Blackadders Feuilleton

  • Bevor der "Galante Criminalist" (mit schönen Extras) weitergeführt wird, ein kleines Intermezzo. Da mich PNs überschwemmt haben (2) und die Frage aufgetaucht ist (1), was ich mit dem "Galanten Criminalisten" vorhabe, so kann ich zu der Geschichte selbst nichts sagen, da ich selbst erst weiß, was passiert, wenn ich es selbst gelesen habe, aber so viel möchte ich verraten, ich arbeite an einem Libretto und an der Computerspielausgabe. Dazu kommen Mauspads, Tassen und T-Shirts. Aber sobald es soweit ist, werde ich darüber informieren...


    Bevor nun also der vierte Teil erscheint, ein kleines, sensibles Geschichtchen zum Tränenverdrücken...


    Das Lächeln des Maestros


    Wenn Achilles Grobgeschwendner in der Mittagspause im Stadtpark sein Butterbrot isst, dann träumt er gerne. Für sechzig Minuten vergisst er seinen Beruf und stellt sich vor, er wäre der berühmteste Dirigent der Welt. Wenn er dann gedankenverloren die Krume vom Brot klaubt, weil seine Zähne nicht mehr so durch die harten Fasern wollen, dann sieht er Szenen voller Macht und Ruhm vor seinem geistigen Auge.


    Mit schlohweißem Haar residiert er dann auf vor seinem goldenen Pult und lenkt die Geschicke der musikalischen Welt. Und wenn er so mit seinem geistigen Auge in sein Gesicht blickt, in das Gesicht des Maestros, dann sieht er da Mut und Entschlossenheit. Aber auch eine Spur Zögern. Es ist das Zögern des Zweifelnden. Nicht des Prinzipiell-Zweifelnden, sondern des Hab-ich-alles-bedacht-Zweifelns. Nur für einen kurzen Augenblick. Aber es verleiht ihm die Glorie der nach außen strahlenden Verantwortlichkeit. Achilles fühlt dann, wie er für diesen Bruchteil der Sekunde seinen unbändigen Intellekt unter die Knute der musikalischen Entscheidung zwingt. Gleichsam schon als Entschuldigung, wenn seine Herrschaft nicht das Wohl aller Musiker, des Publikums, des Komponisten treffen sollte, sondern nur 99 Prozent. Sicher, Achilles weiß, er kann es nicht allen Recht machen, aber gerade dieser Schmerz um dieses Wissen, durchzieht seinen Blick in jeder Sekunde. Achilles Grobgeschwendner liebt diesen Blick. Er hat ihn schon oft geübt. Zuhause. Vor dem Spiegel. Stundenlang, bis er zufrieden war. Und er hat ihn auch schon angewendet. Nicht nur in seinen Dirigententräumen.


    Er weiß, es war der achtzehnte April 1991, als er ihn in tatsächlich ausprobierte. Mein Gott, was war er nervös. Es war ein Montag und er hatte das Wochenende vor dem Spiegel verbracht. Von Mozart bis Bruckner lief die Stereoanlange rauf und runter, während er seine Reflexe und das Mienenspiel kontrollierte, probierte, verwarf, waghalsige Experimente mit seinen Wangenknochen vollführte, bis er am Sonntagnachmittag glaubte, genau den Blick getroffen zu haben. Er variierte diesen Blick noch bis Sonntagabend, kehrte schließlich zum Ausgangsblick zurück und arbeitete noch an der passenden Frisur bis ein Uhr nachts. Vorsichtigerweise schlief er im Sitzen. Dann klingelte um neun der Wecker und Achilles wärmte sich anschließend noch eine Stunde vor dem Spiegel mit Mahler auf. Dabei benutzte er einen altmodischen Handspiegel um verschiedene Perspektiven unter Kontrolle zu haben. Ein Blick, der frontal wunderbar wirkte, konnte ja schließlich von rechts oben total deplatziert wirken.


    Er musste erst um elf im Büro sein, also würde er eine Tasse Kaffee trinken, nichts essen, um nicht durch Rühreiflecken am Kinn oder auf dem Hemd alles zunichte zu machen. Anschließend würde er den neuen Anzug tragen, den er in Mailand hatte schneidern lassen und für den er ein Vermögen ausgegeben hatte. Er passte wie angegossen. Als er aus der Haustür nach draußen trat, fühlte er sich, wie er glaubte, wie Bernstein, Furtwängler, Toscanini sich bei ihren Triumphen gefühlt haben mussten. Er hatte eine entscheidende Schlacht zu schlagen, ein Orchester zu beherrschen, ein Publikum zu ekstatischer Faszination veranlassen. Es wäre der erste Schritt vom Traum zur Wirklichkeit. Wenn dieser Schritt gelänge, dann hätte er seinen Traum geerdet, ja ihn gleichsam zur Realisation verdammt. Dann gäbe es kein Zurück mehr.


    Dreißig Meter vor seinem Ziel blieb er stehen. Er wollte alles in sich aufsaugen, eins werden mit der Umgebung. Er musste das Bild, das sich ihm bot, aufsaugen, die Luft schmecken und den Lärm der Straße als seine Ouvertüre identifizieren. Dann, als er sich soweit fühlte, schritt er langsam auf den Kiosk zu. Sein Koffer in der linken Hand schwang elegant in einem vorausberechnenden Winkel. Ein Winkel, der Achilles als Kosmopolit und High Potential ausweisen sollte. Also kein infantiles Schleudern oder verkrampftes Beamtenkoffertragen, sondern ein künstlerisches, nonchalantes Schwingen, das wie zufällig wirken musste.


    Dann stand er Auge in Auge mit Karlheinz, von dem er seit mehr als zwanzig Jahren die Bildzeitung kaufte. Und Karlheinz sah, dass an diesem Morgen etwas anders war. Zumindest glaubte Achilles, dass Karlheinz etwas sah. Achilles war ein Meister der fremden Selbsteinschätzung. Er war überzeugt, dass er die Anderen genau einschätzen konnte, wie sie ihn einschätzen würden. Natürlich wusste Achilles auch, dass die meisten das glaubten, alleine bei ihm war es wirklich eine Ausnahme, dachte er. So viel, wie er sich darüber Gedanken gemacht hatte; da blieb ja nichts anderes übrig, dass er durch seine Gedankenerfahrung diese Meisterschaft erlangen würde. Alleine dadurch schon, dass er jede Übertreibung vermied (Sonnenbrille, eine betont tiefe, männliche Stimme), sah er sich im Vorteil. Es kam ihm nur auf das allwissende, bestimmende Lächeln an.


    Das zögernde, sich für einen kurzen Moment entschuldigende, dann sich wieder auf das Ansinnen und die Ausführung besinnende Lächeln, als er die Zeitung verlangte, gelang ihm ausgezeichnet. Ganz so, wie er sich es erhofft hatte. Und weiterhin gehörte es zu seiner Meisterschaft, dass er sich durch diesen Triumph nicht aus dem Konzept bringen und sein Lächeln zu einem breiten Grinsen werden ließ. Im Gegenteil. Es gelang ihm, das Gefühl des Sieges mit einem schwachen Wissen um die Vergänglichkeit allen Daseins in das gehauchte „Danke“ mit einfließen zu lassen. Achilles spürte damals an diesem Tag im Jahr 1991: Es war nicht nur ein Sieg, es war ein einziger Triumph.


    Daran denkt Achilles in der Pause. Und daran, dass er den nächsten Schritt machen muss, wenn es noch etwas mit seiner Dirigentenlaufbahn werden will. Vielleicht würde er bald ein weiteres Merkmal finden, was er neben dem Lächeln anwenden konnte. Noten lernen vielleicht. Er hatte noch Zeit…

  • Sehr schön!! Grandioses Psychogramm. :jubel:

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • Die Frage, wie man Jugend verstärkt zu Klassischer Musik anregen kann, wurde und wird an vielen Stellen hier diskutiert. Hier ein konstruktiver Vorschlag, der sicher einige Zustimmung, aber auch Ablehnung erfahren dürfte:


  • :jubel: :jubel: :jubel: GE-NI-AL ! :jubel: :jubel: :jubel:


    Bravo! :D


    :hello:

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo Blackadder,


    da capo, da capo!!


    Fehlt nur noch die beliebte Rubrik des "Dr.Sommer"-Teams. Da wären dann wohl Leserbriefe unter der Überschrift: "Hilfe, jetzt will es mein Freund ´authentisch´machen! Kann ich davon schwanger werden?" oder "Ich komme nur bei alten Zeffirelli-Inszenierungen zum Höhepunkt. Bin ich deswegen pervers?" zu lesen...


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Auch meine unterthänigste Hochachtung vor Herrn Blackadder :jubel:


    In der Dr.-Sommer-Ecke wird dann u.a. auch gefragt, ob es normal sei, Karajan-Aufnahmen, HIP, Harnoncourt oder Netrebko zu hören :D:pfeif:


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Inspiriert wurde dieser Beitrag freundlicherweise von diesem Thread...


    Buxtehudes Tochter oder Des Herzens Erwachen


    „Und Du bist Dir sicher, dass man mich nicht einfach ignorieren wird?“ fragte Schieferdecker Mattheson, der seine Pfeife anzündete, während sie gemächlichen Schrittes am alten Friedhof entlang schritten. Die fahlen Kerzen auf den Gräbern verströmten ein giftiges Licht und die Schwaden des heranziehenden Nebels tauchten die Kruzifixe und die gewölbten Mauern der Mausoleen in ein deprimierendes Laken aus Melancholie und Bitternis. Schieferdecker zog den Mantel enger um seinen ausgemergelten Körper. Der genossene Wein und der Verzicht auf feste Nahrung hatten seinem Körper einen passionsgleichen Anstrich verliehen und die roten Ränder unter seinen Augen gruben sich immer tiefer Richtung Kinn.


    „Sie werden dir zu Füßen liegen“, sagte Mattheson, der mit stoischer Gelassenheit seine Uhr aus der Rocktasche zog und einen gelangweilten Blick auf die goldenen Zeiger der juwelenbesetzten Mechanik warf. „Allein, da gibt es eine Sache, bei der du auf der Hut sein musst.“


    „Es gibt einen Haken“, rief Schieferdecker voller Argwohn. „Ich wusste es. Ich werde erst gar nicht zu Buxtehude eingelassen werden, nicht wahr?“


    „Aber nein“, beschwichtigte Mattheson. „Du wirst natürlich eingelassen werden. Du wirst Buxtehude Aug’ in Aug’ gegenüberstehen, das verspreche ich dir, aber es gibt da eine Sache, vor der du dich hüten musst.“


    „Und welche Sache wäre das?“


    „Du kennst die Gerüchte um den Organistenjob?“ fragte Mattheson mit beiläufigem Tonfall. Dabei schaute er die Straße herauf und herunter, ob auch niemand lausche.


    „Du meinst die Tatsache, dass man Buxtehudes Tochter heiraten muss?“ fragte Schieferdecker zurück. Auch er blickte die Straße herauf und herunter. Aber niemand war zu sehen. Lediglich ein Käuzchen ließ seinen Ruf über den Friedhof erschallen.


    „Nein“, antwortete Mattheson. „Es gibt noch andere Gerüchte.“


    „Ach“, fiel Schieferdecker ein, „du meinst die Sache mit der nackten Frau in der Orgel, die…“


    „Nein, das auch nicht“, beendete seinerseits Mattheson abrupt die Äußerung seines Freundes.


    „Meinst du vielleicht die Geschichte mit dem Bischof und dem Anzeigenmädchen…“


    „Nein, auch nicht.“ Mattheson hielt inne. „Es geht um etwas sehr delikates“, flüsterte er.


    „Also wenn die Sache mit dem Bischof und dem Anzeigenmädchen nicht delikat war, dann weiß ich auch nicht. Ich meine, stell dir vor, sie hat ihm einen ganzen Kürbis…“


    „Schieferdecker, hör mir zu!“ Matthesons Miene verdüsterte sich für einen Moment. „Es ist mir ernst. Viele haben sich den Zugang zu diesem Job selbst wieder verbaut, weil sie diese Sache nicht ernst nahmen. Ich will nicht, dass es dir wie denen geht.“


    „Okay“, sagte Schieferdecker beschwichtigend. Ihn fröstelte. „Also, sag mir worum es geht? Und erspar mich nichts, Egal, ob es sich um Spionage oder Mord handelt. Ich kann es vertragen. Ich will nur diesen Job. Erst dann bin ich ein richtiger Musiker.“


    „Nun gut, also höre.“ Mattheson wandte sich wieder um und dann schritt er wieder langsam an der Friedhofsmauer entlang. „Du weißt was man sich von Anna Margareta so erzählt?“


    „Dass sie eine bemerkenswerte Frau ist?“


    „Das ist sie. Ohne Zweifel“, konstatierte Mattheson und nickte bedeutsam.


    „Dass sie eine sehr kluge Frau ist?“


    „O ja, auch das ist sie. Eine sehr, sehr kluge Frau“ antwortete Mattheson befriedigt.


    „Dass sie eine sehr attraktive Frau ist?“


    „Ja“, sagte Mattheson, „auch das erzählt man sich, das stimmt. Nur leider…“


    „Leider?“ Schieferdecker grub die Taschen fester in seine Rocktaschen. Mein Gott, war das lausig kalt.


    „Leider ist das nicht unbedingt wahr.“


    Schieferdecker war sich nicht sicher, ob er verstanden hatte, was sein Freund Mattheson da eben gesagt hatte.


    „Du meinst, sie ist nicht attraktiv?“ fragte er belustigt.


    „Nicht nur das“, seufzte Mattheson und klopfte seine Pfeife am Ende der Friedhofsmauer aus. Sie erreichten den Domplatz. Durch den Nebel konnten sie nun die erleuchteten Fenster erkennen, die ihnen die Ankunft in der Zivilisation andeuteten, nachdem die Stille und die Einsamkeit des Friedhofs sie frösteln ließen. Schieferdecker bemerkte einige Fußgänger und senkte seine Stimme.


    „Wie meinst du das? Ist sie etwa hässlich?“ Bei dieser Frage gluckste er vergnüglich.


    „Nicht unbedingt“, bemerkte Mattheson. „Denn selbst einer Hässlichkeit kann man noch gewisse Reize abgewinnen. Was Buxtehudes Tochter, Anna Margareta betrifft, da solltest du gewarnt sein.“


    Schieferdecker hielt an und legte Mattheson die Hand auf den Arm. „Du willst mich jetzt auf den Arm nehmen, oder? Jeder in Lübeck weiß, dass Buxtehudes Tochter eine wunderhübsche Frau ist. Alle sprechen davon. Und du behauptest, sie wäre hässlich?


    Mattheson holte tief Luft. „Ich weiß, dass die ganze Stadt glaubt, Anna Margareta sei eine äußerst hübsche Person. Schließlich haben wir an diesem Gerücht schwer gearbeitet…“


    „Ihr habt was?“ fragte Schieferdecker erstaunt. „Und wer ist wir?“


    „Nun ja, beinahe die ganze norddeutsche Orgelschule eben. Wir haben das Gerücht in die Welt gesetzt, Buxtheudes Tochter sei wunderhübsch. Sie war ganz gerührt davon, ehrlich gesagt, wir haben uns aber auch wirklich ins Zeug gelegt“, Mattheson lächelte versonnen. „Aber in Wirklichkeit sieht sie aus wie ein Monster.“ Sein Lächeln erstarb auf der Stelle.


    Schieferdeckers Miene spiegelte den Zwist zwischen Unglauben und Glauben wider. „Du nimmst mich auf den Arm?“ Er blickte fragend in die Augen seines Freundes. Aber er fand dort nicht die wärmende Bestätigung seiner Skepsis, sondern nur den kalten Ausdruck schmerzhafter Realität. „Wie… wie ein Monster?“


    Mattheson nickte.


    „O mein Gott.“


    Mattheson nickte erneut. „Es ist unter allen Umständen zu vermeiden, dass dir deine Gesichtszüge entgleiten, wenn du sie vor dein Angesicht bekommst. Darüber hinaus versichere ich dir, sie ist eine Seele von Mensch, ihre sanfte, klare Stimme spottet ihrer Beschreibung, allein sie trägt ihr Schicksal mit Fassung.“


    „Ich kann es einfach nicht glauben“, sagte Schieferdecker kopfschüttelnd. „Ich kann nicht glauben, dass sie so hässlich sein soll. Ich meine, trägt sie dann wenigstens einen Schleier oder so was? Tarnt sie ihr Aussehen?“


    Matthesons Blick traf Schieferdecker wie einen Pfeil. „Sie schlug uns das vor, was wir aber sofort ablehnten. Schieferdecker, ich bitte dich. Wir können doch damit umgehen. Wir sind doch keine oberflächlichen Menschen, oder?“


    „Natürlich nicht“, bemerkte Schieferdecker betroffen. „Wie dumm von mir. Ich bin nur so verwirrt. Darauf war ich nicht gefasst.“


    Mattheson legte seine Hand jovial auf die Schultern seines Freundes. "Deswegen warne ich dich ja vor.“ Dann blieb er vor einer Treppe stehen, die zu einer mahagonifarbenen Tür mit schwerem Türklopfer führte. „Wir sind da.“ Er ging die Treppe hinauf und das Donnern des Metallringes drang durch das ganze Haus. Schieferdecker schluckte.


    Ein Bediensteter öffnete ihnen und ließ sie in den Vorraum eintreten. Schieferdecker und Mattheson hörten die Klänge eines Cembalos, während sie ihre Mäntel ablegten. Der Diener verschwand, um sie anzumelden und ließ die Freunde für einen Moment allein.


    „Also“, sagte Mattheson beschwörend. „Denk dran. Du bist ein Musiker, kein oberflächlicher Mensch, verstanden?“


    „Natürlich habe ich verstanden“, gab Schieferdecker pikiert zurück. „Ich bin schließlich nicht auf den Kopf gefallen“


    Mit der letzten Silbe öffnete sich die Tür und eine Gestalt verdunkelte den Rahmen. Schieferdecker wagte nicht, direkt hinzuschauen. So blickte er erst auf den Boden, dann hob er langsam seine Augen und wurde des Saums eines weißen Chemisenkleids gewahr, dass sich recht unspektakulär nach oben fortsetzte. Kein Hauch einer Monstrosität war zu erkennen. Jedenfalls keine Missbildung der unteren Extremitäten, dachte er klopfenden Herzens.


    „Mein lieber Mattheson!“ drang eine wundervolle Stimme an sein Ohr. Die Stimme eines Engels, dachte Schieferdecker. Die Stimme von Anna Margareta Buxtehude. Sein Blick wanderte weiter und er sah die Rundungen wohlgeformter Brüste. Auch hier stellte er fest, dass sich kein Kabinett des Schreckens der Physiognomie der Gastgeberein bemächtigt hatte. Hatte Mattheson ihn doch auf den Arm genommen? Wahrscheinlich, dachte Schieferdecker und lachte innerlich. Das sah ihm ähnlich.


    „Und sie sind?“ fragte die Stimme ihn, während Schieferdecker sich einen Narren schalt und nun unvermittelt und in Erwartung eines Engelantlitzes die Augen in das Gesicht von Buxtehudes Tochter bohrte. Seine Kinnlade sackte im selben Moment nach unten und seine Bewegung hin auf die Gastgeberin erstarb sofort.


    „Ich… ich, ich bin kein oberflächlicher Mensch“ entfuhr es ihm mechanisch…



    Buxtehudes Tochter (Abb. ähnlich)

  • ...das wurde ja passender Weise lullistseits bereits im Vorfeld bebildert:



    Nun haben wir auch die passende Ggeschichte dazu!


    :jubel: :jubel: :jubel:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Der Ansturm asiatischer Virtuosen kommt nicht von ungefähr. Disziplin und Entschlossenheit kennzeichnen die Didaktik Chinas. Wenn es um Klassische Musik geht, versteht Peking keinen Spaß. Das erste Mal darf ein westliches Reporterteam einen Blick in die geheimnisumwitterte Klavierschule von Wang Chuh werfen.


    Der elfjährige Xiaon Li lächelt. Das hat er mit den zweiunddreißig anderen Schülern der chinesischen Klavierschule „Mao & Mozart“ gemeinsam. Auch wenn der Rohrstock des engagierten Pädagogen Wang Chuh, 77, gnadenlos auf seine Finger prasselt. Stolz hält uns Xiaon seine roten geschwollenen Finger hin und auf kantonesisch kommentiert er seine Präsentation. Er teilt uns mit, er habe mit diesen geschundenen Fingern einen wunderbaren Beweis für seine Selbstkritik. Er liebe seinen Lehrer über alles. Er hätte nach den zehn Schlägen noch Nachschlag verlangt, aber der milde Chuh sei zu barmherzig gewesen. Er, Xiaon, wird sich diese Lektion merken und in ein paar Tagen, wenn die Finger wieder auf Normalmaß geschrumpft sind und der Drittklässler nicht mehr mit einem Finger eine halbe Oktave niederdrückt, wird er Liszts Sonate doppelt so schnell spielen, mit halb so wenig Fehlern. Sein Lächeln wirkt entrückt, dann putzt er wieder den Fußboden auf den Chuh achtlos Erdnussschalen fallen lässt.


    Etwa fünfzig Kilometer von Peking entfernt hat Wang Chuh seine Eliteschule vor ungefähr vierzig Jahren gegründet. Und jedes Jahr erhalten zehn ausgewählte Vorschüler die Möglichkeit, in seiner Schule das Klavierspielen von der Pike an zu lernen. Etwas schüchtern fügt der große chinesische Mann des Klaviers hinzu, dass nur eine Handvoll die Anstrengungen des Lernens bis zum Ende durchhalten. Anfangs sei man seinen Methoden mit Argwohn gegenüber getreten, aber als er nachweisen konnte, dass seine Didaktik chinesischer Tradition folgt, wich die Skepsis der Begeisterung. „Eltern kommen aus Entfernungen von mehreren tausend Kilometer hierher“, sagt er stolz. „Mit dem Fahrrad!“. Er erinnere sich, wie Ende der sechziger Jahre, ein Ehepaar, das auf seine alten Tage Eltern einer Tochter wurde, zu ihm kam. Beinahe zweitausend Kilometer seien sie zu Fuß mit einem Bollerwagen hergekommen, um im Gespräch mit dem Meister festzustellen, dass ihre Tochter zwischenzeitlich aus dem Wagen gefallen war. Drei Monate später kamen sie wieder und hatten ihre Tochter gefunden, die zwischenzeitlich von Wölfen aufgezogen wurde und nur unter großen Verlusten aus den neuen familiären Banden gelöst werden konnte. Leider konnte Chuh nach einiger Zeit nachweisen, dass das Mädchen nicht die Tochter des Ehepaares sein konnte. Dennoch war das Kind sehr talentiert, aber auf politischen Druck und auf Druck anderer Eltern musste er das Mädchen aus seiner Schule entfernen. Er gab sie in Obhut eines französischen Diplomatenpaares aus Aix-en-Provence.
    Der Unterricht in Wang Chuhs Klavierschule ist für westliche Augen indes gewöhnungsbedürftig. Halten westliche Pädagogen einen individuellen Umgang für absolut unverzichtbar, so zeigt der Schulungsraum („der einzige, den wir haben“) Chuhs einen völlig anderen Ansatz. „Wir lieben die Gemeinschaft“, sagt Chuh beinahe zärtlich und seine Peitsche fährt plötzlich mit Vehemenz über die Finger eines sechsjährigen Mädchens. Man spürt, wie er selbst am meisten unter dem Fehler des soeben Gespielten leidet. Das Mädchen selbst lächelt ihren Lehrer an, mit Tränen in den Augen. Chuh selbst sagt nur ein Wort zu ihr, welches gleichermaßen Kritik als auch Programm ist: „Brillianz!“. Anschließend gibt er den Unterricht an seinen Vertreter Pyöng ab. Die dreiunddreißig Schüler an den dreiunddreißig Klavieren lächeln den Mann mit der dicken Hornbrille an. Chuh dirigiert uns an den Rand des Raumes, wo wir den Unterricht besser verfolgen können. Pyöng bellt plötzlich laut einen Befehl und alle Schüler nehmen ihre Ausgangsposition ein. Pyöng bellt erneut und wie von Geisterhand beginnen die Schüler Schuberts B-Dur-Sonate D 960. Drei Pädagogenkollegen durchschreiten derweilen die Reihen der Schüler, alle drei bewaffnet mit einer kleinen handlichen Peitsche, die man in China in jedem Laden für Erziehungsfragen erhalten kann, wie uns Chuh jovial mitteilt. Kichernd fügt er hinzu, während zwei Schüler eine deftige Kritik ihrer Spielweise einstecken müssen, dass erst das Vorzeigen der Peitschen skeptische Eltern von der Arbeitsweise Chuhs überzeugen konnten. Zum Abschied lacht er uns noch schelmisch hinterher. Er glaube sogar, dass viele Schüler absichtlich Fehler machen, um von seiner Kritik zu profitieren, sagt er. Bevor die Tür hinter uns schließt, hören wir die Peitschen seiner Kollegen mehrfach knallen. Die Schüler haben heute definitiv etwas gelernt…

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  • Das Leben und Werk berühmter Komponisten sind nicht nur Grundlagen für musikwissenschaftliche Analysen und Biografien, sie sind zuweilen auch Ausgangspunkt für belletristische Versuche zweifelhafter Natur. Um dem geneigten Leser Beispiele verachtungswürdiger Behandlungsweisen vorzuführen, mögen die folgenden Beispiele ausreichen.


    Karl-Heinz Birnbichler „Der Mozart-Code“, 1992, Selbstverlag


    Aus dem Kapitel „Der Wettstreit“, S. 123


    Mozart stand vor dem Pianoforte, unschlüssig, ob er anfangen sollte oder nicht. Kaiser Joseph nickte ihm auffordernd zu.
    „Eine Frage, Majestät“, sagte Wolfgang gedehnt. Der Kaiser schob sich nach vorne und hob den Kopf, bereit die Frage zu empfangen.
    „Warum ist Clementi nackt?“ fragte Mozart und deutete auf den unbekleideten Mann, der vor dem geöffneten Fenster seltsame Übungen durchführte.
    „Er bestand darauf“, sagte Joseph trocken. „Er könne sonst nicht frei aufspielen.“
    Mozart nickte wie jemand, der hörte, aber nicht verstand. Er begann zu spielen…



    Agnes von Rammelshausen-Breitbichler, „Mozart lebt!“, 1977, Edition Bibliotheca Diarrhöe


    Aus dem Kapitel „Der Tod“


    „Und du bist überzeugt, dass es klappt?“ Wolfgang stand am Fenster und jonglierte die Billardkugel in seiner Hand. Draussen fiel der Regen in feinen Fäden vom grauen Himmel.
    „Aber sicher. Und die Vorteile sind ja wohl eindeutig.“ Süßmayr lächelte.
    „Fassen wir noch mal zusammen“, sagte Mozart und rollte die Kugel geschickt über den Billardtisch. Die getroffene schwarze Acht stieß über vier Banden mit lauten Knall in die rechte Tasche. „Also, Ich inszeniere meinen Tod und bin anschließend alle meine Schulden los? Ist das nicht ein bisschen makaber?“
    „Makaber? Hallo?“ Süssmayer lachte spöttisch. „Sind wir hier in Wien oder nicht?“
    „Du hast recht. Aber die Sache behagt mir gar nicht.“ Mozart blickte hilfesuchend auf den Notar. „Herr Friesel, was sagen sie dazu?“
    „Es könnte klappen. Die Begräbnisverordnungen liegen dergestalt, dass ein Betrug durchaus chancenreich sein kann. Es gibt ein kleines Begräbnis in der Dunkelheit, niemand folgt dem Wagen. Ich würde es tun.“
    „Aber woran stürbe ich denn?“ fragte Mozart, der immer noch nicht restlos überzeugt schien.
    „Ich hab da eine Idee“, sagte Süßmayr und blickte gedankenverloren auf den Notar…



    Aus dem Kapitel „1829“


    Es klopfte an der Tür und der Komponist machte auf.
    „Signor Rossini?“
    „Ja?“
    „Ich würde mit ihnen gerne über Gott sprechen.“
    „Schön, aber ich nicht.“ Er schlug die Tür vor der Nase des Bittstellers zu.
    Aus der Küche drang eine Stimme. „Wer war das, Wolferl?“
    „Ach schon wieder ein Zeuge Jehovas“



    Roger Démaiziere, „Konversationshefte des Grauens“, 1988, Reglam


    Aus dem Kapitel „Der verrückte Rheinländer mit dem blonden Schuh“


    Karl trat neben seinen Onkel. Der hatte nämlich die Situation erkannt und sein Schienbein rechtzeitig nach hinten gezogen.
    „Nimm das!“ schrie er und seine Faust traf Karls Milz. Diese krümmte sich mit dem ganzen Körper schmerzhaft zusammen. Karl schnaufte, nahm anschließend die Feder und schrieb „Dann nimm das!“ in das Heft. Anschließend sauste seine geballte Hand in Richtung des sardonisch grinsenden Onkels. Aber Ludwig schien auch diese Attacke geahnt zu haben und während Karls Faust ins Leere stieß, trat er seinem Neffen in den Allerwertesten, und zwar so kräftig, dass Karl über den Schreibtisch in die Ecke des Zimmers flog und dabei eine Violine zertrümmerte. Karl raffte sich auf, taumelte zum Konversationsheft und schrieb „ächz“ hinein. Kaum hatte er das „z“ vollendet, traf ihn der Korpus einer noch unversehrten Violine am Hinterkopf. Bevor Karl sternesehend das Bewusstsein verlor, malten seine Finger, die weiterhin die Feder umschlossen, ein „stöhn“ in das Heft. Dann fiel er nach hinten um.
    Ludwig sank ermattet in seinen Stuhl. „Das wird dich lehren, das Restgeld für die Milch auszuhändigen“, sagte er zufrieden. Dann widmete er sich wieder der Missa Solemnis.

  • Blackadders Rätselkrimi - Sherlock Holmes und der russische Geiger


    Nachdem Holmes den Postraub aufgeklärt hatte, kehrte allgemeine Heiterkeit ein. Ich konnte in meiner Eigenschaft als vertrauenswürdiger Freund Holmes davon abhalten, sich zu entkleiden, wie es sonst seine Gewohnheit war, wenn er einen Fall erfolgreich abgeschlossen hatte. Zudem ja auch die Königin höchstpersönlich anwesend war und mit ihr der halbe Hofstaat. Als der Abend voranschritt und es Zeit war, wieder in die Baker Street zurückzukehren, gelang es mir nur mit Mühe meinen Freund von der Bowle wegzulotsen. Unerwarteterweise bekam ich die Unterstützung eines jungen Mannes, der mir aufgrund seiner vollendeten Manieren und seiner geschmackvollen Garderobe schon einige Zeit vorher aufgefallen war. Er stellte sich als Humphrey Stroganoff vor, Austauschstudent aus Moskau, der für einige Zeit in London seine Studien betrieb. Er half mir Holmes in die Kutsche zu bugsieren, wo mein Freund, das Gesicht gegen das Fenster gelehnt, auch gleich geräuschvoll einschlief.
    „Dr. Watson“, sagte Stroganoff als sich die Kutsche in Bewegung setzte, „ich bin sehr erfreut, sie heute abend anzutreffen, auch wenn die Umstände“, und dabei deutete er diskret auf Holmes, „etwas delikat anmuten.“


    „Ich bin ihnen sehr zu Dank verpflichtet“, entgegnete ich aufrichtig. „In letzter Zeit macht mir Holmes etwas zu schaffen, was man aber angesichts seines Alters etwas verschmerzen kann. Er ist keine vierzig mehr“, seufzte ich. „Aber was sind nun ihre Angelegenheiten, die sie selbst diese Peinlichkeit übersehen lassen“, fragte ich aufmunternd.


    Stroganoff, dessen dunkle Augen und die hohen Wangenknochen deutlich seine slawische Herkunft verrieten, blickte gedankenverloren nach draußen in den Londoner Nebel.


    „Ich mache mir Gedanken um meinen Professor“, sagte er schwer. „Professor Halifax vom hiesigen Konservatorium.“


    „Sie sind Musiker?“ fragte ich. Der Name des Professors war mir geläufig. Holmes erwähnte ihn des Öfteren abschätzig, wenn er auf seiner Geige übte. Aber auch wenn Holmes Meinung über das Können des Professors eher geringschätzend ausfiel, so genoss Halifax eine Reputation, die der Holmes’ in keiner Weise nachstand.


    „Ich bin Student der Violine“, sagte Stroganoff. „Und der Triangel“, beeilte er sich hinzuzufügen.


    „Und welche Gedanken machen sie sich um ihren werten Professor?“


    „Sehen sie, Dr. Watson, ich komme aus einem fremden Land. Und in fremden Ländern herrschen fremde Sitten und Gebräuche. Manchmal sind es Temperamentsunterschiede, manchmal andere Moralvorstellungen. Sie müssen mir zugute halten, werter Herr Doktor, dass ich, seit ich in England bin, zuweilen oft in Fettnäpfchen getreten bin, aber keineswegs aus Lust an der Grenzverletzung. Bei uns in Russland ist einiges anders. Zuweilen viel anders.“ Mit dem letzten Satz schenkte er mir ein herzliches, öffnendes Lächeln. Ich dachte an meine Dienstzeit in Afghanistan zurück, wo ich als Militärarzt sehr oft in Fettnäpfchen getreten bin. Ich erinnerte mich gut an die Affäre mit der Braut des Imam. Ich entkam nur um Haaresbreite einer Steinigung und musste meine Bartwichse unverrichteter Dinge zurücklassen.
    „Wie dem auch sei“, riss mich der Geiger aus meinen Erinnerungen zurück. „Professor Halifax macht einen zerstreuten Eindruck auf mich. Aber nicht nur, dass er den Eindruck macht, er sei nicht ganz bei der Sache, ich habe die Befürchtung, er hat gar keine Ahnung von Musik.“


    Ich musste tief durchatmen. Das waren schwere Anschuldigungen, und im ersten Moment konnte ich der Äußerung keinerlei Glauben schenken. Im Gegenteil, ich zweifelte an den Angaben des russischen Studenten, und auch, wenn mich Stroganoff weiterhin mit entwaffnender Offenheit anlächelte, war ich etwas verärgert.


    „Das sind aber schwere Anschuldigungen, die sie da hegen, junger Mann“, sagte ich ernsthaft.


    „Ich bin mir völlig im Klaren über diese Impertinenz, verehrter Dr. Watson. Aber ich versichere ihnen, ich sage sie nicht einfach so dahin.“


    „Können sie mir denn ein Beispiel ihrer Anschuldigungen geben?“ fragte ich, während die Kutsche über den Trafalgar Square raste.


    „Selbstverständlich. Ich beginne mit einem einfachen. Gleich in der ersten Stunde, als ich ihm vorspielen sollte, zeigte ich ihm die Noten, die ich zu gebrauchen beabsichtigte. Er nahm sie nur widerwillig in die Hand. Er sah kurz drauf und murmelte lediglich ein ‚ah, ja’. Aber er hielt sie verkehrt herum. Ich dachte an ein praktisches Beispiel aus dem Kabinett englischer Spleenigkeit und dachte mir nichts weiter. ‚Von wem ist das?’ fragte er mich und ich sagte ‚Paganini’, woraufhin er antwortete, der Name sage ihm gar nichts, ob ich denn nichts Anspruchsvolles spielen könne, etwas von diesem Österreicher, wie hieß der denn noch gleich, Brahms, Johann Sebastian Brahms.“


    In diesem Moment erwachte Holmes, blickte kurz auf, bemerkte den Sabber, der aus seinem Mundwinkel lief, betrachtete ihn kurz, indem er seinen Finger hineintunkte, murmelte „interessant, sehr interessant“ und nickte sofort wieder ein.


    „Johann Sebastian Mozart?“ fragte ich erschrocken, nachdem die gleichmäßigen Atemzüge Holmes’ die Atmosphäre wieder beruhigten.


    „Es kommt noch schlimmer“, sagte Stroganoff und blickte aus dem Fenster. „Aber ich setze den Bericht lieber erst bei ihnen zuhause fort, wir sind bald da.“


    Ich blickte ebenfalls aus dem Fenster und stellte erstaunt fest, dass Stroganoff mit den Örtlichkeiten sehr vertraut war.


    Als wir uns endlich an den Kamin setzten, hatte ich zuvor mit Hilfe Stroganoffs und Mrs. Hudsons Holmes in sein Bett verfrachtet. Es war ein schwieriges Unterfangen, denn Holmes weigerte sich, sein Nachtlager aufzusuchen. Mit den derbsten Flüchen traktierte er unsere Wirtin und mich, als wir versuchten, seine Schuhe auszuziehen. Und immer wieder verlangte er nach einem Rasiermesser und nach Soho gebracht zu werden, die Nacht sei noch jung, er wolle mal die Sau fliegen lassen und was noch alles an Gottlosigkeiten dem Munde des Meisterdetektiven entfleuchte.
    Solchermaßen ermattet nahmen Stroganoff und ich Platz am knisternden Feuer und genehmigten uns einen Tee.


    „Fahren sie fort, M. Stroganoff“, sagte ich und hielt meine Füße dem wärmenden Feuer entgegen.


    „Wie gesagt, es war die allererste Stunde. Ich hielt es für eine Demonstration englischen Witzes, dass er nach einem Stück von Johann Sebastian Mozart verlangte. Ich lächelte also bereitwillig und machte mich mit Eifer an das Stück von Paganini. Aber kaum hatte ich die ersten Takte vollendet, riss mir eine Saite. Sie können sich meinen Schreck vorstellen. Selten zuvor war mir das passiert, niemals bei einem solch wichtigen Anlass. Aber Professor Halifax schien es nichts auszumachen, er deutete auf einen gefüllten Musikschrank, in dem die herrlichsten Instrumente lagerten und erlaubte mir ein neues Dings zu holen.“


    „Dings?“


    „Das waren seine Worte.“


    „Erstaunlich, in der Tat.“


    „Nun hatte ich schnell ein ansprechendes Instrument gefunden, allein es fehlte ein entsprechender Bogen. Meinen eigenen wollte ich nicht dazu nutzen, er hätte das bessere Instrument sicher ruiniert. Ich fragte ihn also, wo ich gütigerweise einen Bogen finden würde, woraufhin Professor Halifax mir erklärte, ich solle gefälligst spielen und nicht Schießsport betreiben. Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er keinesfalls scherzte. Ich nahm also doch meinen Bogen und spielte das Stück zu Ende. Mehr schlecht als recht. Ich hatte am Ende jede Hoffnung verloren, einen Studienplatz bei diesem berühmten Manne zu erlangen. Halifax jedoch stand auf, schüttelte mir die Hand und sagte, er freue sich, mich am Mittwoch in seiner Vorlesung zu sehen.“


    „Nun“, sagte ich beschwichtigend, „vielleicht war es seine Art, neue Studenten zu verunsichern, sie durch diese Einlagen zu besonderen Leistungen heraus zu fordern. Ein bisschen Stress erzeugen und sehen, wer die Nerven verliert?“


    Stroganoff nickte. „Genau diese Gedanken hegte ich auch. Bis zu jenem Mittwochmorgen im November.“


    „Ihre erste Vorlesung?“


    „Genau. Ich kam in den Saal, außer mir waren nur drei weitere Studenten anwesend, was aber ich nicht weiter auffällig war, denn Halifax’ Unterricht war und ist sehr exklusiv. Es ging um Musiktheorie. Ich erwartete eine Auseinandersetzung mit den harmonischen, rhythmischen und melodischen Gesetzen, aber was musste ich zu meinem Entsetzen feststellen?“ Stroganoff schaute mich mit großen Augen an, als ob ich darinnen die Antwort finden würde. Ich schaute ihn auffordern an. „Was stellten sie fest?“ fragte ich.


    „Er zeigte uns eine Reihe Musikinstrumente und sagte, es seien Musikinstrumente.“


    „Bitte?“


    „Ja, das dachte ich auch. Bitte? Er zeigte uns eine Bratsche und stellte sie uns als ‚großes Dings’ vor. Dann nahm er ein Cello, sagte das sei ein etwas ‚größeres Dings’, und diese ‚Dinge’ würden wir in jedem Orchester finden. Man könne herrlich Musik darauf machen. Wir sollten mit Seele spielen. Das ganze technische Zeug würde uns nicht sehr weit bringen. Dann machte er Atemübungen.“


    „Nun, mit Seele spielen ist ja sicherlich nicht ganz verkehrt“, wandte ich ein und nippte von meinem Darjeeling. Ich hörte Holmes „Soho“ rufen, anschließend verfiel er wieder in ein lautes Schnarchen.


    „Das ist gar nicht verkehrt“, sagte Stroganoff, „aber damit war die erste Vorlesungsstunde beendet, ohne dass ich irgendetwas entscheidendes gelernt hätte.“


    „Man fängt eben nicht gleich mit dem Schwierigsten an“, gab ich zurück.


    „Das dachte ich auch, aber es wurde nicht besser. Beim zweiten Mal, mahnte er uns, mit Herz zu spielen. Er malte etliche Notenlinien an die Tafel, sagte, da würde man Noten notieren, aber das würden wir eh schon können. Dann bat ihn ein Student um Hilfe, zeigte ihm eine Selbstkomposition. Es war ein einfaches Klavierstück. Halifax hielt es wieder verkehrt herum, sagte da sei wohl etwas viel Fliegenschiss drauf gekommen und meinte damit die Viertelpausen. Mit diesen Worten steckte er es meinem Kommilitonen in die Rocktasche. Anschließend machten wir Atemübungen. Beim dritten Male dachte ich mir eine List aus. Ich sagte, ich hätte Schwierigkeiten mit dem 30. Violinkonzert von Mozart, da es ja in W-Dur gespielt werden müsse. Halifax’ lapidare Antwort war, ich müsse eben mit Herz und Seele spielen und ich solle die Atemübungen nicht vergessen.“


    Ich war sprachlos. Zwar war ich kein Musikexperte, aber ich musste zugeben, dass mir Stroganoffs Äußerungen zu denken gaben. Halifax’ Verhalten war sicherlich nicht die eines gewissenhaften Fachmannes und Experten. Jetzt sah ich auch Holmes’ Geringschätzung in einem ganz anderen Licht. Ich versprach meinem russischen Gast unsere Mithilfe und verabschiedete ihn, nicht ohne ihn zum Frühstück einzuladen. Da sei auch Holmes dabei und könne sich ein Bild von diesem ungeheuerlichen Vorgang machen.


    Am nächsten Morgen hatte Holmes seine Pfeife zu Ende geraucht und trank seine achte Tasse Tee, als ich etwas schlaftrunken und nur mit einem Morgenmantel bekleidet in der Times blätterte.


    „Mein lieber Watson, sie sehen mitgenommen aus“, sagte mein Freund etwas spöttisch. „Sie müssen öfter etwas trinken.“


    Ich rang mir ein müdes Lächeln ab, faltete die Zeitung zusammen und berichtete meinem Freund von dem nächtlichen Besuch Stroganoffs.


    „Hah“, entfuhr es Holmes, als ich geendet hatte. „Sollte sich meine Arbeit gelohnt haben?“


    „Ich verstehe nicht ganz“, antwortete ich müde.


    „Sie werden, Watson, sie werden. Nun öffnen sie unserem Gast, ich muss kurz etwas erledigen.“ Daraufhin entschwand er in seinem Schlafzimmer und lies mich mit dem Rätsel zurück, wie er es schaffte, die Ankunft Stroganoffs vorauszusagen, denn kaum hatte Holmes die Tür seines Zimmers geschlossen, klopfte es an der Haustür.


    Ich ließ Stroganoff herein, bat ihm Tee und Toast an und teilte ihm mit, dass Holmes Bescheid wisse und er gleich zu uns stoßen würde.
    Keine fünf Minuten später erschien Holmes mit einer Mappe unter dem Arm. Er begrüßte Stroganoff, setzte sich zu uns, räumte das Geschirr weg und öffnete die Mappe vor unseren Augen. Holmes überflog handschriftliche Notizen, Organigramme von Wagners Ring, wie ich erkennen konnte, sowie einige Fotos. Eines davon nahm er heraus.


    „Professor Halifax“, sagte er mehr zu sich selbst und betrachtete das Foto. „Der unmusikalischste Mensch, der jemals auf Erden gewandelt ist. Der Tod der britischen Musik. M. Stroganoff, wie würden sie Professor Halifax’ Ruf beschreiben?“


    „Nun, er ist außergewöhnlich, würde ich sagen.“


    „In der Tat, das ist er. Aus welchen Gründen auch immer. Wo hat Halifax studiert?“


    „Bei Nadia Boulanger“, sagte Stroganoff. „Eigentlich unfassbar, wenn ich das sagen darf. Glauben sie, dass hat er nur erfunden?“


    Ich erschrak. Hatte Professor Halifax seinen Lebenslauf gefälscht um einen Posten zu erhalten, den er nicht im Traum ausfüllen konnte?


    „Oh, nein“, sagte Holmes lächelnd. „Er hat in der ‚Boulangerie’ studiert. Das ist unzweifelhaft. Aber es war nicht Nadja Boulanger, bei der er studiert hat, es war“, er legte das Foto auf den Tisch, „’Nadjas Boulangerie’.“



    Stroganoff sprang auf. Ich tat es ihm beinahe gleich, wenn ich nicht bedacht hätte, dass der Gürtel meines Morgenmantels nur locker eingeschlagen war.


    „Das ist unfassbar“, sagte Stroganoff. „Dann waren meine Befürchtungen also richtig?“


    „Mehr als das“, sagte Holmes. „Professor Halifax ist nicht nur kein musikalischer Mensch, er ist auch ein deutscher Spion. Genau wie sie, M. Stroganoff.“


    Bei diesen Worten sprang ich auf. Mein Morgenmantel teilte sich, aber es war mir egal. Ich schaute voller Entsetzen auf den jungen Mann, der mir so vertrauensvoll und aufrichtig erschien. „Aber Holmes, woher wissen sie…?“ stammelte ich aufgeregt. Auch Stroganoffs Gesichtsausdruck verriet Überraschung. Aus dem Umstand, dass er nicht protestierte, schloss ich, dass Holmes’ Verdächtigung ins Schwarze getroffen hatte.


    Woher wusste Holmes, dass Halifax und Stroganoff deutsche Spione waren? Wie konnte Halifax einen Professorenrang einnehmen, ohne von Musik eine Ahnung zu haben? Ich erwarte ihre Lösungen

  • Aha, Sherlock Holmes war Jack the Ripper und Prof.Halifax ist Peter Hübner.......
    Stroganoff ist Deutscher, weil er es nicht verstand, mit Herz und Seele zu spielen.


    Irgendwie so ?
    :O
    Michael

  • Hallo


    Ich habe noch keine Antworten auf die Fragen. Aber ein Russe, der Humphrey mit Vornamen heißen soll? Und zu Lebzeiten von Sherlock Holmes kann kein Musik-Professor bei Nadia Boulanger studiert haben. Sie begann erst nach 1918 zu unterrichten, damit müsste die obige Geschichte Jahrzehnte später spielen, was mit den "Lebensdaten" von Sherlock Holmes nicht vereinbar ist....


    Außerdem gibt es kein Triangel-Studium, das gehört zum Schlagwerker.


    Der gute Stroganoff hat aber auch nur beschränkte Kenntnisse. Warum sollte ein Bogen eine wertvolle Violine ruinieren? Bögen unterscheiden sich im Holz, bespannt sind sie aber doch wohl alle mit Pferdehaar?! Seine Kenntnisse von Komponisten sind offenbar auch endenwollend....


    Wie schafft man es eigentlich, "zuweilen oft" in ein Fettnäpfchen zu treten? Irgendwie strapaziert dies mein Vorstellungsvermögen... ;)


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Michael Schlechtriem
    Aha, Sherlock Holmes war Jack the Ripper und Prof.Halifax ist Peter Hübner.......
    Stroganoff ist Deutscher, weil er es nicht verstand, mit Herz und Seele zu spielen.


    Irgendwie so ?Aha, Sherlock Holmes war Jack the Ripper und Prof.Halifax ist Peter Hübner...


    Nicht schlecht, Schlechtriem, aber keine Lösung :D


    Zitat

    Original von Theophilus
    Ich habe noch keine Antworten auf die Fragen. Aber ein Russe, der Humphrey mit Vornamen heißen soll? Und zu Lebzeiten von Sherlock Holmes kann kein Musik-Professor bei Nadia Boulanger studiert haben. Sie begann erst nach 1918 zu unterrichten, damit müsste die obige Geschichte Jahrzehnte später spielen, was mit den "Lebensdaten" von Sherlock Holmes nicht vereinbar ist....


    Wenn man alles Unmögliche ausklammert, bleibt am Ende nur die Wahrheit übrig. Und jetzt mal ein bißchen Fantasie, mein Gottesfreund :D


    Zitat

    Wie schafft man es eigentlich, "zuweilen oft" in ein Fettnäpfchen zu treten?


    Wenn es dick kommt, kommts ganz dick... und jetzt mäkel nicht an einem unlektoriertem Stück Schund herum :baeh01:

  • Salut,


    hilft uns das bei der Lösung evtl. weiter:


    Zitat


    [...] ob ich denn nichts Anspruchsvolles spielen könne, etwas von diesem Österreicher, wie hieß der denn noch gleich, Brahms, Johann Sebastian Brahms.“



    Zitat

    „Johann Sebastian Mozart?“ fragte ich erschrocken, nachdem die gleichmäßigen Atemzüge Holmes’ die Atmosphäre wieder beruhigten.



    Zitat

    „Wie gesagt, es war die allererste Stunde. Ich hielt es für eine Demonstration englischen Witzes, dass er nach einem Stück von Johann Sebastian Mozart verlangte. [...]"


    Hat er ja nicht, oder?


    ?(

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Blackadder


    [ Und nun wird es Zeit für Johann Sebastian… und da kommt er auch schon. Es ertönt Toccata d-moll BWV 565. Vielleicht sehr klischeehaft diese Musikauswahl, aber mit dreitausend ehrfürchtig staunenden Boxfans im Rücken geht die Rechnung auf.


    Köstlich, wirklich köstlich, Mr. Blackadder. Nur eine Frage: Müßte der Schiri Bach nicht ermahnen oder gar disqualifizieren wegen Verwendung fremden geistigen Eigentums? AFAIK ist doch BWV 565 gar nicht mal von Bach...... :rolleyes:


    :hello:
    Wulf

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  • Man könnte nun ja mutmaßen, dass Halifax' Unwissen deshalb nicht aufgefallen sei, weil sämtliche wenigen Studenten, die bei ihm studieren "durften", Spione waren (die vielleicht alle nicht viel von Musik verstanden), und die Meetings in Wirklichkeit dem Austausch von Informationen durch Atemübungen oder so ähnlich dienten. :D Allerdings verstehe ich dann nicht, wieso Stroganoff Halifax auffliegen lässt.


    Und irgendwie muss wohl Holmes auch noch seine Finger mit im Spiel gehabt haben ("Sollte sich meine Arbeit gelohnt haben?"). Vielleicht hat er jenen Studenten, der das Klavierstück vorzeigte, eingeschleust, um Informationen über Halifax zu erhalten.


  • Druckfehler, die Setzer dieses Forums verwechseln zuweilen oft etwas :wacky:



    Zitat

    Original von Wulf
    Köstlich, wirklich köstlich, Mr. Blackadder. Nur eine Frage: Müßte der Schiri Bach nicht ermahnen oder gar disqualifizieren wegen Verwendung fremden geistigen Eigentums? AFAIK ist doch BWV 565 gar nicht mal von Bach......


    :boese2: :boese2: :boese2:



    Zitat

    Original von Philhellene
    Man könnte nun ja mutmaßen, dass Halifax' Unwissen deshalb nicht aufgefallen sei, weil sämtliche wenigen Studenten, die bei ihm studieren "durften", Spione waren (die vielleicht alle nicht viel von Musik verstanden), und die Meetings in Wirklichkeit dem Austausch von Informationen durch Atemübungen oder so ähnlich dienten. großes Grinsen Allerdings verstehe ich dann nicht, wieso Stroganoff Halifax auffliegen lässt.


    Ah, fast :D Aber nur fast...

  • Zitat

    Original von Blackadder



    :boese2: :boese2: :boese2:


    Jaja, das muß schon mal gesagt werden. Aber Bach ist ja eh zu Boden gegangen, insofern wollen wir mal ein Auge zudrücken :beatnik:

  • Tamino-Sammelbild 2 (bitte Geduld beim Laden)



    Ausschneiden und ab damit ins Tamino-Sammelalbum. Erhältlich ab Oktober 2014...

  • Ich habe schon zur Schere gegriffen, aber das Glas von dem Bildschirm lässt sich nicht so gut schneiden. Mit dem Einkleben klappt's dann wahrscheinlich auch nicht so gut... Trotzdem herzlichen Dank und bleib kreativ! :)

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • Zitat

    Original von Draugur
    Ich habe schon zur Schere gegriffen, ...


    Es sind Knibbelbildchen... 8)

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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