Bevor der "Galante Criminalist" (mit schönen Extras) weitergeführt wird, ein kleines Intermezzo. Da mich PNs überschwemmt haben (2) und die Frage aufgetaucht ist (1), was ich mit dem "Galanten Criminalisten" vorhabe, so kann ich zu der Geschichte selbst nichts sagen, da ich selbst erst weiß, was passiert, wenn ich es selbst gelesen habe, aber so viel möchte ich verraten, ich arbeite an einem Libretto und an der Computerspielausgabe. Dazu kommen Mauspads, Tassen und T-Shirts. Aber sobald es soweit ist, werde ich darüber informieren...
Bevor nun also der vierte Teil erscheint, ein kleines, sensibles Geschichtchen zum Tränenverdrücken...
Das Lächeln des Maestros
Wenn Achilles Grobgeschwendner in der Mittagspause im Stadtpark sein Butterbrot isst, dann träumt er gerne. Für sechzig Minuten vergisst er seinen Beruf und stellt sich vor, er wäre der berühmteste Dirigent der Welt. Wenn er dann gedankenverloren die Krume vom Brot klaubt, weil seine Zähne nicht mehr so durch die harten Fasern wollen, dann sieht er Szenen voller Macht und Ruhm vor seinem geistigen Auge.
Mit schlohweißem Haar residiert er dann auf vor seinem goldenen Pult und lenkt die Geschicke der musikalischen Welt. Und wenn er so mit seinem geistigen Auge in sein Gesicht blickt, in das Gesicht des Maestros, dann sieht er da Mut und Entschlossenheit. Aber auch eine Spur Zögern. Es ist das Zögern des Zweifelnden. Nicht des Prinzipiell-Zweifelnden, sondern des Hab-ich-alles-bedacht-Zweifelns. Nur für einen kurzen Augenblick. Aber es verleiht ihm die Glorie der nach außen strahlenden Verantwortlichkeit. Achilles fühlt dann, wie er für diesen Bruchteil der Sekunde seinen unbändigen Intellekt unter die Knute der musikalischen Entscheidung zwingt. Gleichsam schon als Entschuldigung, wenn seine Herrschaft nicht das Wohl aller Musiker, des Publikums, des Komponisten treffen sollte, sondern nur 99 Prozent. Sicher, Achilles weiß, er kann es nicht allen Recht machen, aber gerade dieser Schmerz um dieses Wissen, durchzieht seinen Blick in jeder Sekunde. Achilles Grobgeschwendner liebt diesen Blick. Er hat ihn schon oft geübt. Zuhause. Vor dem Spiegel. Stundenlang, bis er zufrieden war. Und er hat ihn auch schon angewendet. Nicht nur in seinen Dirigententräumen.
Er weiß, es war der achtzehnte April 1991, als er ihn in tatsächlich ausprobierte. Mein Gott, was war er nervös. Es war ein Montag und er hatte das Wochenende vor dem Spiegel verbracht. Von Mozart bis Bruckner lief die Stereoanlange rauf und runter, während er seine Reflexe und das Mienenspiel kontrollierte, probierte, verwarf, waghalsige Experimente mit seinen Wangenknochen vollführte, bis er am Sonntagnachmittag glaubte, genau den Blick getroffen zu haben. Er variierte diesen Blick noch bis Sonntagabend, kehrte schließlich zum Ausgangsblick zurück und arbeitete noch an der passenden Frisur bis ein Uhr nachts. Vorsichtigerweise schlief er im Sitzen. Dann klingelte um neun der Wecker und Achilles wärmte sich anschließend noch eine Stunde vor dem Spiegel mit Mahler auf. Dabei benutzte er einen altmodischen Handspiegel um verschiedene Perspektiven unter Kontrolle zu haben. Ein Blick, der frontal wunderbar wirkte, konnte ja schließlich von rechts oben total deplatziert wirken.
Er musste erst um elf im Büro sein, also würde er eine Tasse Kaffee trinken, nichts essen, um nicht durch Rühreiflecken am Kinn oder auf dem Hemd alles zunichte zu machen. Anschließend würde er den neuen Anzug tragen, den er in Mailand hatte schneidern lassen und für den er ein Vermögen ausgegeben hatte. Er passte wie angegossen. Als er aus der Haustür nach draußen trat, fühlte er sich, wie er glaubte, wie Bernstein, Furtwängler, Toscanini sich bei ihren Triumphen gefühlt haben mussten. Er hatte eine entscheidende Schlacht zu schlagen, ein Orchester zu beherrschen, ein Publikum zu ekstatischer Faszination veranlassen. Es wäre der erste Schritt vom Traum zur Wirklichkeit. Wenn dieser Schritt gelänge, dann hätte er seinen Traum geerdet, ja ihn gleichsam zur Realisation verdammt. Dann gäbe es kein Zurück mehr.
Dreißig Meter vor seinem Ziel blieb er stehen. Er wollte alles in sich aufsaugen, eins werden mit der Umgebung. Er musste das Bild, das sich ihm bot, aufsaugen, die Luft schmecken und den Lärm der Straße als seine Ouvertüre identifizieren. Dann, als er sich soweit fühlte, schritt er langsam auf den Kiosk zu. Sein Koffer in der linken Hand schwang elegant in einem vorausberechnenden Winkel. Ein Winkel, der Achilles als Kosmopolit und High Potential ausweisen sollte. Also kein infantiles Schleudern oder verkrampftes Beamtenkoffertragen, sondern ein künstlerisches, nonchalantes Schwingen, das wie zufällig wirken musste.
Dann stand er Auge in Auge mit Karlheinz, von dem er seit mehr als zwanzig Jahren die Bildzeitung kaufte. Und Karlheinz sah, dass an diesem Morgen etwas anders war. Zumindest glaubte Achilles, dass Karlheinz etwas sah. Achilles war ein Meister der fremden Selbsteinschätzung. Er war überzeugt, dass er die Anderen genau einschätzen konnte, wie sie ihn einschätzen würden. Natürlich wusste Achilles auch, dass die meisten das glaubten, alleine bei ihm war es wirklich eine Ausnahme, dachte er. So viel, wie er sich darüber Gedanken gemacht hatte; da blieb ja nichts anderes übrig, dass er durch seine Gedankenerfahrung diese Meisterschaft erlangen würde. Alleine dadurch schon, dass er jede Übertreibung vermied (Sonnenbrille, eine betont tiefe, männliche Stimme), sah er sich im Vorteil. Es kam ihm nur auf das allwissende, bestimmende Lächeln an.
Das zögernde, sich für einen kurzen Moment entschuldigende, dann sich wieder auf das Ansinnen und die Ausführung besinnende Lächeln, als er die Zeitung verlangte, gelang ihm ausgezeichnet. Ganz so, wie er sich es erhofft hatte. Und weiterhin gehörte es zu seiner Meisterschaft, dass er sich durch diesen Triumph nicht aus dem Konzept bringen und sein Lächeln zu einem breiten Grinsen werden ließ. Im Gegenteil. Es gelang ihm, das Gefühl des Sieges mit einem schwachen Wissen um die Vergänglichkeit allen Daseins in das gehauchte „Danke“ mit einfließen zu lassen. Achilles spürte damals an diesem Tag im Jahr 1991: Es war nicht nur ein Sieg, es war ein einziger Triumph.
Daran denkt Achilles in der Pause. Und daran, dass er den nächsten Schritt machen muss, wenn es noch etwas mit seiner Dirigentenlaufbahn werden will. Vielleicht würde er bald ein weiteres Merkmal finden, was er neben dem Lächeln anwenden konnte. Noten lernen vielleicht. Er hatte noch Zeit…