Nach dem lesenwerten Bändchen von Jens M. Fischer liegt nun die erste umfangreiche Carlos Kleiber-Biographie vor. Der Text umfasst 500 Seiten, die übrigen 100 Seiten entfallen auf einen ausführlichen Nachweiskatalog zu den vielen im Text enthaltenen Zitaten sowie eine Discographie.
Carlos Kleiber selbst hat ja bekanntlich nichts über sein Privatleben preisgegeben, und seine Nachkommen führen seinen Willen insoweit fort. Vor diesem Hintergrund ist es sehr beachtlich, was Alexander Werner in dieser ersten Biographie an Fakten zusammengetragen hat. Wahrlich eine Pioniertat. Es fällt aber auf, dass sich diese Fakten fast ausschließlich auf C. Kleibers Tätigkeit als Dirigent, also sein öffentliches Leben beschränken. Über sein privates Leben ist so gut wie nichts zu erfahren. Die ersten rund 80 Seiten behandeln C. Kleibers Kindheit und gehen dabei auch ausführlich auf die Dirigententätigkeit Erich Kleibers ein. Immerhin erfährt man hier noch manches private Detail. Das Eingehen auf den Vater ist auch deshalb wichtig, weil der Autor im Weiteren die große Bedeutung, die Erich Kleiber für das spätere Schaffen seines Sohnes haben sollte, eindringlich schildert.
Der Autor macht keinen Hehl daraus, dass er in Erich Kleiber den größten Dirigenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in Carlos Kleiber den größten Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sieht. Das Buch liest sich daher in seinen wesentlichen Teilen wie eine Verteidigung dieser These. Ich meine, dass der Autor dabei die für einen Biographen (bei aller Sympathie, die ein Biograph für die von ihm beschriebene Person haben kann, vielleicht sogar haben sollte) nötige Distanz nicht hinreichend wahrt. In dem Buch wimmelt es nur so von nicht näher begründeten Superlativen. Immer wieder zitiert der Autor Rezensenten, Mitwirkende oder Freunde die von dem „Genie“, der „Magie“, dem „Zauber“ C. Kleibers künden und von den „orkanartigen Ovationen“, die seine Darbietungen ausgelösten. Es ist wohl nicht übertrieben, die Darstellung der 20 Jahre zwischen 1975 und 1995, die sich über mindestens 250 – 300 Seiten erstreckt, in ihrem Grundmuster wie folgt zusammenzufassen:
Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Fledermaus-Ouvertüre/Linzer/Brahms 4. – Proben mit den Bogenstrichen des Vaters – beinahe Probenabbruch, wegen unfolgsamer Orchestermusiker – Konzert – orkanartiger Applaus und hymnische Kritiken – Kleiber zieht sich zurück – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – Kleiber besucht Karajan-Probe – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Rosenkavalier – Proben – Probenabbruch, weil die Bogenstriche des Vaters nicht korrekt eingezeichnet oder ausgeführt sind – Kleiber reist grußlos ab – Maazel muss einspringen – großer Applaus, aber lange nicht so groß wie bei Kleiber – Sawallisch muss als Münchener Kollege C. Kleibers einsehen, dass er ein Stümper ist – Kleiber besucht Karajan-Probe – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einer Plattenaufnahme – Programm: Tristan – Proben – gigantischer finanzieller Schaden der Plattenfirma und Klageandrohung, weil Kleiber die Veröffentlichung der Aufnahme blockiert – Kleiber besucht Karajan-Probe – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Fledermaus-Ouvertüre/Linzer/Brahms 4. – Proben mit den Bogenstrichen des Vaters – beinahe Probenabbruch, wegen unfolgsamer Orchestermusiker – Konzert – orkanartiger Applaus – Kleiber zieht sich zurück – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Progamm: La Traviata – Proben – Probenabbruch, weil die Bogenstriche des Vaters nicht korrekt eingezeichnet oder ausgeführt sind – Kleiber reist grußlos ab – Maazel muss einspringen, erklärt aber, dass er künftig nicht mehr für Kleiber einspringen will – großer Applaus, aber lange nicht so groß wie bei Kleiber – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – Kleiber nennt Abbado fortan nur noch „Addabo“ – Kleiber besucht Karajan-Probe – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Fledermaus-Ouvertüre/Linzer/Brahms 4. – Proben mit den Bogenstrichen des Vaters – beinahe Probenabbruch, wegen unfolgsamer Orchestermusiker – Konzert – orkanartiger Applaus und hymnische Kritiken – Kleiber zieht sich zurück – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – weil Karajan tot ist, besucht Kleiber fortan dessen Grab und Muti-Proben – Maazel darf die Wiener dirigieren, weil Kleiber dazu keine Lust hat – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat – Programm: Fledermaus-Ouvertüre/Linzer/Brahms 4. – Proben – Konzert – orkanartiger Applaus – Neujahrskonzert ’89 – orkanartiger Applaus – Kleiber besucht Muti-Probe – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein – Neujahrskonzert ’92 – orkanartiger Applaus – Erfolgreiche Überredung Kleibers zu einem Dirigat gegen einen Audi A8 mit Sonderausstattung – Programm: Fledermaus/Linzer/Brahms 4. – orkanartiger Applaus – Kleiber zieht sich zurück – Kleiber will nicht mehr Dirigent sein…
Die jeweiligen Werke sind nur beispielhaft genannt und untereinander austauschbar. Das Repertoire C. Kleibers war sehr begrenzt und beim Lesen des Buches verstärkt sich dieser Eindruck noch, zumal es tatsächlich immer diese gleichen Programme waren, mit denen C. Kleiber in Deutschland, den USA und Japan auftrat. Keine einzige Mozart Oper, kein Wagner (außer Tristan) etc. Immer wieder Freischütz, Otello, La Traviata, Rosenkavalier, Fledermaus, Brahms 4. (hier und da auch mal die 2.), von Mozart die Linzer – rauf und runter, immer wieder.
Verblüffend ist, in welchem Maße es C. Kleiber offenbar auf technische Details ankam. Die Bogenstriche (vor allem die des Vaters) standen im Mittelpunkt der Proben. Daneben geht es immer um die Frage des richtigen Tempos. Beides zusammen (Bogenstriche, Tempi) sorgte offenbar für einen ganz eigenen, ungewohnten, erfrischend neuen Klang. Ich habe den Eindruck, dass darin ein großer Teil der unmittelbaren Wirkung seiner Darbietungen bestand. Hinzu kommt – und dies erscheint mir ebenso wichtig – der „Hype“, den C. Kleiber m. E. sehr geschickt um seine Person zu inszenieren verstand, indem er sich so rar und unberechenbar machte. Schon allein deshalb wurde jeder seiner Auftritte (wenn er denn überhaupt zustande kam) zu einem Ereignis. Und alle Beteiligten bemühten sich in persönlichen Adressen und Kritiken redlich, C. Kleiber überschwänglich lobend bei Laune zu halten, damit er nur ja nicht wieder auf die Idee käme, nicht mehr dirigieren zu wollen. Seinen Äußerungen über Kollegen und seinem Verhalten gegenüber Personen aus der Plattenindustrie zufolge, kann ich nicht annehmen, dass er sich dessen nicht bewusst war. Die Höhe der Gage wurde bei ihm immer wieder zu einem kritischen Vertragsbestandteil. In gewisser Weise instrumentalisierte C. Kleiber den Kulturbetrieb auf eine sehr geschickte Weise für seine Zwecke. Man muss unweigerlich an andere Exzentriker wie Michelangeli, Gould, Gulda, Celibidache denken. In seinem eng begrenzten Wirkungskreis hat C. Kleiber in den Jahren ’85 bis ’95 den Betrieb geradezu dirigiert!
Natürlich konnte das wegen seines engen Repertoires und seiner sporadischen Auftritte insgesamt nicht ins Gewicht fallen. Man hat beim Lesen aber gleichwohl den Eindruck, dass es zwischen 1975 und 1995 keinen anderen vergleichbar guten und medial präsenten Dirigenten gegeben hätte. Insofern verzerrt der Autor ein wenig die Perspektive. Z. B. habe sich bei den Wiener Philharmonikern in diesen Jahren angeblich alles um Kleiber gedreht. Kein Böhm, kein Bernstein, kein Giulini, kein Maazel, kein Abbado, kein Muti, kein Sinopoli etc. Allenfalls noch Karajan, aber der war alt. Außer Karajan ließ C. Kleiber selbst übrigens keinen anderen Dirigenten gelten.
So richtig nett und umgänglich scheint C. Kleiber auch nicht gewesen zu sein:
Die Arbeit mit einem Jugendorchester lehnte er mit dem Hinweis ab, dass er lieber einen „Rolls-Royce“ dirigiere.
Als Karl Ridderbusch, dem bei Proben wohl klar geworden war, welche Bedeutung die originalen Bogenstriche Erich Kleibers für dessen Sohn spielten, C. Kleiber eine Notenseite mit einer Widmung Erich Kleibers an Ridderbusch zeigte, zerriss C. Kleiber diese mit dem Hinweis, dass Ridderbusch diese ja nun nicht mehr bräuchte. Ridderbusch sollen die Tränen in den Augen gestanden haben. (Ich meine es war Riddersbusch. Ich hatte mir die Stelle vor lauter Entrüstung nicht markiert und kann sie jetzt nicht wiederfinden.)
Nicht selten ließ er einzelne Orchestermusiker in demütigender Weise wissen, dass er sie für unfähig hielt. Selbst bei Orchestern wie dem Bayerischen Staatsorchester oder den Wiener Philharmonikern soll es deshalb und wegen seiner Unzuverlässigkeit in erheblichen Orchesterteilen immer auch Vorbehalte gegenüber C. Kleiber gegeben haben (geliebt, wie Böhm, Karajan oder Bernstein, wurde er nie). Nicht selten habe C. Kleiber auch sehr zornig werden können.
Noch zu Karajans Lebzeiten war er von diesem eingeladen worden, die Berliner Philharmoniker zu dirigieren. Programm: eine Beethoven Sinfonie. Wir ahnen, wie es weitergeht… Die Berliner Philharmoniker hielten sich gerade in Salzburg auf. C. Kleiber reiste nach Berlin, um in Zusammenarbeit mit der Bibliothek der Philharmonie schon einmal das Notenmaterial vorbereiten zu lassen. Er überreichte einer neuen Mitarbeiterin der Philharmonie sein eigenes Notenmaterial mit seinen und des Vaters Bogenstrichen. Die neue Mitarbeiterin übertrug die Bogenstriche angeblich nicht vollständig oder nicht ganz fehlerfrei. C. Kleiber war erbost. Wegen des zwischenzeitlich eingetretenen Termindrucks bot man ihm an, die von Karajan eingerichteten Orchesternoten zu verwenden (etwas, was C. Kleiber selbst übrigens niemals zugelassen hätte; er bestand immer darauf, dass seine Bogenstriche nach einem Konzert wieder entfernt werden, damit sie niemand anderes verwenden oder studieren kann). Das erboste C. Kleiber noch mehr, weshalb er grußlos abreiste, als die Berliner gerade die Rückreise von Salzburg nach Berlin antraten, um am Folgetag mit C. Kleiber zu proben. Alle Versuche C. Kleiber zurückzuholen scheiterten. Die Sache hatte ein Nachspiel. Die neue Mitarbeiterin musste mitsamt des streitigen Notenmaterials vor Karajan erscheinen und Bericht erstatten. Karajan erklärte nach Durchsicht des Materials, dass er nicht verstünde, worin das Problem bestehe…
Das Buch ist eine Mischung aus Hagiographie und Auftritts-Chronik. Wenn etwas schief ging oder C. Kleiber meinte, sich mal wieder wie ein - sit venia verbo - Soziopath aufführen zu müssen, seien wohl immer die anderen schuld gewesen, weil sie mit dem „Genie“ C. Kleiber nicht umzugehen gewusst hätten. Leider fehlen in dem Buch auch begründete Wertungen des interpretatorischen Schaffens C. Kleibers ebenso wie analytische Besprechungen der von ihm hinterlassenen Aufnahmen. Wegen der zahllosen Fakten der Chronik ist das Buch aus meiner Sicht für den Kenner aber trotzdem durchaus lesenswert. Man erfährt z. B. einiges über die notentechnische Vorbereitung eines Konzerts (Bogenstriche!). Ein erster Schritt der Aufarbeitung des Schaffens dieses großen Dirigenten ist damit in jedem Fall getan.
In dem Audi A8, mit dem C. Kleiber kurz vor seinem Tod nach Slowenien fuhr, fand man im CD-Player übrigens seine 4. Brahms mit den Wienern…
Loge