Carlos Kleiber - sein Vermächtnis


  • Nach dem lesenwerten Bändchen von Jens M. Fischer liegt nun die erste umfangreiche Carlos Kleiber-Biographie vor. Der Text umfasst 500 Seiten, die übrigen 100 Seiten entfallen auf einen ausführlichen Nachweiskatalog zu den vielen im Text enthaltenen Zitaten sowie eine Discographie.


    Carlos Kleiber selbst hat ja bekanntlich nichts über sein Privatleben preisgegeben, und seine Nachkommen führen seinen Willen insoweit fort. Vor diesem Hintergrund ist es sehr beachtlich, was Alexander Werner in dieser ersten Biographie an Fakten zusammengetragen hat. Wahrlich eine Pioniertat. Es fällt aber auf, dass sich diese Fakten fast ausschließlich auf C. Kleibers Tätigkeit als Dirigent, also sein öffentliches Leben beschränken. Über sein privates Leben ist so gut wie nichts zu erfahren. Die ersten rund 80 Seiten behandeln C. Kleibers Kindheit und gehen dabei auch ausführlich auf die Dirigententätigkeit Erich Kleibers ein. Immerhin erfährt man hier noch manches private Detail. Das Eingehen auf den Vater ist auch deshalb wichtig, weil der Autor im Weiteren die große Bedeutung, die Erich Kleiber für das spätere Schaffen seines Sohnes haben sollte, eindringlich schildert.


    Der Autor macht keinen Hehl daraus, dass er in Erich Kleiber den größten Dirigenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in Carlos Kleiber den größten Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sieht. Das Buch liest sich daher in seinen wesentlichen Teilen wie eine Verteidigung dieser These. Ich meine, dass der Autor dabei die für einen Biographen (bei aller Sympathie, die ein Biograph für die von ihm beschriebene Person haben kann, vielleicht sogar haben sollte) nötige Distanz nicht hinreichend wahrt. In dem Buch wimmelt es nur so von nicht näher begründeten Superlativen. Immer wieder zitiert der Autor Rezensenten, Mitwirkende oder Freunde die von dem „Genie“, der „Magie“, dem „Zauber“ C. Kleibers künden und von den „orkanartigen Ovationen“, die seine Darbietungen ausgelösten. Es ist wohl nicht übertrieben, die Darstellung der 20 Jahre zwischen 1975 und 1995, die sich über mindestens 250 – 300 Seiten erstreckt, in ihrem Grundmuster wie folgt zusammenzufassen:


    Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Fledermaus-Ouvertüre/Linzer/Brahms 4. – Proben mit den Bogenstrichen des Vaters – beinahe Probenabbruch, wegen unfolgsamer Orchestermusiker – Konzert – orkanartiger Applaus und hymnische Kritiken – Kleiber zieht sich zurück – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – Kleiber besucht Karajan-Probe – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Rosenkavalier – Proben – Probenabbruch, weil die Bogenstriche des Vaters nicht korrekt eingezeichnet oder ausgeführt sind – Kleiber reist grußlos ab – Maazel muss einspringen – großer Applaus, aber lange nicht so groß wie bei Kleiber – Sawallisch muss als Münchener Kollege C. Kleibers einsehen, dass er ein Stümper ist – Kleiber besucht Karajan-Probe – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einer Plattenaufnahme – Programm: Tristan – Proben – gigantischer finanzieller Schaden der Plattenfirma und Klageandrohung, weil Kleiber die Veröffentlichung der Aufnahme blockiert – Kleiber besucht Karajan-Probe – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Fledermaus-Ouvertüre/Linzer/Brahms 4. – Proben mit den Bogenstrichen des Vaters – beinahe Probenabbruch, wegen unfolgsamer Orchestermusiker – Konzert – orkanartiger Applaus – Kleiber zieht sich zurück – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Progamm: La Traviata – Proben – Probenabbruch, weil die Bogenstriche des Vaters nicht korrekt eingezeichnet oder ausgeführt sind – Kleiber reist grußlos ab – Maazel muss einspringen, erklärt aber, dass er künftig nicht mehr für Kleiber einspringen will – großer Applaus, aber lange nicht so groß wie bei Kleiber – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – Kleiber nennt Abbado fortan nur noch „Addabo“ – Kleiber besucht Karajan-Probe – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Fledermaus-Ouvertüre/Linzer/Brahms 4. – Proben mit den Bogenstrichen des Vaters – beinahe Probenabbruch, wegen unfolgsamer Orchestermusiker – Konzert – orkanartiger Applaus und hymnische Kritiken – Kleiber zieht sich zurück – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – weil Karajan tot ist, besucht Kleiber fortan dessen Grab und Muti-Proben – Maazel darf die Wiener dirigieren, weil Kleiber dazu keine Lust hat – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Fledermaus-Ouvertüre/Linzer/Brahms 4. – Proben – Konzert – orkanartiger Applaus – Neujahrskonzert ’89 – orkanartiger Applaus – Kleiber besucht Muti-Probe – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – Neujahrskonzert ’92 – orkanartiger Applaus – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat gegen einen Audi A8 mit Sonderausstattung – Programm: Fledermaus/Linzer/Brahms 4. – orkanartiger Applaus – Kleiber zieht sich zurück – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein…


    Die jeweiligen Werke sind nur beispielhaft genannt und untereinander austauschbar. Das Repertoire C. Kleibers war sehr begrenzt und beim Lesen des Buches verstärkt sich dieser Eindruck noch, zumal es tatsächlich immer diese gleichen Programme waren, mit denen C. Kleiber in Deutschland, den USA und Japan auftrat. Keine einzige Mozart Oper, kein Wagner (außer Tristan) etc. Immer wieder Freischütz, Otello, La Traviata, Rosenkavalier, Fledermaus, Brahms 4. (hier und da auch mal die 2.), von Mozart die Linzer – rauf und runter, immer wieder.


    Verblüffend ist, in welchem Maße es C. Kleiber offenbar auf technische Details ankam. Die Bogenstriche (vor allem die des Vaters) standen im Mittelpunkt der Proben. Daneben geht es immer um die Frage des richtigen Tempos. Beides zusammen (Bogenstriche, Tempi) sorgte offenbar für einen ganz eigenen, ungewohnten, erfrischend neuen Klang. Ich habe den Eindruck, dass darin ein großer Teil der unmittelbaren Wirkung seiner Darbietungen bestand. Hinzu kommt – und dies erscheint mir ebenso wichtig – der „Hype“, den C. Kleiber m. E. sehr geschickt um seine Person zu inszenieren verstand, indem er sich so rar und unberechenbar machte. Schon allein deshalb wurde jeder seiner Auftritte (wenn er denn überhaupt zustande kam) zu einem Ereignis. Und alle Beteiligten bemühten sich in persönlichen Adressen und Kritiken redlich, C. Kleiber überschwänglich lobend bei Laune zu halten, damit er nur ja nicht wieder auf die Idee käme, nicht mehr dirigieren zu wollen. Seinen Äußerungen über Kollegen und seinem Verhalten gegenüber Personen aus der Plattenindustrie zufolge, kann ich nicht annehmen, dass er sich dessen nicht bewusst war. Die Höhe der Gage wurde bei ihm immer wieder zu einem kritischen Vertragsbestandteil. In gewisser Weise instrumentalisierte C. Kleiber den Kulturbetrieb auf eine sehr geschickte Weise für seine Zwecke. Man muss unweigerlich an andere Exzentriker wie Michelangeli, Gould, Gulda, Celibidache denken. In seinem eng begrenzten Wirkungskreis hat C. Kleiber in den Jahren ’85 bis ’95 den Betrieb geradezu dirigiert!


    Natürlich konnte das wegen seines engen Repertoires und seiner sporadischen Auftritte insgesamt nicht ins Gewicht fallen. Man hat beim Lesen aber gleichwohl den Eindruck, dass es zwischen 1975 und 1995 keinen anderen vergleichbar guten und medial präsenten Dirigenten gegeben hätte. Insofern verzerrt der Autor ein wenig die Perspektive. Z. B. habe sich bei den Wiener Philharmonikern in diesen Jahren angeblich alles um Kleiber gedreht. Kein Böhm, kein Bernstein, kein Giulini, kein Maazel, kein Abbado, kein Muti, kein Sinopoli etc. Allenfalls noch Karajan, aber der war alt. Außer Karajan ließ C. Kleiber selbst übrigens keinen anderen Dirigenten gelten.


    So richtig nett und umgänglich scheint C. Kleiber auch nicht gewesen zu sein:


    Die Arbeit mit einem Jugendorchester lehnte er mit dem Hinweis ab, dass er lieber einen „Rolls-Royce“ dirigiere.


    Als Karl Ridderbusch, dem bei Proben wohl klar geworden war, welche Bedeutung die originalen Bogenstriche Erich Kleibers für dessen Sohn spielten, C. Kleiber eine Notenseite mit einer Widmung Erich Kleibers an Ridderbusch zeigte, zerriss C. Kleiber diese mit dem Hinweis, dass Ridderbusch diese ja nun nicht mehr bräuchte. Ridderbusch sollen die Tränen in den Augen gestanden haben. (Ich meine es war Riddersbusch. Ich hatte mir die Stelle vor lauter Entrüstung nicht markiert und kann sie jetzt nicht wiederfinden.)


    Nicht selten ließ er einzelne Orchestermusiker in demütigender Weise wissen, dass er sie für unfähig hielt. Selbst bei Orchestern wie dem Bayerischen Staatsorchester oder den Wiener Philharmonikern soll es deshalb und wegen seiner Unzuverlässigkeit in erheblichen Orchesterteilen immer auch Vorbehalte gegenüber C. Kleiber gegeben haben (geliebt, wie Böhm, Karajan oder Bernstein, wurde er nie). Nicht selten habe C. Kleiber auch sehr zornig werden können.


    Noch zu Karajans Lebzeiten war er von diesem eingeladen worden, die Berliner Philharmoniker zu dirigieren. Programm: eine Beethoven Sinfonie. Wir ahnen, wie es weitergeht… Die Berliner Philharmoniker hielten sich gerade in Salzburg auf. C. Kleiber reiste nach Berlin, um in Zusammenarbeit mit der Bibliothek der Philharmonie schon einmal das Notenmaterial vorbereiten zu lassen. Er überreichte einer neuen Mitarbeiterin der Philharmonie sein eigenes Notenmaterial mit seinen und des Vaters Bogenstrichen. Die neue Mitarbeiterin übertrug die Bogenstriche angeblich nicht vollständig oder nicht ganz fehlerfrei. C. Kleiber war erbost. Wegen des zwischenzeitlich eingetretenen Termindrucks bot man ihm an, die von Karajan eingerichteten Orchesternoten zu verwenden (etwas, was C. Kleiber selbst übrigens niemals zugelassen hätte; er bestand immer darauf, dass seine Bogenstriche nach einem Konzert wieder entfernt werden, damit sie niemand anderes verwenden oder studieren kann). Das erboste C. Kleiber noch mehr, weshalb er grußlos abreiste, als die Berliner gerade die Rückreise von Salzburg nach Berlin antraten, um am Folgetag mit C. Kleiber zu proben. Alle Versuche C. Kleiber zurückzuholen scheiterten. Die Sache hatte ein Nachspiel. Die neue Mitarbeiterin musste mitsamt des streitigen Notenmaterials vor Karajan erscheinen und Bericht erstatten. Karajan erklärte nach Durchsicht des Materials, dass er nicht verstünde, worin das Problem bestehe…


    Das Buch ist eine Mischung aus Hagiographie und Auftritts-Chronik. Wenn etwas schief ging oder C. Kleiber meinte, sich mal wieder wie ein - sit venia verbo - Soziopath aufführen zu müssen, seien wohl immer die anderen schuld gewesen, weil sie mit dem „Genie“ C. Kleiber nicht umzugehen gewusst hätten. Leider fehlen in dem Buch auch begründete Wertungen des interpretatorischen Schaffens C. Kleibers ebenso wie analytische Besprechungen der von ihm hinterlassenen Aufnahmen. Wegen der zahllosen Fakten der Chronik ist das Buch aus meiner Sicht für den Kenner aber trotzdem durchaus lesenswert. Man erfährt z. B. einiges über die notentechnische Vorbereitung eines Konzerts (Bogenstriche!). Ein erster Schritt der Aufarbeitung des Schaffens dieses großen Dirigenten ist damit in jedem Fall getan.


    In dem Audi A8, mit dem C. Kleiber kurz vor seinem Tod nach Slowenien fuhr, fand man im CD-Player übrigens seine 4. Brahms mit den Wienern…


    Loge

  • Werners Kleiber-Buch, dessen letzte Seiten von mir wohl heute noch absolviert werden, ist meiner Meinung nach ein Problem. Loge deutet es wertungsfrei an - ich kann mich der Wertung des Faktums nicht enthalten: Man erfährt über den Menschen Carlos Kleiber sehr wenig und über den Dirigenten fast nichts.


    Kleiber hat sein Privatleben abgeschirmt - ob jemand, der sich "Biograph" nennt, dabei mitspielen soll, halte ich für höchst diskutabel. Natürlich ist es honorig, wenn man nicht die private Weiß- und Schmutzwäsche eines verehrten Künstlers ans Tageslicht zerren will. Nur: Dann soll man vom Biographie-Schreiben eben die Finger lassen.


    Zumal Werner damit etwas zwangsläufig passiert, was so zweifellos nicht itendiert ist: Kleiber steht als :kotz:-Brocken da.
    Warum? - Nun, weil Werners Buch eben das Privatleben ausschließt, sich damit auch der psychologischen Interpretation enthalten muß. Womit sich seine Biographie auf eine ausformulierte Auftrittschronik plus anekdotischem Material beschränkt. Und dieses anekdotische Material enthält nun eben mehr Zeugnisse für einen Spinner bis Soziopathen als für das Gegenteil.



    Dazu steht Werners Heiligsprechung des Interpreten Kleiber in seltsamem Kontrast.


    Diese Heiligsprechung Kleibers wird von nahezu allen Musikpublizisten betrieben. Ich halte sie für höchst problematisch. Kleiber ist zweifellos einer der besten Dirigenten seiner Zeit. Sein einziges Defizit war, glaubt man diversen Orchestermusikern, ein relativ ungenaues Gehör, das es für ihn schwierig machte, Akkorde genau auszubalancieren. Bei den Wiener Philharmonikern etwa kursieren en masse Geschichten über an Dirigenten vollzogenen Gehörtests - Kleiber war keineswegs immer unter jenen, die bestanden haben, war aber erstaunlich locker, wenn er draufkam.
    Dem stand ein unglaubliches Feuer gegenüber, mit dem er die Werke erfüllen konnte. Kaum ein anderer Dirigent konnte ein Orchester zu solchen Leistungen führen wie Kleiber. Für Kleiber gab man sein Letztes - und fand das noch selbstverständlich dazu.


    Das macht Kleiber zu einem der besten Dirigenten seiner Zeit. Aber ist er auch einer der bedeutendsten?


    Hier setzt meine Kleiber-Kritik an - oder weniger meine Kritik an Kleiber, als vielmehr eine an seinen Hagiographen, die mir einen wesentlichen Punkt zu übersehen scheinen: Kleiber ist, anders als sein Vater, musikgeschichtlich bedeutungslos und interpretationsgeschichtlich nahezu bedeutungslos. Er ist ein Einzelphänomen, das keine Spuren hinterlassen hat.


    Machen wir ein Gedankenexperiment: Tun wir für einen Augenblick so, als hätte es Carlos Kleiber nicht gegeben. Wäre dadurch ein einziges wenigstens halbwegs bedeutendes Werk nicht uraufgeführt worden? Hätte die Interpretationsgeschichte einen anderen Verlauf genommen?


    Ich möchte, um den Vorwurf der Seligsprechung der eigenen Lieblinge zu begegnen, nicht an einem von mir geschätzten Dirigenten zeigen, worin mein Problem mit Kleiber besteht, sondern an einem von mir absolut nicht geschätzten Dirigenten: An Herbert von Karajan.


    Wenn ich also Karajan als Vergleich nehme: Bei ihm gibt es doch ein paar Uraufführungen (wenngleich auch meist nur halbherzig absolviert). Und es gibt eine die Interpretationsgeschichte wesentlich mitprägende Rolle. Daß ich persönlich mir wünsche, es hätte diese Rolle nicht gegeben, tut nichts zur Sache. Es gibt sie. Damit ist Karajan kein Einzelphänomen, sondern eine tragende Säule der Interpretationsgeschichte. Karajan war über Generationen hinaus stilprägend - wie auch Furtwängler oder Toscanini oder Klemperer, oder, in jüngerer Zeit, Bernstein.


    Und Kleiber? - Keine Uraufführungen, kein den Interpretationsstil prägender Dirigent. Wobei letzteres auch praktisch unmöglich ist, weil sich Kleiber aufgrund seiner Spinnereien zu sehr aus dem Betrieb zurückgezogen hat, um ihn prägen zu können.


    Wie gesagt: Meine Kritik betrifft nicht die dirigentischen Qualitäten Kleibers, sie betrifft nur den Glauben, Kleiber sei ein bedeutender Dirigent gewesen. Qualität und Bedeutung sind eben nicht immer kongruent. In manchen Fällen mag das gut sein, in manchen weniger. Angesichts dessen, wie gut Kleibers Interpretationen sind, wäre ich froh, wenn er nicht nur ein guter, sondern auch ein bedeutender Dirigent gewesen wäre.


    :hello:

    ...

  • Meine "Kritik" an Kleiber ist eine andere als jene von Edwin.
    Kein Wunder - habe ich doch einen anderen Zugang zur Musik.


    Zum einen mache ich keinen Unterschied zwischen "Besten" und "bedeutendsten" Dirigenten -wiewohl Edwins Interpretation hier durchaus legitim sein mag - ich teile sie nicht.


    OB ein Dirigent Uraufführungen dirigiert hat - das halte ich für sein Bewertung nicht für wahnsinnig wichtig. Viele junge Künstler, die sich anders nicht profilieren könne, weil die Konkurrenz bei den "Wiener Klassikern" und "Romantikern " einfach erdrückend ist (Wer kann schon gegen die großen Namen der Vergangenheit bestehen ?) spielen Zeitgenössisches auf CD ein, teilweise auch, weil ihnen nichts anderes angeboten wird.
    So wird aus einer durchschnittlichen Aufnahme schnell eine "Referenz" - und das durchaus zu recht - weil es nämlich nichts anderes am Markt gibt. (und nach Analyse der verkauften Stückzahlen voraussichtlich auch nicht geben wird)


    Dieses Manko mache ich also Kleiber nicht zum Vorwurf.
    Ich verstehe nur nicht, wie man einen Dirigenten, dessen musikalischer Nachlass aus wenigen Studioaufnahmen und einigen eher durch Zufall erhaltenen Liva-Aufnahmen besteht DERART überschätzen kann.
    Scon zu Lebzeiten galt er als unzuverlässig und Launisch - nicht gerade Kardinaltugenden.


    Kein Beethoven Zyklus - Kein Haydn, Keine Mozart-Sinfonien, wenig Schubert. Bruckner ? Fehlanzeige ! Mahler ? Desgleichen !
    Aha ein Neutöner ? Keineswegs, Edwin riss es schon kurz an.


    Jetzt hab ichs ! Ein begnadeter Operndirigent !!! (?)


    Das mag ja sein (ich erinnere mich an eine hervorragende Übertragung von "Carmen" aus der Wiener Staatsoper) - aber auf Tonträger dokumentiert ist das zumeist nicht.
    Als der Freischütz erschien, wurde er von der Kritik zumindest zwiespälitig aufgenommen - später hochgelobt. Ich muß sagen, daß mir die Keilberth Aufnahme geringfügig besser gefällt als jene unter Kleiber - aber natürlich ist auch jene ausgezeichnet.


    Jedoch den "Rummel" um seine Person verstehe ich keineswegs.
    Aus Meiner Sicht lieben viele Leute Künstler, welche wenig fassbares hinterlassen haben. Mein Gott - was hätten die alles aufnehmen können, wenn die Umstände nicht sdo widrig gewesen wären.
    In diesem Fall waren die Umstände die Launen des Herrn Kleiber - und dafür habe ich herzlich wenig Verständnis.


    Sicher ein sehr guter - aber IMO doch überschätzter Dirigent - vor allem unter dem Aspekt der vorhandenen Aufnahmen



    mfg


    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Vorausschickend möchte ich anmerken, dass ich ein Typ bin, der sich Kunst grundsätzlich lieber emotional als intellektuell nähert. Ich halte zum Beispiel im Sinne der Komponisten völlig verfehlte Interpretationen (so sie denn schlüssig zu solchen erkoren werden, Beispiel Tschaikowsky „Pathetique“ DGG mit Leonard Bernstein) für dann trotzdem authentisch, wenn ich das Gefühl habe, es liegt Herzblut in der Angelegenheit, das grundehrliche Bemühen um Authentizität des künstlerischen Augenblicks. Die Interpretation mag dann „falsch“ sein, ich erlaube mir trotzdem sie zu lieben. (Und lese gern im Tamino Klassikforum nach, welche Aufnahmen ich kennen lernen sollte, um Tschaikowskys „Pathetique“ zu hören.)


    Als zweiten Aspekt möchte ich (sehr persönlich) anführen, dass mir für Normalbürger völlig unverständliche Handlungsweisen wie das Hinschmeißen von sich (bei Kleiber) als einmalig abzeichnenden Projekten im letzten Augenblick nicht fremd sind, ich also die Psychosen von Carlos Kleiber als durchaus schlüssig das Gesamtbild ergänzenden Mosaikstein betrachte.


    Ich „verschlinge“ das Buch, bin aber erst ungefähr bei der Hälfte. Alexander Werner fächert das Leben von den Stationen des künstlerischen Wirkens her auf, er zitiert ausführlich Kommentare von Mitwirkenden und Pressestimmen dazu, und Privates sowie allgemein die Person Charakterisierendes wird zwischendurch eingeflochten.


    Vieles beim Dirigenten Kleiber erinnert mich an das, was ich über den Dirigenten Gustav Mahler gelesen habe: alles dem Werk unterordnen, die bestmögliche Interpretation bieten, kaum Kompromißbereitschaft zeigen. (Mahler war allerdings wohl ungleich belastbarer als der übersensible Kleiber.)


    Ich habe kein Problem mit „Fan-Büchern“ wie diesem, obwohl es natürlich auch immens spannend wäre, eine „objektivere“, „außenstehendere“ Sichtweise kennen zu lernen (aber bitte kein „Schmutzwäschewaschen“). Habe Carlos Kleiber (leider nur) zweimal live erlebt, 1991 im Wiener Musikverein mit den Wiener Philharmonikern (Mozart KV 425 und Brahms Zweite) und 1994 in der Wiener Staatsoper („Rosenkavalier“), der Rest ist Fernseh-, Radio-, CD- und DVD-geprägt. Mir persönlich bleiben vor allem die Live-Erlebnisse fürs Leben unvergesslich. Die Intensität und den Klangfarbenreichtum habe ich immer noch und immer wieder im Ohr.


    Kleiber hatte wohl innerlich ein weit größeres Repertoire als das, was er vor allem seit Anfang der 70er tatsächlich dirigiert hat. Liest man die Abschnitte über seine frühen Jahre vor allem als Korrepetitor und junger Kapellmeister, wünscht man sich natürlich umso mehr, auch in späteren Jahren Werke wie die dort genannten jemals mit Carlos Kleiber am Pult gehört zu haben.


    Ich finde, Alexander Werners Buch, in all seiner Subjektivität und Leidenschaft, bietet zumindest einmal einen ziemlich umfassenden ersten Anhaltspunkt, dieser einmaligen künstlerischen Gestalt näher zu kommen. Ich gebe Edwin Baumgartner recht in der Einschätzung von Kleibers Bedeutung als Dirigent. Was MIR aber bleibt, sind unvergessliche, einmalige, mein musikalisches Leben wie nur ganz weniges andere bereichert habende nachschöpferische Bild- und Tondokumente und Konzerterinnerungen.


    Und ab jetzt kann ich mich zum Beispiel ins Stuttgart des Jahres 1972 hineinversetzen und mir einbilden, dort einen „Otello“, von Carlos Kleiber dirigiert, zu hören. Oder mich als Probenkiebitz zwischen München und Wien wähnen, genährt durch unzählige Anekdoten. Oder (meinethalben) mir Gedanken machen über das Verhältnis Carlos Kleibers mit Lucia Popp, das im Buch auch erwähnt wird…


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Freundlicher Gruß
    Alexander

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ein begnadeter Operndirigent !!! (?)


    Das mag ja sein (ich erinnere mich an eine hervorragende Übertragung von "Carmen" aus der Wiener Staatsoper) - aber auf Tonträger dokumentiert ist das zumeist nicht.


    Nun, ganz so schlimm ist es denn doch nicht. Schon weiter oben wurde in diesem Thread wiederholt auf die beiden DVDs seiner ROSENKAVALIERe sowie die FLEDERMAUS des anderen Strauß hingewiesen. Man sollte solche Aufnahmen nicht diskreditieren, nur weil sie auch noch das Bild dabei haben.
    Sonst brauchen nämlich die Künstler der Zukunft gar nicht erst antreten.

    Auch von seinem in der Tat maßstäblichen Dirigat der CARMEN in der Inszenierung Zeffirellis mit Elena Obratzova und Placido Domingo habe ich eine Aufzeichnung (leider bei schlechtem Empfang), die hoffentlch irgendwann auch kommerziell herausgebracht wird.


    Mein Schlüsselerlebnis (später kam dann ein ROSENKAVALIER in der Münchener Oper hinzu) war die TV-Übertragung eines Konzertes mit Beethovens 7. Sinfonie mit dem Concertgebouw Orchester (glaube ich jedenfalls). Ich stehe eigentlich Bildaufzeichnungen von Sinfoniekonzerten mit ihren visuellen Vorgaben, was ich jetzt gerade besonders aufmerksam hören soll, sehr zwiespältig gegenüber und habe eigentlich nur kurz hinein schauen wollen. Dann aber blieb ich nach weniger als einer Minute zunehmend fasziniert hängen. So hatte mich Beethoven noch nie hingerissen, und ich hatte bis dahin schon Einiges gehört. Wenn jemand das vermag, ist er für mich ein bedeutender Künstler. Nicht nur, aber mindestens in diesem Augenblick, von denen wir uns alle viel mehr wünschen. Das erinnerte Leben besteht doch vor allem aus solchen Momenten. Carlos Kleiber kommt da für mich erstaunlich häufig vor, und das ist weit entfernt von jedem Götzendienst.

    Mag sein, dass er zu oft ein Ekel war. Es gibt auch gegenteilige Berichte, die von einem bezwingenden Charme erzählen. Dass er sich - auch, aber kaum immer nur - aus Gründen schlechter persönlicher Disposition oder ihm nicht genügender Aufnahmebedingungen rar gemacht hat, finde ich ebenfalls sehr bedauerlich. Andererseits ist dies wie bei manch ähnlich temperiertem Künstler sicher auch ein Grund, warum wir das, was es immerhin gibt, besonders schätzen, und warum es in aller Regel auch etwas Besonderes ist.


    Da spielt es für mich auch keine Rolle, ob er eines Tages nicht doch wieder in den Schatten seines Vaters zurück fallen wird. Allein dass er sich zu Lebzeiten aus einem derart riesigen Schatten hat lösen können, ist eine mehr als respektable Großtat.


    Ansonsten kann ich die Überlegungen von Edwin UND Alfred durchaus nachvollziehen, was die begrenzte Bedeutung seiner Person für die Musikwelt insgesamt betrifft, aber mir ist es lieber, jemand hat eine Handvoll grandioser Aufnahmen mit Referenzcharakter hinterlassen als jemand, der zeit seines Lebens ÜBERALL seine Duftmarke platziert hat, dann aber bei all seinen Aufnahmen noch schneller vergessen oder gar von Anderen übertroffen wird als er aufgebaut wurde. Bezeichnenderweise sind diese Beispiele viel zahlreicher.


    :hello: Rideamus


    EDIT: Danke für das Nachreichen der DVD, die mir bislang irgendwie entgangen war,Theophilus. Wieder ein Brocken in meiner UNBEDINGT BESORGEN Liste. :)

  • Hallo Rideamus,


    Kleiber war ein sehr guter Dirigent, aber er war auch sehr überschätzt. Vielleicht war die viele Lobhudelei zu Lebzeiten ein Mittel, Kleiber wieder ans Pult zu applaudieren.


    Es wird Zeit, dass wieder Realismus einzieht:


    seine "Rosenkavalier"-DVD kann es schwerlich mit dieser hier aufnehmen:



    Sein "Freischütz" wird immer im Schatten von der Keilberth-Aufnahme stehen, weil idiomatischer musiziert wird und sie besser besetzt ist:



    Auch sein "Tristan" ist nicht unbedingt anschaffungswürdig, mit diesen Aufnahmen ist man trefflich bedient:




    Auch die "Fledermaus"-CD-Aufnahme mit Rebroff lässt nicht wirklich Freude aufkommen. Die Aufnahme seine großen Vorbildes ist da viel besser:




    Selbst seine Einspielungen der Straußschen Walzer konnten diese Aufnahmen auch nicht toppen:


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    Trotzdem höre ich Kleiber sehr gern, wie ich auch einige Aufnahmen von Dohnanyi, Szell usw. höre, ein großer Dirigent, jedioch keine Dirigenten-Sensation. Dafür war sein Repertoire viel zu klein und seine Live-Auftritte zu gering.



    Herzliche Größe
    von LT :hello:

  • Hallo Liebestraum,


    über Geschmäcker lässt sich endlos streiten. Viel Sinn macht es kaum, und es gäbe nicht nur kein Tamino, wenn wir alle dieselben hätten. Das ist alles gut so.


    Deinem Lob für den ROSENKAVALIER-Film von Paul Czinner kann ich mich aber auch objektiv nicht anschließen, obwohl ich den Film als Jugendlicher im Kino mehrfach genossen habe. Es war mein erster ROSENKAVALIER, glaube ich, auf den hin ich mir trotz knappster Kasse sofort die Karajan-Gesamtaufnahme besorgte, die ich noch heute liebe.


    Dennoch, und trotz dieser Notalgie stand mir eine große Enttäuschung bevor, als ich viel später das Video und - wider besseres Vermuten hoffend - eine DVD besorgt hatte.


    Zunächst ist die technische Qualität dieser - zumindest meiner - DVD fast schon verheerend, und zwar in Bild und Ton.


    Weit schlimmer aber finde ich die aus meiner heutigen Sicht zum Teil erschreckend biedere, ja schlechte Kameraführung mit ihren oft viel zu totalen Bildausschnitten inklusive Rampe, die ohne ein besonderes Gespür für Bildkomposition daher kommen, und die vor allem die Manierismen der Schwarzkopf bis zur Grenze der Unart betonen.


    Natürlich ist die musikalische Leistung des Films auch heute noch beachtlich (soweit der miserable Ton der Aufzeichnung ein urteil zulässt), aber, wie schon andernorts gesagt, mit Ausnahme des für mich nach wie vor am authentischsten wirkenden Ochs von Otto Edelmann und der in dieser Fassung trotz allem unvergleichlichen Elisabeth Schwarzkopf, die aus der Rolle im mehrfachen Wortsinn etwas ganz Eigenes macht, werden für mich alle Elemente des Films von BEIDEN Kleiber-DVDs übertroffen. So bewundere ich Sena Jurinac nicht weniger als viele andere, aber im Vergleich mit Brigitte Fassbender ziehe ich diese vor und finde ich auch Anne Sofie von Otter nicht schlechter. Die Sophie Barbara Bonneys ist für mich ohnehin die ideale, obwohl mir Anneliese Rothenberger außerhalb der Operette selten so gefallen hat wie in Karajans ROSENKAVALIER. All das ist auch ein Verdienst des Dirigenten, und wenn ich, was gar nicht selten geschieht, nur die Musik dieser Oper hören will, greife ich trotz Karajan, Bernstein, Solti und sogar Kleiber, Sr. meistens zu einer der Kleiber-Aufnahmen, weil da für mich einfach ALLES stimmt oder einzelne Elemente nur auf höchstem Niveau hinter anderen zurück stehen.


    Beim FREISCHÜTZ und TRISTAN kann man in der Tat lange diskutieren. Bei Ersterem gibt für mich erst die Schlusszene mit Gundula Janowitz den endgültigen Ausschlag zugunsten Kleibers, und beim TRISTAN traue ich mir mangels hinreichender Detailkenntnis kein Urteil zu.


    Soviel Realismus darf und sollte auch sein.


    :hello: Rideamus


    EDIT: anscheinend hast Du noch nachgelegt: dass Ivan Rebroff in der FLEDERMAUS ein Missgriff war, hat Kleiber ja selbst zugestanden und ist wohl einer der seltenen Fälle, bei denen sich ALLE Taminos einig sind. Das gilt aber auch hinsichtlich der Beurteilung ihrer Qualitäten, die aber gerade, wie auch die Strauß-Walzer & Co., weidlich in parallelen Threads diskutiert wurden und werden.


    Sensationen kenne ich in der Kunst ohnehin nur als Marketingbegriff, und es nimmt Kleiber nichts, wenn man ihm dieses Prädikat ebenso verweigert wie allen anderen, die es sonst verdient hätten.

  • Hallo Rideamus,


    ich halte auch nichts von Sensationen, aber leider wird Kleiber dazu des öfteren hochgepuscht. Und das völlig zu Unrecht!



    Herzliche Grüße
    von LT :hello:


  • Hallo Liebestraum,


    man kann da bei den vielen Namen schon mal durcheinanderkommen, das gebe ich gerne zu.
    Aber in Deiner Aussage wolltest Du sicher HvK statt Kleiber schreiben, stimmts?? :baeh01:


    :hello:
    Wulf

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  • Sagitt meint:


    Es gibt einige Aufnahmen von Kleiber, die wohl immer Gültigkeit behalten werden:


    Beethoven 7 mit den Wiener
    Brahms 2 und 4 mit dem BayStaatsOrch und den Wienern
    Boheme und Traviata, Fledermaus, seine beiden Auftritte im Neujahrskonzert


    Unbefangen kann man ja nur hören, wenn man nicht weiss, wer das ist.
    Empfehle ich jedem, der Kleiber mal kennen lernen möchte.

  • Hallo Wulf,


    nein, Wulf, ich halte nichts von hochgepuschten Künstlern. Ich lasse mich lieber von den Arbeiten überzeugen.


    Der "beste" Arbeiter war Fritz Reiner! Wer diesen Dirigenten erst entdeckt hat, der ist für andere Dirigenten schon fast verdorben... :stumm:


    Karajan ist eher eine universelle Erscheinung, der vieles auf den Weg gebracht hat und der in der Tat ein vorzüglicher Dirigent war. Aber auch bei ihm mag ich keine Hochpuscherei! Dennoch gibt es auch von Karajan hervorrangende Aufnahmen!



    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • Also, mir ist lieber, der Orlowsky ist ein Fehlgriff wie bei der Kleiber-"Fledermaus" als der Dirigent ist ein Fehlgriff wie bei der "Fledermaus" mit Hilde Güden.
    Aber lassen wir das - wir sind ja in einem Kleiber-Thread, den anderen kann man in einem der ihm gewidmeten Threads bejubeln und Gott sei Dank auch kritisieren.


    Nun: Der "Tristan" unter Kleiber ist orchestral meiner Meinung nach unübertroffen, kein anderer Dirigent erzeugt diese nervöse Spannung, bei keinem anderen spürt man so stark dieses eigenartige Flirren und Vibrieren, eine Erregung, die bis zur Hysterie gesteigert ist. Aber es ist klar, daß vokal Abstriche zu machen sind, bei Kollo hat die Aufnahmetechnik im letzten Akt viel verdorben, Margaret Price intoniert unsauber und singt eigentümlich bis maniriert etc. etc. - stimmt alles. Dennoch ist mir Kleibers "Trsitan" wesentlich lieber als die meisten anderen der "regulären", also von vorneherein für die Aufzeichnung gedachten Aufnahmen.


    Wie gesagt: Für einen der besten Dirigenten seiner Zeit halte ich Kleiber durchaus.


    Nun zu Alfred. Er und ich denken bei aller Wertschätzung, die uns gegenseitig verbindet, in einigen Punkten doch grundlegend anders, das hat er schon betont.


    Dennoch, oh Alfred, machst Du einen kleinen Schnitzer, der aus einem Schnitzer meinerseits entspringt: Ich schrieb nur von Uraufführungen, muß mich aber insoferne korrigieren, daß sich Kleiber auch nicht für Werke abseits des Mainstreams eingesetzt hat. Die Musikgeschichte hat Kleiber also keinen Zugewinn zu verdanken. Das halte ich durchaus für einen wesentlichen Punkt. Es geht mir dabei nicht nur um die Avantgarde.


    Wir dürfen nämlich eines nicht vergessen: Daß die Dirigenten, die die meisten von uns, auch Alfred, verehren, durchaus für die Musikgeschichte gearbeitet haben. Wir übersehen dabei nur ("nur") die zeitlichen Dimensionen. Böhm etwa hat sich für den für seine Generation noch ziemlich neuen Alban Berg eingesetzt, Furtwängler keineswegs nur für Hindemith, sogar Knappertbusch, der als Moderne-Verächter gilt, machte Uraufführungen und setzte sich für Franz Schmidt und den Österreicher Theodor Berger ein. Selbst ein Spezialfall wie Harnoncourt hat der Musikgeschichte Werke hinzugewonnen - nicht durch Uraufführungen, aber durch Quasi-Uraufführungen, indem er alte Musik, die kaum jemand zu dieser Zeit gespielt hat, wieder ins Bewußtsein der Zuhörer gerückt hat.


    Und Kleiber? - Was hat sein Vater nicht alles geleistet...! "Wozzeck" uraufgeführt, "Christophe Colomb" (Milhaud) uraufgeführt, deutsche Erstaufführung der "Jenufa", Werke von Krenek aufgeführt und uraufgeführt, eingesetzt für Strawinskij etc. etc. Carlos Kleiber hingegen bleibt beim überkommenen Repertoire, zu dem zu seiner Zeit auch der "Wozzeck" längst zählt, und schneidet auch aus diesem Repertoire nur ein winziges Segment für sich heraus. Das dirigiert er wirklich ehrfurchtgebietend. Aber sein Vater war nicht nur ein mindestens ebenso guter Dirigent - sein Vater war für mich darüber hinaus auch ein bedeutender Dirigent.


    :hello:

    ...


  • Da möchte ich Zweifel anmelden. C. Kleiber war ein unglaublicher Stilist. Ihm bei Dirigieren zuzusehen, ist außerordentlich inspirierend. Es gibt nicht Wenige, die schon geäußert haben, und ich teile diese Meinung, dass seine reinen Höraufnahmen in ihrer Wirkung regelmäßig hinter den Bildaufnahmen zurückfallen. Dies gilt z. B. für die Neujahrskonzerte oder seine Beethoven-Sinfonien mit dem Bayerischen Staatsorchester. Sieht man seine Bildaufnahme zur oben von Theophilus geposteten Carmen, so haut es einen bei der Ouvertüre förmlich vom Sitz. Wenn man C. Kleiber so mit seinem Stab vornüber gebeugt durch das Orchester pflügen sieht, meint man, Zeuge eines einmaligen Ereignisses zu werden. Alles ist mitreissend, dazu perfektes Tempo. Bei nüchtern vergleichender Betrachtung stellt man dann später fest, dass das Tempo und der mitreissende Schwung exakt der Darbietung entspricht, die man unter Karajan bei RCA (mit L. Price) hören kann.


    Überhaupt lautet meine (hier pauschal vorgetragene) These zu C. Kleiber, dass er in seinen Interpretationsansätzen wesentliche Elemente des Karajans der 50er und frühen 60er Jahre umgesetzt hat. Neben der Carmen ließe sich das z. B. auch an seinen Einspielungen der Beethoven Sinfonien 5. und 7. mit den Wienern deutlich machen. Diese Einspielungen bilden quasi eine Synthese aus Böhm (von dessen Beethoven waren die Wiener seinerzeit geprägt) und Karajans 50er und 60er Zyklen. Der Kleiber der Jahre 1975 bis 1995 war so gesehen eine Art Karajan'scher Wiedergänger mit Erich Kleiber Einschlag. Beider Aufnahmen hat C. Kleiber immer und immer wieder Takt für Takt studiert und verinnerlicht. Dabei wollte er auch wissen, wie Karajan seine Klangmagie erzeugt, weshalb er stets dessen Proben besuchte. Einmal schrieb er Karajan in einer der vielen Postkarten (die regelmäßige Korrespondenz Karajan - Kleiber wird ja hoffentlich eines schönen Tages einmal veröffentlicht) nur er könne ermessen, wie Karajan in Takt soundso wieder gezaubert habe.


    Seinen größten Triumph erlebte C. Kleiber laut Werner übrigens in Osaka, Japan. Bekannterweise ist das eine Bastion Karajans gewesen, der C. Kleiber auch dort den Boden bereitet hatte, indem er die Japaner so richtig klassik-verrückt gemacht hatte. Im Lichte meiner These bekamen die Japaner mit C. Kleiber also innerhalb weniger Jahre den alten Karajan und den "jungen Karajan" zu hören. Da sind die total ausgeflippt.


    Loge

  • Hallo.


    Vielen Dank für eure Hinweise auf die Literatur zu Kleiber. Auf den Werner werde ich also wohl verzichten können, so weit reicht meine Kleiber-Sympathie wohl doch nicht, mich katalogisch-chronologisch mit ihm auseinandersetzen zu wollen. Den Fischer hole ich mir aber wohl bald.


    Zu Kleiber (also Carlos) habe ich ein eher ambivalentes Empfinden. Manches mag ich sehr (den Tristan, da stimme ich Edwin gern zu), manches hat mich erst empfänglich gemacht für weitere Werke des jeweiligen Komponisten (Beethoven), manches mochte ich (Brahms). Unterm Strich bleibt eher die traurige Sicht auf all das, was man gern von ihm noch gehört hätte (in meinem Fall beispielsweise einfach mehr Wagner).


    Ich denke auch, dass Edwin mit seiner Trennung vom guten zum bedeutenden Dirigenten recht hat. Neuland (oder vergessenes Land) zu erschließen ist gewiss eine andere Leistung, als eine gelungene Interpretation abzuliefern. Nicht, weil eine "gelungene Interpretation" an sich eine mindere Sache wäre, sondern weil die Interpretation an sich immer wieder dem Zeitgeschmack unterworfen ist; das Urbarmachen hingegen eine musikhistorisch-unumstößliche Ebene öffnet.


    Die besondere Beachtung, die Kleiber fand, hat gewiss mit seiner Divenhaftigkeit zu tun. Die überspannte Künstlerseele, die nur im Absoluten existieren oder schöpferisch sein kann, entspricht ja auch einem romantischen Ideal.


    Gruß, Ekkehard.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Loge
    ad vergleich Kleiber-Karajan: Das Ideal wäre gewesen, Kleiber hätte Karajans Disziplin gehabt und Karajan Kleibers Feuer.


    Richtig ist, daß Kleiber ein großer Stilist war - allerdings einer jener Dirigenten, bei denen sich die Frage erhebt, ob ein Dirigent eher für das Publikum dirigieren sollte oder eher für das Orchester. Etliche Orchestermusiker sind der Ansicht, Kleiber habe primär für das Publikum dirigiert und eine Gestik verwendet, die optisch eindrucksvoll, für den Orchestermusiker aber wenig aussagekräftig war. Allerdings - und auch darin sind sich die Musiker (zumindest die, mit denen ich über das Thema gesprochen habe) einig: In dem Moment, in dem es auch nur den kleinsten Wackelkontakt gab, konnte Kleiber blitzschnell umschalten und so sauber und effektiv für das Orchester dirigieren, wie nicht einmal Karajan, dem - hier gibt es offenbar tatsächlich Parallelen - etwas Ähnliches in Sachen "Effektivität in Notsituationen" nachgesagt wird.


    :hello:

    ...


  • Hier möchte ich mehrfach widersprechen.


    Erstens empfinde ich Kleiber gerade dann hervorragend, wenn ich ihn nicht sehe. Ein und dieselbe Aufnahme der Fledermausouvertüre oder Brahms 2. Symphonie kann ganz anders wirken, wenn man die Augen schließt oder man sie über CD hört. Allerdings behaupte ich nicht, dass sich diese Empfindung verallgemeinern lässt. Ebenso wenig ist Loges Behauptung wahr, nur weil sie von "nicht wenigen" geteilt wird.


    @Edwin: Ich glaube, dass Kleiber am ehesten für sich selbst dirigiert hat. Er scheint oft die Musik vorzumalen. Dem Publikum gefällts, dem Orchester hilfts wenig. Wenn aber eine "Wackelkontakt auftrat, dann musste er korrigieren, damit das "Bild" so wurde wie er wollte.


    Bei der zweiten Behauptung Kleiber sei nur ein wie auch immer gearteter zweiter Karajan gewesen, möchte ich massiv wiedersprechen. Zwischen den beiden Maestri bestanden große Unterschiede, nicht nur in ihrer Natur. Vergleicht man die Beethovensymphonien der Beiden, so entdeckt man auch gravierende Unterschiede zwischen Kleibers Wiener Aufnahmen und Karajans 62er-Zyklus. Vom Strauß gar nicht zu reden.


    Wenn Kleiber sich von irgendeinem Dirigenten beeinflußen hat lassen, dann wohl von seinem Vater, dessen Originalpartituren er gerne konsultierte. Kleiber ist also weniger ein Karajan-Nebenprodukt, also vielmehr ein Erich Kleiber der Stereozeit (diese Behauptung gilt nicht für die Repertoiregröße).


    Und dass Kleiber in Osaka nur deshalb Erfolg haben konnte, weil Karajan die Japaner "trainiert" hat, scheint mir nur ein Versuch zu sein, Karajan wiedermal zu glorifizieren. Denn wenn Loge Recht hätte, hätte Kleiber in der karajanfreien Zeit in Wien gar keinen Erfolg haben dürfen. Das Gegenteil war der Fall. Außerdem haben die Japaner nicht nur Karajan vergöttert. Harnoncourt, Böhm, Suitner haben sie auch zugejubelt. Entweder sie erkennen das Karajaneske in Harnoncourt besser als die Europäer oder sie sind einfach nur Musikliebhaber.



    LG
    Georg

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Zitat

    Zitat Georg
    Zwischen den beiden Maestri bestanden große Unterschiede, nicht nur in ihrer Natur.


    Gott sei Dank sagt's jemand in dieser erfreulichen Eindeutigkeit. Diesen Unterschied möchte ich fürwahr Klavierspielen können!
    :hello:

    ...

  • Halllo Georg,


    fakt ist jedoch, dass sich C. Kleiber mehr an den Proben Karajans orientierte als an den Partituren seines Vaters...




    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • Da Karajan zu seinen besten Zeiten im wesentlichen ein geglätteter, orchestral perfektionierter Kleiber senior gewesen ist (von der groben Richtung, mehr kann hier eh nicht gesagt werden), ist eine gewisse Ähnlichkeit kaum verwunderlich.


    Ein großer Unterschied scheint mir zu sein, dass eine Sache, die die gelungenen Kleiber-Aufnahmen auszeichnet, nämlich bei allem Wohlklang eine gewisse nervöse Anspannung, eine Lebendigkeit in allen Stimmen, bei Karajan tendenziell fehlt bzw. zugunsten eines mächtigeren, massiveren Klangs mit Tendenz zur Breiigkeit eingeebnet wird. (Da ich niemals was von ihnen live gehört habe, kann ich das nur sehr vorsichtig äußern. Sowohl einige Karajans als auch Kleibers Einspielungen gehören zu den schlimmer versaubeutelten Versuchen der DG. Manches mit Karajan ist nämlich ausnahmsweise nicht verwaschen, sondern widerwärtig grell; ich unterstelle gern, dass immer die Technik dran schuld ist, aber dann kann ich jedenfalls zum tatsächlichen Klang nichts sagen).


    Egal, was mich eher interessieren würde, ist, wie C. Kleiber in seiner Zeit in Stuttgart mit seinem Mini-Repertoire durchkommen konnte? Er muß damals doch wesentlich mehr als je eine Handvoll Opern und Sinfonien dirigiert haben? Steht dazu nix in der Biographie?


    Schließlich ist Kleiber nur der Extremfall einer Strategie (wenn es denn eine ist), mit der gar nicht so wenige Künstler ganz gut gefahren sind: Sich rar machen und Repertoire einschränken. Gulda und Michelangeli wurden ja bereits genannt. Für Argerich gilt Ähnliches, und auch für Schwarzkopf. Welche/r Sänger/in schaffte es sonst noch mit einer Handvoll Rollen aus dem Oeuvre von im wesentlichen zwei Komponisten, ein wenig Operette und ein paar Liedern zu den wichtigsten eines halben Jahrhunderts gezählt zu werden.


    Was hat es eigentlich hiermit auf sich?



    Ich habe jeweils einzelne CDs der Kleiber-Konzerte und eine neuere Ausgabe desjenigen von Karajan, die einen Kaiserwalzer als Bonus-Track enthält. Weiß jemand, was auf der Doppel-CD bzw. DVD zu finden ist, was nicht auf den einzeln enthalten ist?


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Ich hatte C. Kleiber ganz bewusst mit dem Karajan der 50er Jahre und frühen 60er Jahre verglichen. Wer behauptet, Karajan hätte da kein Feuer zur Hand gehabt, sollte sich Aufnahmen aus dieser Zeit nochmal anhören. Auch später gab es Feuer, aber immer stärker kontrolliertes Feuer. Außerdem war es zunehmend der Schönheit untergeordnet. Dieser große Künstler hat sich doch wie Wenige ständig konzeptionell fortentwickelt. Allenfalls Bernstein oder Boulez können da unter den umfassend auf Tonträgern dokumentierten Dirigenten noch mithalten.


    Loge



  • Das bezweifle ich stark, denn wenn das Endergebnis Kleibers Produkt einer Orientierung an Karajan sein soll, dann hat Kleiber wohl auf ganzer Linie versagt. Oder aber er hat sich angeschaut/angehört welche Richtung Karajan einschlägt, um es dann erst recht wieder anders zu machen. Warum auch immer.


    Richtig ist sicherlich, dass Kleiber Karajan bewunderte (und umgekehrt) und er von ihm den Umgang mit einem Orchester und wie man den Klang eines solchen formen kann, lernen wollte.




    LG
    Georg

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Zitat

    Original von Loge
    Ich hatte C. Kleiber ganz bewusst mit dem Karajan der 50er Jahre und frühen 60er Jahre verglichen. Wer behauptet, Karajan hätte da kein Feuer zur Hand gehabt, sollte sich Aufnahmen aus dieser Zeit nochmal anhören. Auch später gab es Feuer, aber immer stärker kontrolliertes Feuer. Außerdem war es zunehmend der Schönheit untergeordnet. Dieser große Künstler hat sich doch wie Wenige ständig konzeptionell fortentwickelt. Allenfalls Bernstein oder Boulez können da unter den umfassend auf Tonträgern dokumentierten Dirigenten noch mithalten.


    Loge



    Das mag auf viele Komponisten zutreffen, aber auf Beethoven trifft es IMO nicht zu (und bei Beethoven haben wir nunmal die meisten Vergleichsmöglichkeiten). Hier hat Karajan bereits in den 60ern alles nötige (und wichtige gesagt) um sich dann nur mehr zu wiederholen. Vergleicht man aber Karajans 4. oder 7. von 1962 mit Kleiber aus den 80ern, so bewegt man sich in 2 ganz unterschiedlichen Welten.

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Egal, was mich eher interessieren würde, ist, wie C. Kleiber in seiner Zeit in Stuttgart mit seinem Mini-Repertoire durchkommen konnte? Er muß damals doch wesentlich mehr als je eine Handvoll Opern und Sinfonien dirigiert haben? Steht dazu nix in der Biographie?



    Kleiber war ja nie GMD, sondern immer nur 1. Kapellmeister o.ä., später dann "ständiger Gastdirigent" in München usw.


    Noch vor seiner Stuttgarter Zeit war Kleiber immerhin für sieben Jahre (1957-63) an der Deutschen Oper am Rhein (Düsseldorf/Duisburg). Sein Repertoire dort kann man hier einsehen:


    "http://www.thrsw.com/cklist/before1963.html"


    Noch ein bisschen mehr als in späteren Zeiten - immerhin aus dem 20. Jahrhundert Strawinskys "Oedipus Rex" und Egks "Revisor" sowie Henzes "Undine"-Ballett.


    Meine Eltern erinnern sich sehr vage, Kleiber seinerzeit in einigen Duisburger Vorstellungen gehört zu haben, wissen das aber nicht recht zu würdigen :D.



    In seiner kurzen Zürcher Zeit in den 60ern hat er auch noch Verdis "Don Carlos" dirigiert.



    Sein Stuttgarter Opernrepertoire findet man hier:


    "http://www.thrsw.com/cklist/stuttgart/"


    Da ist er schon ziemlich eingerostet, immerhin sind noch "Elektra" und "Wozzeck" dabei.



    Später in München dann nur noch 15000mal Traviata, Fledermaus, Rosenkavalier...



    Auf "http://www.thrsw.com/cklist/" können bei Bedarf sämtliche Konzert- und Opernaufführungen Kleibers abgerufen werden.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht


    Später in München dann nur noch 15000mal Traviata, Fledermaus, Rosenkavalier...


    Nit ganz. In München hat er auch den "Wozzeck" gemacht (und den sogar, zumindest was die Orchesterleistung angeht, außerordentlich gut (Papas Probenpartituren sei Dank!)). Aber sonst ist das Münchner Repertoire zugegebenermaßen recht "übersichtlich" (hüstel).


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Zitat

    Original von GiselherHH
    Nit ganz. In München hat er auch den "Wozzeck" gemacht (und den sogar, zumindest was die Orchesterleistung angeht, außerordentlich gut (Papas Probenpartituren sei Dank!)).



    Stimmt! Kursiert(e) da nicht ein Mitschnitt auf dem Grauen Markt? ;)



    Zitat

    Aber sonst ist das Münchner Repertoire zugegebenermaßen recht "übersichtlich" (hüstel).


    Was aber wohl Joachim Kaiser nicht daran hinderte, auch noch die 124. Aufführung des "Rosenkavalier" mit immer noch überschäumenderen Lobeshymnen in der "Süddeutschen Zeitung" zu bedenken :D (das wurde so jedenfalls mal von Eckhard Henscheid aufs Korn genommen).



    Davon abgesehen: Ich darf noch auf meinen kurzen Bericht über einen gruselig klingenden Amateurmitschnitt von 1967 hinweisen, bei dem Carlos Kleiber Mahlers "Lied von der Erde" mit Kmentt/Ludwig und den Wiener Symphonikern dirigiert.


    Sehr hörenswert - eine Bestätigung der Aussage von Michael Gielen: "Sein Mahler wäre hinreißend gewesen!"



    Viele Grüße


    Bernd

  • Dieses LvdE hatte ich auch mal, habe es dann aber auf Ebay für erstaunlich viel Geld verscherbelt, weil mir der Klang einfach zu schlecht war.


    Erstaunlicher als das begrenzte Opernrepertoire finde ich ja das in der Instrumentalmusik. Da müßten doch noch ein paar mehr Partituren mit Phrasierungsangaben von Papa übriggeblieben sein. Was ist mit Mozart-Sinfonien außer 33 und 36? Warum keine Eroica, keine Schubert 9. (oder eine andere frühe, die 3. ist nämlich wirklich hinreißend gelungen)? (Aber ein Schmonzes wie Heldenleben...) Oder man hätte sich ja auch auf Repertoire werfen können, das Kleiber senior nicht oder kaum gepflegt hat.


    Eine gewisse Beschränkung ist mir gar nicht unsympathisch (findet sich, bei sonst riesigem und breitem Repertoire ja auch bei Sviatoslav Richter, kein 1. Brahms oder 4. + 5. Beethovenkonzert usw.), aber bei C. Kleiber hatte man irgendwie manchmal den Eindruck, dass er das machte, weil er sich's leisten konnte und schlicht keine Lust hatte, sich mehr Stücke aufführungsreif (angesichts seines Perfektionismus) anzueignen.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Was aber wohl Joachim Kaiser nicht daran hinderte, auch noch die 124. Aufführung des "Rosenkavalier" mit immer noch überschäumenderen Lobeshymnen in der "Süddeutschen Zeitung" zu bedenken :D (das wurde so jedenfalls mal von Eckhard Henscheid aufs Korn genommen).


    Zitat

    Gut lachen hatte jüngst SZ-Musik-Großkritiker Joachim Kaiser, als er anläßlich seines 725. Besuchs des "Rosenkavalier" bemerkte, daß Carlos Kleiber bei seinem 118. Dirigat der Oper noch "herrlich mitreißend-enthusiastischer, fabelhaft schattenlos jubelnder, wunderbar-elementar phantastischer, großartig-waghalsig dämonisch-bangherber, aber auch sehr gefährdet groß erregt-archaischer, ja gottvoller" dirigierte als beim 117. Male. Unseren Glückwunsch!


    Eckhard Henscheid: Musikplaudertasche (Hamburg 1990), S. 36 f.


    :D


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Alfred meinte, CK habe keinen Haydn dirigiert: doch, doch, Symphonie No. 94, 1991 mit den Wiener Philharmonikern. Sein Mozart ist sehr übersichtlich, aber eine federleichte 33. 1996 mit dem BaySO und häufig die Linzer (mehrere Mitschnitte mit den Wienern) sind wiederum Referenzen.


    Ich weiß nicht, weshalb die "Spinnereien" Kleiber so negativ ausgelegt werden: In einem Betrieb, der dermaßen lächerlich und teils anwidernd funktioniert wie der Klassikmarkt, fällt doch so etwas nur ins Gewicht, wenn es gegen die Gesetze des Marktes abläuft; sonstige "Extravaganzen", derer viele und weit problematischere sind, werden nicht weiter erwähnt. Wieviel Inszenierung, Provokationslust oder tatsächlich Selbstzweifel (auch Hypochondrie) auch immer hinter Absagen, Zwistigkeiten etc. gesteckt haben - für mich sind all die berühmten, fast kinskiesken Anekdoten völlig belanglos, solange das künstlerische Produkt in einer qualitativen Dichte abgeliefert wird, die aus meiner Sicht einzigartig ist. Da kommt auch der gute Reiner Fritz aus Budapest nicht heran, der auch einige mäßig lustvolle Repertoireeinspielungen in Chicago hinter sich gebracht hat (auch die Bemerkungen von Rudolf Bing über das künstlerische Ethos Reiners sind da ganz interessant).


    Zur Bedeutung: Die Kriterien, die Edwin aufstellt, mögen legitim sein, jedoch halte ich sie nicht für umfassend. Die Bedeutung eines Künstlers kann allein in der nur einmal erreichten genialen Wiedergabe einer Passage bestehen, ebenso wie in seinen Verdiensten um Uraufführungen, Wiederentdeckungen oder Abwandlungen der Aufführungspraxis. Der Dienst am Werk umfaßt ebenso das Ringen um die dem eigenen Anspruch nach Perfektion nahekommende Interpretation; da es von CK einige solcher Momente gibt, halte ich sein Werk für äußerst bedeutend, gerade in der Beschränkung auf das Repertoire, dem er sich mehr und mehr verschrieben hatte (Fischer macht die Rechnung auf, daß sich Kleiber in dem Punkt von Furtwängler nur geringfügig unterschieden habe).


    Daß viele Orchestermusiker Kleiber nicht ausstehen konnten, kennt man, ich habe es von einem Berliner Philharmoniker gehört. Die Nachfragen zeigten aber auch, daß dies vornehmlich auf der arroganten und wenig vorsichtigen Kleiberschen Art beruhte, mit den Musikern umzugehen, als mit seinen musikalischen Fähigkeiten. Wieviel Showmanship man also CK auch immer nachsagen mag, wenn dabei diese Resultate herauskommen, muß doch wohl etwas daran sein...


    Daß Kleiber ein gepushter Medienstar gewesen wäre, halte ich gerade mit dem Blick auf Phänomene wie Barenboim, Muti, Harnoncourt o. ä. für eine gewagte These! Der Brief, den Umbach im Spiegel veröffentlicht hat, zeugt von Kleibers Selbstironie und der Geringschätzung, die er für seine omnipräsenten, sich zu jedem Thema äußernden Kollegen hegte.


    Aus meiner Sicht ist hier ein grandioses Talent durch konsequente Selbstbeschneidung perfektioniert worden, und ich vermisse zwar häufig die eine oder andere nicht entstandene Aufnahme, akzeptiere aber die Entscheidung des Künstlers. Je mehr ich sehe und höre, desto häufiger denke ich: Wären doch mehr diesem Beispiel gefolgt!



    LG,


    Christian

  • Irgendwie erinnern mich einige Mitforianer an den Schüler Karl P., der für die Biologieprüfung die Würmer gelernt hat, vom Lehrer aber nach dem Elefanten gefragt wird und antwortet: "Der Elefant hat einen Rüssel, der aussieht wie ein Wurm. Die Würmer teilt man ein in..."


    Man braucht an die Stelle von "Wurm" nur "Karajan" zu setzen. Und dann kommt man zum karajanzentrischen Musikbild, in das auch Kleiber eingeordnet wird. Und sei es nur auf der Basis einer persönlich guten Beziehung und einiger minimaler Parallelen, die man aber, wenn man es unbedingt wollte, ebenso gut zwischen Böhm und Kleiber oder Bernstein und Kleiber konstruieren könnte - sogar zwischen Celibidache und Kleiber. Den Kult der gezielten Verweigerung pflegten immerhin beide... Dabei haben Kleiber und Karajan herzlich wenig miteinander zu tun, außer, daß sie einander über den gegenseitigen Respekt hinaus mochten.


    Die angeblichen Parallelen stimmen aber schon bei der Probentechnik nicht wirklich. Karajan war ein perfekter Kapellmeister (das meine ich positiv), der den Musikern mit Schlagtechnik und knappen, präzisen Anweisungen seinen Willen mitteilte. Dazu kamen auflockernde Scherzchen. Insgesamt eine Probentechnik, die bei Musikern beliebt ist.
    Kleiber hingegen war ein "redender" Dirigent, der den Musikern (ich beziehe mich auf Schilderungen seitens Mitgliedern der Wiener Philharmoniker) einiges erzählte, mitunter Philosophien, Hintergründe etc. Seine Vorstellungen waren dabei durchaus präzise, er vermittelte sie nur nicht knapp und sachbezogen. Was insgesamt eine Probentechnik ist, die Musiker weniger mögen. (Dirigent zum Hornisten: "Dieses 'c' ist ein Schmerzenslaut, in dem der Komponist seine unerfüllbare Liebe ausdrückt. Das ist wie ein Klang, den man nicht loslassen will, aber man weiß, daß man ihn früher oder später loslassen muß." Hornist: "Also was jetzt - forte oder mezzoforte?") Kleibers Probentechnik war, Aussagen mir bekannter Musiker zufolge, insoferne eher Bernstein verwandt als Karajan - nur, daß Bernstein mit zunehmendem Alter immer mehr philosophierte und immer weniger konkret probte.


    Auch die Ergebnisse scheinen mir nicht vergleichbar: Der frühe Karajan hat Feuer, zweifellos, aber es ist ein kaltes Feuer, das relativ robust flackert und vor allem auf einer klugen Tempodramaturgie basiert.
    Kleibers Tempodramaturgien sind hingegen sind wohlüberlegt und klug, aber für sich allein nicht spektakulär. Das Besondere an Kleiber scheint mir eine Art gesteigerte bis übersteigerte Sensibilität zu sein. Irgendwie schafft er es, die Musik in permanenter nervöser Spannung zu halten, die mir vor allem aus feinen Nuancen, minimalen Temprückungen und einem unglaublichen Gefühl für das In-Beziehung-Setzen von Motiven zu bestehen scheint. Man höre sich das Schlußduett aus dem ersten Akt von Verdis "Otello" an: Wie das Orchester einen schimmernden, funkelnden Klanggrund unter die sich wie frei entfaltenden Stimmen legt und einen nächtlichen Zauber beschwört, der von Raum, Zeit und Erdenschwere gelöst ist - das ist einzigartig, ohne Vorbild und auch ohne Nachfolger.


    :hello:

    ...

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