Oboe, Streicher, Continuo
    Ich leb’ indes in dir vergnüget
    Und sterb’ ohn’ alle Kümmernis,
    Mir g’nüget, wie es mein Gott füget,
    Ich glaub’ und bin es ganz gewiss:
    Durch deine Gnad’ und Christi Blut
    Machst du’s mit meinem Ende gut.



    Hier haben wir es fast mit einer Solo-Kantate zu tun, denn außer im Schlusschoral darf sich der Solosopran hier in BWV 84 ganz alleine tummeln!


    Auch diese Kantate bezieht sich deutlich auf das Evangelium des heutigen Sonntags (siehe dazu auch BWV 144 wegen ein paar Erläuterungen hierzu).
    Vor allem die Textzeile in Nr. 4 "So teilt mir Gott den Groschen aus" bezieht sich auf die im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg erwähnte Lohnauszahlung am Ende des Arbeitstages.
    Auch hier dominiert wieder die Aussage, sich zufrieden zu geben mit dem, was einem im Leben (von Gott) zuteil wurde - "Neid" ist gewisslich nicht nur bei Katholiken eine Todsünde ;)


    Aber die hier besprochene Kantate strahlt auch musikalisch irgendwie eine heitere, bescheiden-selbstzufriedene Atmosphäre aus, die den anderen erhaltenen Kantaten für diesen Sonntag (BWV 144 und BWV 92) nicht in diesem Maße innezuwohnen scheint - jedenfalls empfinde ich das so.


    Vor allem die Arie Nr. 3 mit der Solo-Oboe und der virtuos eingesetzten Solo-Violine zähle ich da ganz besonders zu!


    Der Schlusschoral verwendet die bekannte Choralmelodie von "Wer nur den lieben Gott lässt walten", was ja ebenfalls perfekt zur Aussage der Kantatendichtung passt... :yes:

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Eine wirklich sehr schöne, heiter beschwingte Kantate ist das, die ich allerdings nur hören mag, wenn ich selber gute Laune habe, sonst würde mir ihre bescheidene Selbstzufriedenheit ein wenig zu sehr auf die Nerven gehen.


    Wunderschön leicht und luftig interpretiert wird das Werk von der Sopranistin Nancy Argenta und dem Ensemble Sonnerie unter Leitung von Monica Huggett auf dieser Doppel-CD, die man zurzeit für wenige Euro über den Amazon-Marktplatz bekommt:




    Eine tolle Aufnahme von BWV 51, Jauchzet Gott in allen Landen ist unter anderem auch noch mit drauf.


    Mit Gruß von Carola

  • Guten Tag


    Zitat

    Original von Carola
    Eine wirklich sehr schöne, heiter beschwingte Kantate ist das, die ich allerdings nur hören mag, wenn ich selber gute Laune habe, sonst würde mir ihre bescheidene Selbstzufriedenheit ein wenig zu sehr auf die Nerven gehen.


    Ich schätze diese Kantate ebenfalls sehr.
    Schade, dass so wenig Solo-Kantaten für Sopran von Bach überliefert sind.
    Diskutiert wurde , dass man diese Kantate auch als geistliche Hausmusik (z.B. für Anna Magdalena Bach) ansehen könnte.
    In den Leipziger Kirchen wird sie wohl aber ein begabter Sopranist gesungen haben.



    Habe die Aufnahme mit Nancy Argenta eben geordert, bisher besitze ich noche keine einzige Einspielung mit dem Ensemlbe Sonnerie :untertauch:, warte gespannt.
    Mir ist diese Kantate in der Einspielung mit Harnoncourt noch im Ohr, der Bub singt sie aber auch ganz respektabel.


    Habe aber diese



    Bach-Arien CD mit der (damals) noch jungen Magdalena Kozema, hier singt sie herrlich die Arie "Ich esse mit Freuden mein weniges Brot" :angel:


    Hätte gerne die ganze Kantate mit ihr =)



    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Guten Tag


    Dorothee Mields hat dieses virtuose Brauvorstück
    für Solosopran mit ihrer wundervollen Stimme
    zusammen mit dem Collegium Vocale Gent,
    Leitung: Philippe Herreweghe,
    auf dieser



    CD eingespielt.
    Mit dieser Kantate beendete Bach wohl seinen 3. Leipziger Kantatenjahrgang.


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Seit einiger Zeit verfolge ich das Projekt, sowohl für mich als auch für die Öffentlichkeit TIDAL-Playlists zu Bachs Kantaten zusammenzustellen. Es sind meistens drei Kantaten in einer Playlist enthalten. wobei ich BWV-chronologisch vorgehe, also z.B. BWV 1 - BWV 3.

    In diese Playlists kommen nur HIP-Einspielungen, die ich selbst aus guten Gründen für hörenswert halte. Historische Aufnahmen auf modernen Instrumenten kommen da also nicht vor.

    Einspielungen die ich nicht mag, kommen in den Listen nicht vor. Ich finde es immer spannend, wenn man irgendwann auf einem Niveau angekommen ist, wo es sehr schwer fällt, sich eindeutig für die eine oder andere Aufnahme zu entscheiden.

    Unterschiedliche gute Lösungen können ab einem sehr hohen Niveau gleichzeitig möglich sein. Am Ende ist man froh, dass man von dem Werk verschiedene Interpretationen hören kann, die allesamt sehr überzeugend sind.


    Zwei Anmerkungen:

    Harnoncourts (und manchmal auch Leonhardts) Aufnahmen habe ich hier und da auch mit eingefügt. Oft höre ich, dass der Knabenchor oder die Knabensolisten relativ deutlich überfordert sind, gerade wenn ein so ausdrucksgieriger Dirigent wie Harnoncourt etwas von ihnen möchte. Trotzdem habe ich manche Kantaten auch dieses Dirigenten eingefügt, weil er mit seinem Concentus musicus Wien mitunter sehr eigene und instrumental sehr gelungene Dinge gemacht hat, gerade in den Streichern. Ich gebe zu, dass dieser Ansatz, etwas in selektiven Aspekten zu favorisieren sich eher an Musiker richtet, die davon etwas lernen möchten, vielleicht auch, weil sie selbst die Aufführung einer Bachkantate planen. Aber es gibt auch vokale Highlights bei Harnoncourt, etwa die Bässe Robert Holl <3 und Philippe Huttenlocher und auch die Sopranistin Barbara Bonney, die leider nur einmal zum Einsatz kam.


    Etwas "dumm" ist, dass die Netherlands Bach Society sich dafür entschieden hat, ihre Aufnahmen nur als Videos auf YouTube zu veröffentlichen, es sich bei denen also nicht um CD-Produktionen handelt. Falls jemand aktuellere Informationen hat, dann immer heraus damit.

    Gäbe es deren Produktionen auf CD, wären sicher auch einige ihrer Kantaten in meinen Favoriten-Playlists aufgetaucht, denn sie machen es oft sehr gut.


    In diesem Fall geht es ja um die Kantate "Ich bin vergnügt in meinem Glücke" BWV 84.

    Die dazugehörige Playlist gibt es hier. (anklicken)


    Wer nicht TIDAL-Premium-Kunde ist, wird das wahrscheinlich nur in kurzen Ausschnitten und nicht in High-Res. hören können, sondern leider nur recht deutlich datenreduziert. Es klingt aber sehr gut, wenn man das Abo hat...


    Doch nun zu BWV 84:


    1. Aria Sopran, Oboe, Streicher, Continuo
    Ich bin vergnügt mit meinem Glücke


    Suzuki:

    Masaaki Suzuki wählte für mich das ideale Tempo, wenngleich andere Tempi auch möglich sind. Ich halte dieses Tempo deshalb für ideal, weil man die Melismen der Oboe und der Sopranistin in diesem Tempo kantabler und expressiver machen kann, als wenn man es schneller angeht.

    Suzuki wählt für diese Arie eine mehrfache Streicherbesetzung.

    Der Klang ist geprägt von dem reichen Nachhall, den die Kirche in Kobe bietet.

    Bachs Musik kommt hier mit einer für Bach typischen Affektmischung daher: das "Vergnügen" geschieht in moll, mit lombardischen Seufzern im Sopranthema, die vielleicht eher an Schluchzer als an Jauchzer erinnern. Durch Melismen und Überbindungen erscheint die Orchesterbegleitung als recht komplexes Gewebe. Die Melismen der Oboe und der Sopransolistin enthalten sowohl Freude als auch Schicksalsergebenheit, können den Kenner gar hier und da an die Melismen von "Ich habe genung" erinnern, bei denen es ja sogar um Todessehnsucht geht.

    Die in Moll gehaltene Harmonik ist ausdrucksstark- emotional, und hierin keineswegs freudig-lustig, sondern eher geprägt durch die tragischen Widrigkeiten des Lebens.

    Dieses "Vergnügen" erinnert schon fast an jene "ich freue mich auf meinen Tod"-Stimmung aus der bereits genannten Kantate BWV 82.

    Es geht im 3/4-Takt immer voran, fast schon vom klaren Bassrhythmus "getrieben". "Wie geht es Dir? Muss....!"... so ähnlich klingt es mir.

    Ich bin zufrieden ( =vergnügt) mit den Umständen, in denen ich lebe. Andere haben es vielleicht schlechter, und Gott hat mir mein Teil gegeben, mit dem ich zufrieden bin. Das inhaltliche Konzept der Kantate wäre das Ende des Kapitalismus, der auf den tendenziell nie endenden materiellen Bedürfnissen des Menschen aufbaut.


    Carolyn Sampson erweist sich hier wieder einmal als ausgezeichnete Bach-Sängerin. Das Timbre deutet an, dass sie zwar nicht nur Barockmusik singt, aber doch auf darauf achtet, nicht auf jedem Ton zu vibrieren, sondern sehr farbenreich zu singen.


    Der Oboist hat einen weichen Ton und spielt mit guter agogischer Flexiblität.


    Zum Glück hat Suzuki für diese Arie auf das Cembalo im Continuo verzichtet, d.h. hier gibt es nur ein Orgelcontinuo, was m.E. besser zum Affekt der Arie passt.


    Alles in allem eröffnet sich in der Arie eine große musikalisch-geistliche Tiefe, die der Text für sich genommen so nicht erahnen lässt. Das ist eben Bach, und das gibt es so nur bei ihm.

    Suzuki steht dem nicht im Wege, sondern lässt die Musik für sich selbst sprechen - sehr bereichernd.


    Herreweghe:


    Diese Arie lässt Herreweghe ein wenig schneller spielen als Suzuki, aber keineswegs zu schnell. Man kann auch mit diesem Tempo gut leben.

    Man hört ihr die Streicher in solistischer Besetzung, und es gibt zwar einen subjektiv "richtigen" Hallanteil, allerdings nicht so viel wie bei der japanischen Aufnahme.

    Der Gesamteindruck ist typisch Herreweghe: hochkultiviert, keine "Mätzchen", und mit mild-ernster Spiritualität, akustisch irgendwie vor einem schwarzen Hintergrund.

    Wer sich mit Bachs geistlichen Werken und deren Aufnahmen auskennt, wird wohl auch den typischen "Herreweghe-Sound" erkennen können.

    Im Gegensatz zu früheren CDs spielt die "neue" Organistin Maude Gratton kürzer und mit mehr "Luft". Herbert Tachezi vom Concentus musicus Wien machte das auch, allerdings in anderer Art und Weise. Als junger Mann empfand ich es noch als Affront, dass der frühere Continuo-Organist Herreweghes mehr legato spielte. Heute jedoch vermisse ich es fast, denn dieses verbindende Legato passte sehr gut zu Herreweghes milder und hochkultivierter Spiritualität.

    Dorothee Mields ist eine ganz herausragende Barocksopranistin, die ich oft favorisiere, auch als Schütz-Interpretin. Sie macht ihre Sache hier auf eine Art und Weise, bei der man sagen muss: es geht nur noch anders, nicht besser.

    Ihr Timbre ist schlanker und geht mehr so ein bisschen in Richtung Emma Kirkby.


    Herreweghe Oboist Marcel Ponseele ist eigentlich der King des kultivierten Bach-Oboenspiels mit dunklem Oboenklang. In diesem Fall muss er sich den Titel mit Suzukis Oboisten teilen. Sie spielen es etwas anders, aber ganz hervorragend, ja vorzüglich.


    Da gleich meine Frau mit Tee kommt, muss ich den Rest der Besprechungen dieser Kantate erst einmal auf morgen verschieben.

    Sie mag es nicht so ganz gerne, wenn ich hier zuviel Zeit verschwende...;)


    Bis später,


    LG:hello:

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Erst jetzt finde ich die Zeit, hier weitermachen zu können.


    Wir waren immer noch bei der ersten Arie.


    Harnoncourt:


    Das Orchester spielt gewohnt sehr an der Gestik der Klangrede orientiert. Was haben die Figuren zu bedeuten, wie spielt man Artikulation, Phrasierungsdynamik, Einzeltondynamik, expressiver Vibratoeinsatz, welche Auswirkungen hat die harmonische Progression auf die Dynamik, welcher Affekt(e) wird hier zum Ausdruck gebracht? All diese Fragen und wohl (noch viel mehr) hat man sich gestellt und ist zu ausdrucksfreudigen, eben "Harnoncourtigen" Lösungen gekommen.

    Als diese Aufnahme herauskam, schwang auch immer ein gewisser pädagogischer Effekt mit. Kein Mensch hatte vorher diese Kantate auf alten Instrumenten und vor allem mit dem historisch inspirierten, aber durchaus auch sehr persönlich durch Harnoncourt geprägten Interpretationsstil gehört. Der klangliche und musikalische Unterschied zu früheren Richter/Rilling-etc- -Aufnahmen wird gewaltig gewesen sein.

    Demgegenüber nehmen Herreweghe und Suzuki in ihren wesentlich später entstandenen Aufnahmen diesen Neuheitsaspekt zurück. Die Verwendung von alten Instrumenten hat sich durchgesetzt - es klingt einfach überzeugender- und etwas von dem Wissen über barocke Artikulation, Phrasierung und Dynamik hat sich dankenswerterweise herumgesprochen. Suzuki und Herreweghe können sich mehr auf den expressiven Teil, auf die Textauslegung konzentrieren und versuchen, durch eine weichere und "luxuriösere" Klangästhetik tiefere Schichten der Komposition freizulegen, was ihnen bei dieser Eingangsarie auch gelingt.

    Man muss natürlich sehen, dass bei Harnoncourt der Knabensopran Wilhelm Wiedl sang, während bei den Anderen in ihrer Ausbildung wesentlich weiter gekommene erwachsene Sängerinnen eingesetzt werden.

    Der Junge hat dem gegenüber naturgemäß hörbare Nachteile hinsichtlich Linie, Luft, Intonation und auch innerer Reife.


    Exkurs:

    Es gibt in diversen Bachforen es Internets - aus meiner Sicht hoffnungslos durchgeknallte- Puristen, die die Verwendung solcher "Barocksängerinnen" als Sündenfall anprangern und es ebensowenig vertragen können, dass selbst Harnoncourt später - wie all die anderen- auf gemischte professionelle Chöre und professionelle, erwachsene Sängerinnen und Sänger setzte.


    In halte das für einen großen Blödsinn, denn es sollte doch um eine bestmögliche Aufführung dieser hochwertigen Musik gehen. Die Ergebnisse Koopmans, Herreweghes, Suzukis und auch Veldhovens legen doch ganz klar dafür Zeugnis ab, dass die Idee, es mit Kindern und Knabenchören zu versuchen, zu mehr oder weniger nicht zufriedenstellenden Ergebnissen führte. Das kann man oft und durchaus zweifelsfrei beim vergleichenden Anspielen der Aufnahmen nachvollziehen, wenn man denn so etwas wie Intonationsschwierigkeiten, hackende Phrasierungen aufgrund musikalischer und technischer Schwierigkeiten und noch viel mehr hören kann. Einige hören es tatsächlich nicht, reden aber meinungsstark mit. Was soll man machen...


    Natürlich war der Junge hochmusikalisch, und ja, ich könnte es nicht so singen, wie er es konnte, bin aber auch nicht Sänger sondern nur ein orgelnder Chorleiter...

    Hätte ich so einen in unserer Kirche, dürfte er per sofort im Kirchenchor mitmachen. Aber hier reden wir ja von anderen internationalen Maßstäben.


    3. Aria, Sopran "

    Ich esse mit Freuden mein weniges Brot"


    Der affektive Wechsel zur Eingangsarie ist sehr deutlich und wurde durch das überleitende Rezitativ vorbereitet.

    Hier hört man dann das "Vergnügen"; jene vergnügliche Zufriedenheit, vielleicht auch eine gewisse fröhliche Geschäftigkeit, vor allem in der Violinstimme.


    Suzuki:

    Hier wird ein recht hohes Tempo gespielt und gesungen. Hört man erst Herreweghes Aufnahme und wechselt dann zur Suzuki-Einspielung, kann einem dieses Tempo geradezu absurd schnell vorkommen. Verzichtet man allerdings auf diese direkten Quervergleiche, dann fällt einem weniger auf, wie schnell es eigentlich ist, denn die Beteiligten spielen trotzdem nicht hektisch und beherrschen das Material souverän.

    Wie Harnoncourt lässt auch Suzuki den Auftakt der Melodie an die darauffolgende Note bilden, was der Figur einen ländlich-tänzerischen Charakter verleiht. Mich überzeugt es.

    Wie gesagt ist das technisch-musikalische Niveau sehr hoch und überzeugend.



    Herreweghe:


    ...wählte hier ein etwas langsameres Tempo, welches eigentlich sofort überzeugen kann.

    Im Unterschied zu Harnoncourt und Suzuki lässt er immer den 16`-Violon ( den Kontrabass) im Continuo mitgehen, wodurch das Klangbild voller wird, was ein Vorteil ist. Nachteilig kann dabei sein, dass ein ausdrucksvoller und individuell sprechender Continuobass leichter zu realisieren ist, wenn nur ein Violoncello plus Orgel eingesetzt wird.

    Hier jedoch finde ich es durchaus ok - es ist ein wichtiger Aspekt des Herreweghe-Sounds.


    Harnoncourt:


    ... musste bei der Tempowahl vielleicht doch etwas Rücksicht auf den Knabensolisten nehmen.

    Instrumental finde ich es ebenfalls sehr schön, unter anderem auch deshalb, weil ich den Klang der Geige und des Violoncellos per sofort wie das Timbre eines Sängers als Alice und Nikolaus Harnoncourt identifizieren kann. Die hatten einen sehr eigenen Ton und eine mit ihnen auch von dieser Erde verschwundenen persönlichen Spielweise, die man schätzen kann. Es gibt allerdings im Kantatenwerk Arien, bei denen dieser Aspekt deutlicher hervortritt und mir dementsprechend wichtiger wird, als hier.


    5. Schlusschoral:

    "Ich leb indes in dir vergnüget"


    Suzuki:


    Da erst hier ein mehrstimmiges Vokalensemble von Bach verlangt wird, hat sich Suzuki dafür entschieden, den Schlusschoral solistisch singen zu lassen.

    Die kantable und klangnervige Weise in der das hier geschieht, liegt für mich vor dem, was ich von Interpreten kenne, die grundsätzlich OVVP bevorzugen.

    Hier gibt es nichts zu meckern: perfekte Intonation, schöne Linien, auch gut vom Orchester gespielt.


    Herreweghe:


    Die Verwendung von solistischen Sängern hätte wahrscheinlich nicht zum "Herreweghe-Sound" gepasst. Da Herreweghe mit dem Collegium Vocale Gent über eines der besten Bach-Gesangsensembles dieser Welt verfügt, ist das auch keineswegs zu kritisieren.

    Man singt im Vergleich zu Suzuki etwas zügiger, auch nüchterner, ohne dabei diese "milde Spiritualität" zu verlieren.

    In diesem Fall ziehe ich die sehnigere, "nervigere" Version Suzukis vor, die mit auch bei aller Gradlinigkeit etwas emotionaler engagierter klingt.

    Aber Herreweghes Choräle sind ja meistens Musterbeispiele dafür, wie man es machen sollte - bloß nicht in die Falle der Überinterpretation einzelner Worte etc. gehen. Von daher: auch dieser Choral ist wieder einmal ganz vorzüglich gelungen.


    Harnoncourt:


    Hier singt der Tölzer Knabenchor.

    Im Laufe der Harnoncourt-Aufnahmen gibt es wesentlich unkantablere Choräle, d.h. es ist so schlecht nicht.

    Merkwürdig kann einem vorkommen, dass der letzte Ton von Phrasen irgendwie unnatürlich kurz daherkommt.

    Ebenso klingt für mein Dafürhalten die dynamische Gestaltung "2 und 2" ( to og to, wie es im Norwegischen heißt), also schwer-leicht, schwer-leicht immer noch zu gewollt, wenn auch nicht mehr so übertrieben wie bei vorhergehenden Aufnahmen.



    Fazit:


    Dem Musiker empfehle ich, alle drei Aufnahmen zu kennen und zu studieren. Dem "normalen" und "geneigten" Hörer hingegen empfehle ich, sich die Suzuki- und die Herreweghe-Aufnahmen zuzulegen.

    Zwar sehe ich in der Summe und nur hier sehr leichte Vorteile für Suzuki, aber die Herreweghe-CD stellt in ihrer Gesamtheit einen wirklichen Höhepunkt der Bach-Einspielungen Herreweghes dar, was vor allem an der Kantate "Christus der ist mein Leben" liegt, aber nicht nur.

    Auch aufnahmetechnisch sind die Einspielungen Suzukis und Herreweghes ganz hervorragend gelungen, ebenfalls von der Sängerbesetzung her.

    Zudem bin ich sehr froh, dass ich mich nicht zwischen diesen superben Aufnahmen entscheiden muss.


    Ich konnte aus Zeitgründen in dieser Form nicht alle Sätze der Kantate besprechen, aber denke, es wird wohl möglich sein, sich anhand meiner Beschreibungen ein Bild zu machen.

    Wer TIDAL, Spotify, Quobuz oder Apple-music hat, kann ja problemlos selbst hineinhören, wobei ich nur bei TIDAL sicher weiß, dass die Einspielungen auch vorhanden sind.


    LG:hello:

    Glockenton


    PS: mit "nervigem" Klangbild beim Schlusschoral unter Suzuki meinte ich nicht, dass der Klang auf die Nerven geht, sondern energetisch ist, also "Nerven hat" bzw. "feinnervig" ist.

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)