Jüdische Volksmusik in Orchesterwerken?

  • Guten Abend,


    Unlängst hörte ich den Zyklus "Aus jüdischer Volkspoesie" (Sopran, Alt, Tenor, Orchester) von Schostakowitsch (komponiert 1948 ). Obwohl ich Liederabenden nicht viel abgewinnen kann, hat mich dieses Werk sehr berührt.


    Und das bringt mich zu meiner Frage: kennt Ihr klassische Orchesterwerke (ohne Gesang), die jüdische Volksmusik als Grundlage haben?


    :hello:


    Austria

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)

  • Zitat

    Original von Austria
    Unlängst hörte ich den Zyklus "Aus jüdischer Volkspoesie" (Sopran, Alt, Tenor, Orchester) von Schostakowitsch (komponiert 1948 ). Obwohl ich Liederabenden nicht viel abgewinnen kann, hat mich dieses Werk sehr berührt.


    Und das bringt mich zu meiner Frage: kennt Ihr klassische Orchesterwerke (ohne Gesang), die jüdische Volksmusik als Grundlage haben?


    :hello:


    Mahler, 1. Sinf., 3. Satz. Der Abschnitt mit Klar. und Trp. gegen Ende des "Bruder Jakob"-Teils, nicht der "Unter dem Lindenbaum"-Mittelteil


    Prokofieff: Ouverture über hebräische Themen (eigentlich kammermusikalisch: Klar, Klav. Streichq.)


    vermutlich wird man auch bei Schostakowitsch fündig werden.


    Es ist aber wohl nicht immer ganz leicht bzw. unmöglich allgemeineost- und südosteuropäische Einflüsse von spezifisch jiddischen zu unterscheiden.


    Auf den Beginn von Mendelssohns Violinkonzert läßt sich singen "O Moyshe, o Moyshe, the business isn't good", aber das dürfte eher ein Witz amerikanischer Juden sein... ;)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zu erwähnen wären die Werke von Ernest Bloch, vor allem das attraktive Violinkonzert von 1938.


    Gruß, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Liebe Austria
    aus dem Stand fällt mir Max Bruchs "Kol Nidrei" ein


    zitat Wikipedia:
    "Kol Nidrei" des Komponisten Max Bruch, ein Adagio für Violoncello und Orchester, Opus 47. In diesem Stück werden auch andere hebräische Melodien verarbeitet. Berühmt die Einspielung 1968 mit der Cellistin Jacqueline du Pré (1945-1987) und dem Israel Philharmonic Orchestra unter Daniel Barenboim


    lg
    d.

    Es gibt kaum etwas Schöneres, als dem Schweigen eines Dummkopfes zuzuhören

  • Liebe Austria,
    man muß unterscheiden zwischen echter jüdischer Volksmusik, die in Werke eingebaut wird (Bernstein meinte, auch in Mahlers "Zweiter", und zwar in der Fischpredigt, eines identifizieren zu können) und Musik, die aus dem Geist der jüdischen Volksmusik erfunden ist (wie etwa Bartók aus dem Geist der ungarischen Volksmusik erfindet). Aber das weißt Du ja sowieso.
    Sehr interessant scheinen mir dabei die ganz wenigen Werke, die ich von Paul Ben-Haim kenne, darunter eine nachromantisch-vollblütige "Israel Ouverture", deren Melodie sich schon nach einmaligem Hören in meinem Ohr eingenistet hat und es sich dort seit rund 15 Jahren unverändert gemütlich macht. Leute, ist das ein Ohrwurm! Außerdem gibt es von Ben-Haim noch eine etwas sprödere Erste Symphonie, die mir ebenfalls extrem positiv im Gedächtnis ist. Bei diesen Werken handelt es sich, glaube ich, um "im jüdischen geist erfunden".
    Restlos fasziniert hat mich die "Midnight Vigil" von Mordechai Seter für Chor und Orchester, ein Werk von herber Strenge und großer Schönheit. Die Basis ist der Synagogalgesang, ich weiß aber nicht, ob die Musik "auf der Basis von" erfunden ist, oder ob originale Melodien Eingang gefunden haben.
    Natürlich finden sich auch in den Werken Leonard Bernsteins immer wieder melodische Bildungen aus jüdischem Geist, stark stilisiert auf zwölftöniger Basis in der Dritten Symphonie "Kaddish", und auf zwölftöniger und sogar serieller Basis im Ballett "Dybbuk"; weniger gebrochen findet man sie in seiner Ersten Symphonie "Jeremiah", in den "Jubilee Games" und im Flötenkonzert "Halil".


    Das Werk aber, das für mich am stärksten Klezmer-Atmosphäre ausstrahlt, kommt kurioserweise von einem nicht-jüdischen Komponisten, nämlich von dem bereits dessen verdächtigten Dmitri Schostakowitsch: Hör' Dir das Finale seines zweiten Klaviertrios an. Aller Wahrscheinlichkeit nach ein Protest gegen die Judenverfolgung unter Stalin - "Du verfolgst Juden? Dann schreib ich als Nicht-Jude justament jüdische Musik." Und was für welche!


    :hello:

    ...

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  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Das Werk aber, das für mich am stärksten Klezmer-Atmosphäre ausstrahlt, kommt kurioserweise von einem nicht-jüdischen Komponisten, nämlich von dem bereits dessen verdächtigten Dmitri Schostakowitsch: Hör' Dir das Finale seines zweiten Klaviertrios an. Aller Wahrscheinlichkeit nach ein Protest gegen die Judenverfolgung unter Stalin - "Du verfolgst Juden? Dann schreib ich als Nicht-Jude justament jüdische Musik." Und was für welche!


    Ja, das ist ein großartiger Satz. Wenn ich recht erinnere kommt ein ähnliches Melodiefragment im 8. Streichquartett vor. Stimmungsähnlich sind gewiß auch noch ein paar weitere Sätze in den Quartetten.


    An neuerer Musik gibt es eine ganze Reihe bei Naxos (in Kooperation mit dem Milken Archive of American Jewish Music), ich habe daraus mal folgende CD gekauft; sie war auch ganz gut, aber nichts weltbewegendes (ich bevozuge dann doch eher traditionellen oder modernen Klezmer gegenüber entsprechend beeinflußter klassischer Moderne).



    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Das Werk aber, das für mich am stärksten Klezmer-Atmosphäre ausstrahlt, kommt kurioserweise von einem nicht-jüdischen Komponisten, nämlich von dem bereits dessen verdächtigten Dmitri Schostakowitsch: Hör' Dir das Finale seines zweiten Klaviertrios an. Aller Wahrscheinlichkeit nach ein Protest gegen die Judenverfolgung unter Stalin - "Du verfolgst Juden? Dann schreib ich als Nicht-Jude justament jüdische Musik." Und was für welche!



    Hallo Edwin,


    die stalinistische Judenverfolgung begann doch erst 1948 - als das Klaviertrio komponiert wurde (1944), spielte der Antisemitismus m.W. keine Rolle in der sowjetischen Politik (aus pragmatischen Gründen: Bündelung aller Kräfte im Krieg).


    Wenn man das Klezmer-Thema im Klaviertrio als konkreten Reflex auf historische Ereignisse deuten will, wäre doch wohl eher an den nationalsozialistischen Genozid an den Juden zu denken, der Schostakowitsch 1944 ansatzweise bereits bekannt gewesen sein dürfte. Möglich wäre auch eine Interpretation als Protest gegen das Desinteresse der sowjetischen Propaganda am Holocaust. Das Wiederaufgreifen des Themas im achten Streichquartett (das ja zumindest offiziell den Opfern von Krieg und Faschismus gewidmet ist) stünde dann in einem ähnlichen Kontext.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Viktor Ullmann, österreichisch-tschechischer Komponist, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde, bringt als Finale in einer seiner beiden Sinfonien (lange nicht mehr gehört, weiß nicht mehr welche) Variationen über ein jüdisches Thema.
    Beide Werke, wie auch die in der sehr guten Einspielung mit James Conlon und dem Gürzenich-Orchester des weiteren enthaltene Ouvertüre "Don Quixote tanzt Fandango" (ähnelt Richard Strauss, nur besser!) sind eine unbedingte Empfehlung wert.


    Gruß,
    Khampan

  • Max Bruch - Violinkonzert g-moll, Op. 26
    F. Mendelssohn - Violinkonzert e-moll, Op. 64
    (Am besten mit Heifetz oder Perlman,
    da werden einem trotz der vermentlichen
    "Ambivalenz" des Moll-Geschlechts
    die letzten 2000 Jahre der jüdischen
    Geschichte recht unmittelbar bewußt).

  • Hallo Zwielicht,
    die stalinistische Judenverfolgung wurde 1948 systematisiert; die Antipathie gegen Juden und die Schlechterstellung von Juden war indessen permanent vorhanden, wie Schostakowitsch natürlich gewußt hat: Einer seiner besten Freunde - wenn nicht überhaupt sein bester - war schließlich Jude, nämlich Ivan Sollertinskij. Schostakowitsch spielt in dem bewußten Satz übrigens sicherlich auch auf dessen Tod an - Sollertinskij starb 1944.
    :hello:

    ...

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  • Vielen Dank für Euer brainstorming. Bei Mahler wußte ich, daß er einige jüdische Elemente in seine Symphonien eingearbeitet hat. Die anderen, von Euch vorgeschlagenen Werke kommen auf meine Wunschliste. Teilweise kenne ich die Komponisten gar nicht :untertauch:


    Danke!


    :hello:


    Austria

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  • Hallo Austria,
    vielleicht noch ein Hinweis: Das sehr, sehr schöne Cellokonzert von Frederick Jacobi (1891-1952), dessen thematisches Material weitgehend an jüdische Volksmusik angelehnt ist.
    Auf dieser CD:



    sind dann gleich noch einige im weitesten Sinne »liturgische« Werke (»Sabbath Evening Service«, »Hagiographa«, »Ahavat olam«, »2 Pieces in Sabbath Mood«) Jacobis eingespielt.


    Herzlichst,
    Medard

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Zwielicht,
    die stalinistische Judenverfolgung wurde 1948 systematisiert; die Antipathie gegen Juden und die Schlechterstellung von Juden war indessen permanent vorhanden, wie Schostakowitsch natürlich gewußt hat: Einer seiner besten Freunde - wenn nicht überhaupt sein bester - war schließlich Jude, nämlich Ivan Sollertinskij. Schostakowitsch spielt in dem bewußten Satz übrigens sicherlich auch auf dessen Tod an - Sollertinskij starb 1944.
    :hello:



    Hallo Edwin,


    ich will das gar nicht übermäßig strapazieren: es ist mir nur aufgefallen, dass in letzter Zeit semantische Dimensionen in Schostakowitschs Musik häufig ausschließlich auf die Stalinismus-Komponente reduziert werden - auch dort, wo andere Bezugspunkte näherliegender wären.


    Dass also im 1944 entstandenen Klaviertrio (bzw. in den entsprechenden Passagen) auch die stalinistische Judenpolitik "gemeint" ist, will ich gar nicht ausschließen. Aber 1944 standen in Bezug auf das europäische Judentum andere, um viele Grade verheerendere Ereignisse im Mittelpunkt.


    Es ist doch vielleicht eher eine vielschichtige Semantik der "Klezmer-Passage" im Klaviertrio zu kostatieren: sie ist sowohl individuelles Requiem für Sollertinkij mit Anspielung auf sein Judentum als auch Anklage gegen den nationalsozialistischen Genozid UND gegen den offiziellen sowjetischen Antisemitismus.


    Ähnlich später in der 13. Symphonie, die vor allem den nationalsozialistischen Massenmord anklagt, aber auch auf einer zweiten Ebene den sowjetischen Antisemitismus.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Zwielicht,
    mag sein - aber dann ignorierst Du Schostakowitschs eigene Aussagen. Sogar die "Leningrader" bezog er auf ein Zerstörungswerk an der Stadt, das (ich zitiere aus dem Gedächtnis) "Stalin anzulasten ist, die Nationalsozialisten haben nur den Rest erledigt".


    Auch die 13. ist eher genau gegenteilig von Deiner Aussage zu deuten: An der Schlucht zu Babyj Jar fand zweifellos eines der großen Juden-Massaker der Nazi-Truppen statt. Worum es dem Textautor Jewtuschenko aber geht, ist folgendes: Während die Kommunisten an allen Orten von Nazi-Verbrechen Denkmäler bauten (die weniger die Verbrechen anklagten, als der Opfer gedachten), bauten sie bei Babyj Jar keines - denn es handelte sich eben "nur" um Juden. Daher beginnt Jewtuschenkos Gedicht auch nicht mit dem Nazi-Gräuel, sondern mit dem lapidaren Satz "Nad Babym Jarom pamjatnikow net", also "Über Babyj Jar stehen keine Denkmäler". Was dann folgt, ist eine Abrechnung mit der Judenverfolgung - aber eben immer unter dem Aspekt "Man gedenkt ihrer nicht einmal in der Sowjetunion".

    Hätten Jewtuschenko und Schostakowitsch den Nationalsozialistischen Antisemitismus angeklagt, hätten die sowjetischen Behörden übrigens gegen die 13. Symphonie gar nichts gehabt. Sie gerieten aber in Rage, weil sie nur zu gut verstanden, daß es eben nicht primär um Hitler-Deutschland geht, sondern um den Umgang der Sowjetunion mit dem Antisemitismus.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Zwielicht,
    mag sein - aber dann ignorierst Du Schostakowitschs eigene Aussagen. Sogar die "Leningrader" bezog er auf ein Zerstörungswerk an der Stadt, das (ich zitiere aus dem Gedächtnis) "Stalin anzulasten ist, die Nationalsozialisten haben nur den Rest erledigt".



    Hallo Edwin,


    hier stellen sich grundsätzliche methodische Fragen: Wie ist die o.g. Äußerung Schostakowitschs quellenkritisch einzuordnen? Von wann stammt sie? (Der Schostakowitsch von 1944 ist ein anderer als der von 1965 oder 1970.) Wie gut ist die Äußerung belegt? Vermutlich stammt sie doch aus den Volkov-"Memoiren", über die aus quellenkritischer Sicht nun wirklich noch nicht das letzte Wort gesprochen ist - auch wenn Du da vermutlich widersprechen wirst (vgl. aber Dorothea Redepenning: Ärgernisse, Abgründe, Absurditäten. Fragwürdige Bücher zu Schostakowitsch, in: Dmitrij Schostakowitsch: Grauen und Grandezza des 20. Jahrhunderts [Themenheft der Zeitschrift "Osteuropa", 8/2006], Berlin 2006).




    Zitat

    Auch die 13. ist eher genau gegenteilig von Deiner Aussage zu deuten: An der Schlucht zu Babyj Jar fand zweifellos eines der großen Juden-Massaker der Nazi-Truppen statt. Worum es dem Textautor Jewtuschenko aber geht, ist folgendes: Während die Kommunisten an allen Orten von Nazi-Verbrechen Denkmäler bauten (die weniger die Verbrechen anklagten, als der Opfer gedachten), bauten sie bei Babyj Jar keines - denn es handelte sich eben "nur" um Juden. Daher beginnt Jewtuschenkos Gedicht auch nicht mit dem Nazi-Gräuel, sondern mit dem lapidaren Satz "Nad Babym Jarom pamjatnikow net", also "Über Babyj Jar stehen keine Denkmäler". Was dann folgt, ist eine Abrechnung mit der Judenverfolgung - aber eben immer unter dem Aspekt "Man gedenkt ihrer nicht einmal in der Sowjetunion".

    Hätten Jewtuschenko und Schostakowitsch den Nationalsozialistischen Antisemitismus angeklagt, hätten die sowjetischen Behörden übrigens gegen die 13. Symphonie gar nichts gehabt. Sie gerieten aber in Rage, weil sie nur zu gut verstanden, daß es eben nicht primär um Hitler-Deutschland geht, sondern um den Umgang der Sowjetunion mit dem Antisemitismus.
    :hello:



    Hier handelt es sich doch wohl weniger um gegenteilige Standpunkte unsererseits, sondern um graduelle Abstufungen: Oben habe ich nichts anderes behauptet, als dass die 13. Symphonie auf (mindestens) zwei historischen Ebenen erinnert und anklagt: Über den skandalösen offiziellen sowjetischen Umgang mit dem Ereignis wird auf das deutsche Massaker selbst zurückverwiesen. Eine Gewichtung der Ebenen ist auch immer eine Frage der jeweiligen Rezeptionshaltung.


    Viele Grüße


    Bernd

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  • Hallo Bernd, jetzt landen wir im Jüdische-Musik-Thread bei Schostakowitsch, und ich sehe schon die dunklen Wolken um Alfreds Gesicht kreisen, mit denen er auf OT zu reagieren pflegt.


    Andererseits antworte ich lieber hier, sonst kennt sich keiner mehr aus, was wohin geführt hat. Also kurz OT.


    Zitat

    hier stellen sich grundsätzliche methodische Fragen: Wie ist die o.g. Äußerung Schostakowitschs quellenkritisch einzuordnen? Von wann stammt sie? (Der Schostakowitsch von 1944 ist ein anderer als der von 1965 oder 1970.) Wie gut ist die Äußerung belegt? Vermutlich stammt sie doch aus den Volkov-"Memoiren", über die aus quellenkritischer Sicht nun wirklich noch nicht das letzte Wort gesprochen ist - auch wenn Du da vermutlich widersprechen wirst (vgl. aber Dorothea Redepenning: Ärgernisse, Abgründe, Absurditäten. Fragwürdige Bücher zu Schostakowitsch, in: Dmitrij Schostakowitsch: Grauen und Grandezza des 20. Jahrhunderts [Themenheft der Zeitschrift "Osteuropa", 8/2006], Berlin 2006).


    Ich bin bei Wolkow durchaus skeptisch. Ich glaube, ich habe meine Bedenken bereits in einem Schostakowitsch-Thread ausgeführt. Andererseits glaube ich nicht, daß Wolkow ein Schostakowitsch-Bild zusammengelogen hat, das mit der Realität überhaupt nicht übereinstimmt. Auch Maxim Schostakowitsch war zuerst absolut gegen Wolkow, nennt ihn aber später als zuverlässig.


    Meiner Meinung nach ist Wolkow weder so zuverlässig, wie er von Schostakowitsch-Hagiographen dargestellt wird, noch ganz so unzuverlässig, wie es etwa auch D. Redepenning behauptet. Die Wahrheit wird, wie meist, etwa in der Mitte liegen.


    Tatsache ist aber, daß jeder Russe zumindest der Generation, die es miterlebt hat, weiß, was Stalins Lieblingsbühnenwerk war. Es war "Die lustige Witwe". Was erklingt bekanntlich im Kopfsatz der Siebenten als Motiv für das Grauen?


    Nun wissen wir, daß auch Hitlers Lieblingsoperette der Lehár-Schmachtfetzen war. Aber Schostakowitsch schrieb für russische Hörer. Also Frage: Wußten die Russen damals, was die Hitler'sche Lieblingsoperette war? Hätte sich Schostakowitsch auf die Anspielung wirklich verlassen können, wenn diese gemeint war? Warum nahm er nicht das Horst-Wessel-Lied oder ein anderes Partei-Gesinge?


    Eine musikalisch nicht sonderlich interessierte russische Freundin von mir (30 Jahre alt) hört ab und zu Operetten. Einmal spielte man im Radio das "Maxim". Sie verzog das Gesicht und sagte: "Aha, das Stalin-Lied". Ihr Vater habe diese Nummer so genannt, ihr Großvater auch (beide übrigens ebenfalls nicht sehr Klassik-begeistert). Vielleicht nicht als allgemeingültig einzustufen, für mich aber ein interessanter Hinweis im Zusammenhang.


    :hello:

    ...

  • Hallo Austria,


    du fragtest, ob wir andere Werke kennen. Kennen ist zu viel gesagt, ich habe die CD gestern erst gekauft.
    Ich hätte auch nicht gewußt, dass es sich bei dem Violinkonzert Nr. 1 g - Moll von Max Bruch um ein Werk handelt, das jüdische Volksmusik zur Grundlage hat, wenn Wolkenstein es nicht in seinem Beitrag geschrieben hätte.


    Was ich bis jetzt gehört habe, gefällt mir gut. Zum Teil melancholisch, tiefsinnig berührend.



    Bruch, Lalo, Vieuxtemps


    Violinkonzerte


    Vielleicht ist diese CD für dich interessant.


    LG


    Maggie

  • Hallo Edwin,


    Deine ausgewogene Einschätzung Volkovs ist mir sehr sympathisch (wobei ich wirklich kein Experte in diesen Dingen bin, sondern nur hier und dort mal reingelesen habe).


    Ansonsten hast Du mit dem OT natürlich recht - Austrias Thread sollte nicht zerschossen werden.


    Viele Grüße


    Bernd

  • @Edwin und Bernd


    Ihr zerschießt nichts - ich folge Eurem Gespräch mit großem Interesse (habe Schostakowitschs Biographie von Wolkow gelesen).


    Maggie und Klawirr und alle anderen


    Auch Euch ein Dankeschön,


    :hello:


    Austria

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)

  • Hallo Bernd, hallo Edwin,


    ich habe die 13. Sinfonie von Shostakovich immer als Anklage gegen den Antisemitsimus per se verstanden, deutlich gemacht an zwei gravierenden Beispielen des vergangenen Jahrhunderts. Liege ich damit eventuell falsch?

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  • Zitat

    Original von Maggie
    .....
    .....
    Ich hätte auch nicht gewußt, dass es sich bei dem Violinkonzert Nr. 1 g - Moll von Max Bruch um ein Werk handelt, das jüdische Volksmusik zur Grundlage hat, wenn Wolkenstein es nicht in seinem Beitrag geschrieben hätte.


    Was ich bis jetzt gehört habe, gefällt mir gut. Zum Teil melancholisch, tiefsinnig berührend.


    Ich sollte meine Aussagen etwas präziser formulieren,
    ich bin mir nämlich gar nicht sicher, ob Bruch oder Mendelssohn
    beim komponieren der o. g. Werke traditionelle jüdische Weisen
    im Kopf hatten, bloß stellt sich beim zuhören unweigerlich das
    Gefühl ein, das ich auch von einigen melancholischen jiddischen Liedern
    und traurigen Klesmerweisen kenne.
    Das e-moll Violinkonzert von Mendelssohn
    ist diesbezüglich eine Offenbarung.


    Desweiteren kann ich empfehlen das 3-CD Set

    "Forbidden, not forgotten"
    Surpressed Music from 1938-1945
    mit Werken von Gideon Klein,
    Viktor Ullmann, Pavel Haas, Hans Krasa,
    Karl Amadeus Hartmann.


    Ich besitze diese Box seit ca. 8 Jahren, aber man kann sie
    immer noch (recht preiswert) bei amazon.de erwerben.


    Die CD # 1 enthält z. B.
    die Sonate # 7 für Klavier /Schlussatz - Variation und
    Fuge über ein hebräisches Volkslied/
    und "Drei hebräische Knabenhöre" von
    Viktor Ullmann.


  • Hallo Alviano,
    nein, genau so ist es. Das (grandiose) Gedicht handelt ja den Antisemitismus in seiner ganzen Abscheulichkeit ab und setzt als Eckpunkte Sowjetunion - Hitler-Deutschland. Gerade diese Eckpunkte dürften die Zensurbeamten in Rage gebracht haben, weil solche Parallelen in der Sowjetunion denkunmöglich zu sein hatten.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    ob Bruch oder Mendelssohn


    Ein absolut sicherer Kandidat für jüdische Einflüsse in Bruchs Schaffen ist natürlich das bekannte "Kol Nidrei" op.47 für Cello und Orchester.
    Jüdische Volksmusik in den Violinkonzerten von Mendelssohn und Bruch ist mir bisher entgangen.
    Gruß,
    Michael

  • Zitat

    Original von Michael Schlechtriem
    Jüdische Volksmusik in den Violinkonzerten von Mendelssohn und Bruch ist mir bisher entgangen.
    Gruß,
    Michael



    Bruch habe ich ewig nicht mehr gehört; aber für Mendelssohns Violinkonzert würde ich ebenso wie Michael eine Rezeption jüdischer Volksmusik ausschließen. Zwar gibt es in den späteren Werken Mendelssohns ("Elias" oder Psalmvertonungen) durchaus eine Hinwendung zu jüdischen Themen, aber eben nur inhaltlich, nicht im musikalischen Tonfall. Ich lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen.


    Viele Grüße


    Bernd

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  • Zitat

    Michael Schlechtriem: Ein absolut sicherer Kandidat für jüdische Einflüsse in Bruchs Schaffen ist natürlich das bekannte "Kol Nidrei" op.47 für Cello und Orchester.


    ... und natürlich das grandiose "Schelomo" von Bloch für Cello und (Riesen)orchester. Unbedingt empfehlenswert.

  • Wobei der späte Bloch ja überhaupt versucht haben soll, eine Art "jüdische Musik" zu schreiben; also Jüdisches auch in solche Musik einfließen zu lassen, die sich nicht mit dem Judentum auseinandersetzt (so, wie sich auch Debussys "La mer" nicht mit dem Franzosentum auseinandersetzt, aber eindeutig französische Musik ist).
    Allerdings finde ich die späten Werke Blochs etwas plakativ.


    Wunderbare jüdische Musik hat, fällt mir eben ein, auch Darius Milhaud komponiert. Etwa einen herrlichen Sabbat-Gottesdienst. Bei ihm fließt vor allem in den späteren Werken immer wieder jüdisches Gedankengut mit ein - der Klang bleibt natürlich typisch Milhaud.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Allerdings finde ich die späten Werke Blochs etwas plakativ.


    Hallo Edwin,
    dazu gehört, so denke ich, das "Concerto Symphonique" für Klavier und Orchester.
    Das ist beileibe keine schlechte Musik, aber für meinen Geschmack ein wenig :D zu bombastisch.


    Allerdings gibt es noch früheren Bloch, der m.e. bemerkenswert ist:
    Dazu gehört unbedingt die "Israel" Sinfonie von 1916.
    Ich bezweifle leider sehr, daß diese für mich sehr überzeugende Sinfonie im Moment auf CD erhältlich ist.
    Schade. :(


    Aber auch sein zweites Werk für Cello und Orchester "Voice in the Wilderness" von 1936 braucht sich hinter "Schelomo" nicht unbedingt zu verstecken.
    Dann gibt es noch "Baal Schem" für Violine und Klavier (später auch Orchester) sowie "Avodath Hakodesch" für Bariton, Chor und Orchester.


    Bei Blochs späten Werken nach dem zweiten Weltkrieg gibt es allerdings auch eine neoklassizistische Tendenz, wie in seinen Concerti Grossi.
    Hallo Flotan,

    Zitat

    ... und natürlich das grandiose "Schelomo" von Bloch für Cello und (Riesen)orchester. Unbedingt empfehlenswert


    ganz klar!
    Wer macht mal einen schönen Ernest Bloch Thread auf?
    Verdient hat dieser Komponist diesen sicherlich!


    LG,
    Michael

  • Zitat

    Original von Michael Schlechtriem
    Allerdings gibt es noch früheren Bloch, der m.e. bemerkenswert ist:
    Dazu gehört unbedingt die "Israel" Sinfonie von 1916.


    Da muß ich automatisch an die Asrael-Sinfonie von Josef Suk denken.
    Ich fürchte allerdings, daß dieses grandiose, als Requiem für Antonin Dvorak konzipierte Werk abgesehen vom Namen (Asrael bedeutet Engel des Todes) nichts mit Judentum zu tun hat. Weiß jemand genaueres?


    Khampan

  • Hallo Khampan,

    Zitat

    als Requiem für Antonin Dvorak konzipierte Werk


    soweit ich mich erinnere, ist diese Geschichte noch weitaus furchtbarer für den armen Suk gewesen.
    Soweit ich mich erinnere,ist Suks Ehefrau, die Tochter von Dvorak, damals auch innerhalb eines Jahres gestorben und Suk hat dann diese Sinfonie gleich auch zu ihrem Andenken komponieren müssen.
    Asrael ist tatsächlich der Todesengel und hat mit der "Israel"- Sinfonie von Bloch überhaupt nichts gemeinsames.
    LG,
    Michael

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