Hallo,
in diesem Zusammenhang kann ich ein sehr interessantes, sehr streitbares, aber auch sehr anspruchsvolles Buch empfehlen:
Gunther Schuller, "The Compleat Conductor", Oxford University Press 1998, 592 Seiten (ca. 26 Euro)
Gunther Schuller dürfte wohl einer der kompetentesten Autoren zu diesem Thema sein. Er begann als Hornist (u.a. bei den NY Philharmonikern), wurde dann Dirigent und sehr erfolgreicher Komponist und Lehrer (Artistic Director beim Berkshire Music Center in Tanglewood und Präsident des New England Conservatory of Music). In diesem Buch hat er sich der überaus großen Mühe unterzogen, Hunderte von Aufnahmen großer und weniger großer Dirigenten des 20. Jahrhunderts abzuhören und diese mit der gedruckten Partitur zu vergleichen (Beethovens 5te und 7te, Brahms 1te und 4te, Straussens Till, Ravels 2te Daphnis-Suite, Schumann 2te, Tschaikowsky 6te). Dabei stellte er zu seinem nicht geringen Entsetzen fest, daß gravierende, willkürliche Abweichungen von Notentext nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel darstellen, oft, wie er meint, in geradezu entstellender und dem Komponistenwillen zuwiderlaufender Weise. Dutzenden gedruckter Partiturbeispiele stellt er das gegenüber, was er in den Aufnahmen gehört hat und zieht insgesamt eine ziemlich verheerende Bilanz.
Zuvor stellt er aber, wie es sich für einen seriösen Kritiker gehört, seine Kriterien in einer "Philosophie des Dirigierens" vor, wo er sich als Anhänger einer eher objektivistischen Partiturauslegung à la Toscanini, Kleiber, Weingartner oder Busch zu erkennen gibt. Dabei erweist er sich aber nicht als dogmatischer Theoretiker, sondern als kluger und kenntnisreicher Verfechter der Rolle des Dirigenten als "Anwalt des Komponistenwillens". Selbst bei einer möglichst genauern Umsetzung des Notentextes, so Schuller, bliebe dem Dirigenten noch genug großer Freiraum für eine individuelle Interpretation.
Schuller hat übrigens zur Verdeutlichung seines Ansatzes Beethovens 5te und Brahms 1te auf CD aufgenommen. Ich würde diese Aufnahmen zwar nicht als meine bevorzugten dieser beiden Werke bezeichnen, aber sie unterscheiden sich im orchestralen Detail teilweise recht deutlich von den Interpretationen aller anderen Dirigenten, die ich kenne.
Grüße
GiselherHH


