Germont père - Zwiespältiger Charakter oder unglaubwürdige Bühnenfigur ?

  • Liebe Severina,


    die Frage ist: muss man ihn wirklich so verstehen?


    Hier ist was er sagt:


    "GERMONT
    È grave il sacrifizio,
    Ma pur tranquilla udite
    Bella voi siete e giovane...
    Col tempo...


    VIOLETTA
    Ah, più non dite
    V'intendo... m'è impossibile
    Lui solo amar vogl'io."


    Ich verstehe das so, dass er ihr nahelegt, sie werde doch einen Anderen finden können - Violetta versteht es offensichtlich auch so und weist diese Möglichkeit von sich.


    "GERMONT
    Sia pure... ma volubile
    Sovente è l'uom


    VIOLETTA
    colpita
    Gran Dio!"


    Meine Deutung: das sagen Sie jetzt, und Sie glauben es auch, aber wir alle wissen, der Mensch ist wankelmütig. Ich weiß nicht, ob sich das jetzt wirklich auf Alfredo bezieht als unterschwellige Drohung damit, dass er sie sitzen wird lassen - kann es sich nicht auch darauf beziehen, dass Violetta sich schon trösten wird, irgendwann, später, nach menschlichem Ermessen?


    "GERMONT
    Un dì, quando le veneri
    Il tempo avrà fugate,
    Fia presto il tedio a sorgere
    Che sarà allor? pensate
    Per voi non avran balsamo
    I più soavi affetti
    Poiché dal ciel non furono
    Tai nodi benedetti.


    VIOLETTA
    È vero!


    GERMONT
    Ah, dunque sperdasi
    Tal sogno seduttore
    Siate di mia famiglia
    L'angiol consolatore
    Violetta, deh, pensateci,
    Ne siete in tempo ancor.
    È Dio che ispira, o giovine
    Tai detti a un genitor."


    Hier habe ich jetzt mein Deutungsproblem: was mein er? Nota bene sagt er ja nicht, dass die "più soavi affetti" für sie unerreichbar sind, weil Alfred das Weite suchen wird, er sagt nur, sie würden für sie kein Trost sein, weil Gottes Segen nicht drauf ruht. Anschließend ist's wieder klar, er sagt ihr, sie soll den Traum fahren lassen und der rettende Engel für seine Familie werden.


    Aber was meint er mit dem Segen Gottes?


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • @BBF


    Habe da eine Übersetzung gefunden, vielleicht beantwortet sie Deine
    Frage?


    VIOLETTA
    Wollt Ihr denn, dass ich für
    Immer auf ihn verzichte?


    GERMONT
    Es muss sein! ...


    VIOLETTA
    Ach nein …niemals!
    Wisst Ihr denn nicht, welche Liebe
    tief und unermesslich in meinem Herzen brennt?
    Dass ich unter den Lebenden
    keine Freunde, keine Verwandten habe?
    Und dass mir Alfredo geschworen hat,
    dass ich in ihm all das finden werde?
    Wisst Ihr nicht, dass mein Leben
    von einer unheilvollen Krankheit geschlagen ist?
    Dass ich schon mein Ende nahen sehe?
    Ich soll mich von Alfredo trennen?
    Ach, diese Qual ist so erbarmungslos,
    dass ich lieber sterben will.


    GERMONT
    Schwer ist das Opfer,
    aber hört mich doch in Ruhe an ...
    Schön seid Ihr und jung…
    Mit der Zeit ...


    VIOLETTA
    Ach, sprecht nicht weiter ...
    Ich verstehe Euch ... Es ist mir unmöglich ...
    Ihn allein will ich lieben.


    GERMONT
    Es mag so sein ... aber wankelmütig
    ist oft der Mensch …


    VIOLETTA
    beeindruckt
    Grosser Gott!


    GERMONT
    Eines Tages, wenn sich mit der Zeit
    die Liebesfreuden verflüchtigt haben,
    wird sich schnell Überdruss einstellen ...
    Was wird dann sein? ... Denkt daran ...
    Für Euch werden die zärtlichsten Gefühle
    keine Wohltat sein!
    Denn vom Himmel wurde
    diese Verbindung nicht gesegnet.


    V1OLETTA
    Das ist wahr!


    GERMONT
    Ach möge also dieser so
    verführerische Traum zerrinnen…
    Seid meiner Familie
    ein tröstender Engel …
    Violetta, denkt doch daran,
    noch wäre es die rechte Zeit.
    Gott selbst, du junges Mädchen,
    gibt einem Vater diese Worte ein.


    VIOLETTA ¨
    in äusserstem Schmerz
    (So gibt es für die Elende - die eines Tages gefallen ist -
    keine Stimme der Hoffnung, sich jemals wieder aufzurichten!
    Wenn ihr auch Gott barmherzig vergeben hat,
    zeigt sich ihr der Mensch doch unerbittlich.)
    Weinend zu Germont
    Sagt dem jungen Mädchen, das so schön und rein ist,
    dass es ein Opfer des Unglücks gibt,
    dem nur ein Strahl des Glücks bleibt,
    den es jetzt ihr opfert, und das dann sterben wird!


    GERMONT
    Ja, weine, Unglückliche… - ich sehe wohl,
    es ist das grösste Opfer, das ich jetzt von dir verlange.
    Ich fühle in der Seele schon deine Qualen;
    Nur Mut ... und das edle Herz wird siegen.



    Mit dem Segen ist wohl gemeint, daß die Verbindung Alfredo-Violetta auf Kosten des Tochter-Glücks geschlossen würde.


    Austria

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)

  • Liebe Austria,


    das ist lieb gemeint - aber nein, gar nicht. Denn die Frage ist nicht die Übersetzung, sondern die Deutung (ich weiß, die Grenzen sind fließend, deswegen habe ich auch das Original gepostet).


    Auch auf Deutsch wird nicht klarer, was er mit dem was er da sagt sagen will.


    Trotzdem vielen Dank,


    herzlicher Gruß,
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Lies mal meinen letzten Satz - ich hab editiert.

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)

  • Danke - also quasi das schlechte Gewissen, die "Schuld" die Violetta hinsichtlich der Tochter auf sich laden würde, würde ihr die "soavi affetti" versäuern.


    Dann frage ich mich nur: wie kommt er davon dann zum Einlenken ganz am Ende?


    Aber vielen Dank, das ist eine plausible Deutung dieser Stelle!


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

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  • Lieber BBF,
    nein, natürlich MUSS man das nicht so sehen, aber man KANN, ebenso wie deine Interpretation zutreffen kann oder auch nicht. Ich sehe den Sinn dieses Threads auch gar nicht darin, dass wir eine ultimative Antwort finden, sondern dass wir Gedankenspielereien betreiben und uns die gegenseitig mitteilen. Und das finde ich äußerst spannend und anregend! :D (Ich wäre z.B. nie im Leben auf die Idee gekommen, dass Germont andere als väterliche Gefühle für Violetta hegt...)
    Zu deiner Frage: Die beantwortet sich für mich so, dass Alfredo und Voilletta in wilder Ehe leben, daher im "Zustand der Sünde" in den Augen der katholischen Kirche, also ruht kein Segen Gottes auf dieser Verbindung. Für einen Moralapostel wie Vater Germont (Sorry, das ist er für mich!) würde auch eine spätere Eheschließung daran nichts ändern, denn der Sündenfall (außerehelicher Geschlechtsverkehr, um es juristisch zu formulieren ;) ) hat nun einmal stattgefunden.
    lg Severina :hello:

  • Liebe Severina,


    genauso sehe ich diesen Thread auch - eine definitive Lösung kann es nicht geben. Ich hab nur mal wieder ungeschickt formuliert...


    Sorry.


    Dann bleibt für mich aber immer noch eine Frage offen: wie kommt unserer Moralapostel dann dazu, seinen Standpunkt zu ändern? Göttliche Eingebung?


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • G.P hat übrigens wohl auch die Funktion, dem bürgerlichen Publikum eine Figur anzubieten, mit der es sich identifizieren kann. La Traviata spielt ja in der Gegenwart (in Verdis Gegenwart, dem 19. Jhdt). Mit Alfredo oder Violetta allein wird sich das Publikum nicht identifizieren - deren "Schicksal" ist zu weit weg. Aber mit dem Vater, der fürchtet, seine Tochter nicht standesgemäß verheiraten zu können, mit dem kann sich das bürgerliche Publikum identifizieren.


    Für das "Funktionieren" von La Traviata ist das glaube ich ziemlich entscheidend. Ob eine Geschichte, die allein darauf beruht hätte, die unglückliche Liebe eines Bürgersohns zur Kurtisane auf die Operbühne zu bringen, überhaupt auf die Opernbühne gekommen wäre?


    Freundliche Grüße sendet


    Heinz

  • Lieber Heinz,


    für mich gilt das übrigens noch heute: ich empfinde Giorgio Germont auch als die Figur die mir am nächsten steht, wie ich eingangs schon geschrieben habe.


    Im 19. Jh. war das wohl noch schlimmer ;) .


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Zitat

    Original von Barockbassflo


    Dann bleibt für mich aber immer noch eine Frage offen: wie kommt unserer Moralapostel dann dazu, seinen Standpunkt zu ändern? Göttliche Eingebung?


    Vielleicht ist es ja auch nur eine Fieberphantasie Violettas? Wurde von Zefferelli -glaube ich - als Erstes so gemacht.


    Aber wenn man's nicht so interpretiert: Ich weiß nicht, aber man macht doch häufig ganz komische Entwicklungen durch, entscheidet mal som, dann wieder so. ich kann mir schon vorstellen, dass ihm das alles nachher leid getan hat. Auch kann ich mir vorestellen, dass Violetta wirklich aus Edelmut verzichtet. ich finde das wirklich nicht derartig abwegig.


    LG,


    Knuspi

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  • Zitat

    Original von heinz.gelking
    Aber mit dem Vater, der fürchtet, seine Tochter nicht standesgemäß verheiraten zu können, mit dem kann sich das bürgerliche Publikum identifizieren.


    Für das "Funktionieren" von La Traviata ist das glaube ich ziemlich entscheidend. Ob eine Geschichte, die allein darauf beruht hätte, die unglückliche Liebe eines Bürgersohns zur Kurtisane auf die Operbühne zu bringen, überhaupt auf die Opernbühne gekommen wäre?
    Heinz


    So sehe ich es auch, deshalb meine Anmerkung weiter oben, daß im Grunde die Tochter die heimliche Hauptrolle spielt, sie ist das Motiv der Handlung.


    LG
    Austria

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)


  • Lieber BBF,
    gute Frage - eine gewisse Lernfähigkeit muss man auch Moralaposteln zugestehen ;)
    Nein, aber im Ernst (Abgesehen davon, dass ich kaum ein Libretto kenne, wo es nicht zumindest einen absolut unlogischen Punkt gibt): Ich könnte mir verschiedenes vorstellen:
    1. Was wäre, wenn Alfredo im Duell gegen den Baron gefallen wäre? Dann wäre indirekt Vater Germont am Tod seines Sohnes Schuld - vielleicht ist ihm das bewusst geworden, dass ihn sein starrer Ehrenkodex beinahe seinen Sohn (und Erben) gekostet hätte.
    2. Vielleicht kapituliert er auch einfach vor dieser Liebe, auch das soll's geben (Ich könnte ja jetzt weiter fantasieren und sagen, vielleicht hat er in seiner Jugend auch unstandesgemäß geliebt, aber den Weg der Vernunft eingeschlagen, und jetzt gönnt er seinem Sohn das Glück!)
    3. Er ist Pragmatiker - Violetta ist todkrank, immer noch nicht mit Alfredo verheiratet und wird es auch nicht sein - also wozu sich aufregen, lieber den verständnisvollen Vater spielen als auf stur schalten und damit Alfredo endgültig aus dem Haus zu treiben. (Ich widerlege mich gleich selber: Dazu passt nicht ganz, dass er sich in Alfredos Abwesenheit um Violetta kümmert - oder doch?)
    4. "Die Seele ist ein weites Land" wusste schon Arthur Schnitzler :D :D
    So, jetzt bist wieder du dran, ich warte auf Gegenentwürfe! :D
    lg Severina :hello:

  • Liebe Severina, lieber Knusperhexerich,


    keine Gegenentwürfe.


    Für mich persönlich zeigt sich an Vater Germont die Macht der Liebe, die im Zentrum dieses Werkes steht, so wie ich es verstehe.


    Begreift man Vater Germont als einen im Grunde guten Menschen, der meint das Beste zu tun, damit einen Fehler macht, diesen erkennt, aber dann nicht mehr vollständig korrigieren kann weil das Schicksal dazwischenfunkt, dann steigert das diese Wirkung m.E. bedeutend.


    Und der gute Giorgio ist halt doch ein komplexerer Charakter als man so meinen möcht'.


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Hm, ich bin nicht mehr so im Thema, was La Traviata angeht. Aber es ist ja wohl Verdis erste und einzige Oper mit Elementen des Naturalismus. Den fasse ich, grob und ohne jetzt noch mal nachschlagen zu können so zusammen, dass ein Geschehen auf die Bühne gebracht wird, welches einen Bezug zur Lebenswirklichkeit hat und auch gesellschaftliche und soziale Missstände thematisiert.


    G.P., die Identifikationsfigur für das Publikum, verhält sich genau so, wie die gesellschaftliche Konvention es von ihm fordert. Er will Violetta zum Verzicht überreden, unter anderem zum Schutz seiner Tochter (Familienehre!). Trotzdem endet alles dramatisch, traurig, katastrophal. Liegt darin nicht eine besonders eindringliche Kritik an den Verhältnissen und der gesellschaftlichen Konvention? Und auf einmal sind wir an einem Punkt, an dem wir auch biografische Argumente in die Diskussion einbringen könnten: Wie "standesgemäß" lebte Verdi?


    Hier ein rasch geklautes Zitat aus der deutschen Wikipedia:


    "Nachdem er 1847 in Paris anlässlich der Aufführung von Jérusalem (eine Überarbeitung der Lombardi) die Sängerin Giuseppina Strepponi wiedergetroffen hatte, verliebten sie sich und zogen bald zusammen. Diese Verbindung stieß vor allem in Busseto auf erheblichen Widerstand. Erst 1859 entschlossen sich Verdi und Strepponi zur Heirat."


    Dass G.P. scheitert, obwohl er sich bemüht, den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend zu handeln - darin liegt vielleicht eine wesentliche Aussage.


    Freundliche Grüße sendet


    Heinz

  • Zitat

    Original von heinz.gelking


    Dass G.P. scheitert, obwohl er sich bemüht, den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend zu handeln - darin liegt vielleicht eine wesentliche Aussage.


    Lieber Heinz,


    aus dieser Sicht "scheitert" er ja kurioserweise gar nicht! Denn es wird ja nichts aus der Ehe - weil Violetta stirbt.


    ABER: Vater Germont hat sich bedacht, er und Alfredo sind zu Violetta gekommen um die erstrebte Ehe einzugehen bzw. zuzulassen. Vater Germont scheitert also - ohne eigenes Verschulden - bei der Umsetzung seines Schrittes über die Konventionen hinaus. Aber er hat ihn gemacht, Violettas Tod ist nicht mehr die Verzweiflung der abgelehnten, sondern die Verzweiflung der im Moment der Erfüllung aus dem Leben gerissenen.


    Ich tendiere da eher zu der Meinung, dass dieser tödliche Schluss ein Zugeständnis an die Konvention war: zwar hat Verdi Violetta als übermenschliche Heldin dargestellt und ihr den "Sieg" zuteil werden lassen - Vater Germont springt über seinen Schatten und Alfredo kommt zurück - aber dafür muss Violetta dann sterben, damit es keinen Aufruhr gibt.


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

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  • Lieber BBF,
    einverstanden! :D Ein "böser Mensch" ist er schon deshalb nicht, weil ihm bei seinem gesellschaftlichen Status ja auch andere Möglichkeiten zur Verfügung stünden, um die Hure seines Sohnes auszuschalten (Ein kleine Denunziation, ein Wink bei der Polizei......) aber nein, er will sie kennen lernen, sucht die direkte Konfrontation - das zeigt schon von einem gewissen Charakter. Außerdem versucht er gar nicht die Patentlösung für derartige Fälle: nämlich Violetta mit viel Geld zu bestechen, damit sie freiwillig verschwindet. (So haben es Väter in der Realität mit unwillkommenen Geliebten ihrer Sprösslinge gehalten) Statt dessen appelliert er an ihr Verständnis, an ihr Mitgefühl mit seiner Tochter, er billigt ihr also sehr wohl charakterliche Qualitäten zu.
    Nö, eindimensional ist der Giorgio wirklich nicht!
    lg Severina :hello: