Der Wille des Komponisten - Dogma oder Empfehlung ?

  • Hallo,


    in diesem Zusammenhang kann ich ein sehr interessantes, sehr streitbares, aber auch sehr anspruchsvolles Buch empfehlen:


    Gunther Schuller, "The Compleat Conductor", Oxford University Press 1998, 592 Seiten (ca. 26 Euro)


    Gunther Schuller dürfte wohl einer der kompetentesten Autoren zu diesem Thema sein. Er begann als Hornist (u.a. bei den NY Philharmonikern), wurde dann Dirigent und sehr erfolgreicher Komponist und Lehrer (Artistic Director beim Berkshire Music Center in Tanglewood und Präsident des New England Conservatory of Music). In diesem Buch hat er sich der überaus großen Mühe unterzogen, Hunderte von Aufnahmen großer und weniger großer Dirigenten des 20. Jahrhunderts abzuhören und diese mit der gedruckten Partitur zu vergleichen (Beethovens 5te und 7te, Brahms 1te und 4te, Straussens Till, Ravels 2te Daphnis-Suite, Schumann 2te, Tschaikowsky 6te). Dabei stellte er zu seinem nicht geringen Entsetzen fest, daß gravierende, willkürliche Abweichungen von Notentext nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel darstellen, oft, wie er meint, in geradezu entstellender und dem Komponistenwillen zuwiderlaufender Weise. Dutzenden gedruckter Partiturbeispiele stellt er das gegenüber, was er in den Aufnahmen gehört hat und zieht insgesamt eine ziemlich verheerende Bilanz.


    Zuvor stellt er aber, wie es sich für einen seriösen Kritiker gehört, seine Kriterien in einer "Philosophie des Dirigierens" vor, wo er sich als Anhänger einer eher objektivistischen Partiturauslegung à la Toscanini, Kleiber, Weingartner oder Busch zu erkennen gibt. Dabei erweist er sich aber nicht als dogmatischer Theoretiker, sondern als kluger und kenntnisreicher Verfechter der Rolle des Dirigenten als "Anwalt des Komponistenwillens". Selbst bei einer möglichst genauern Umsetzung des Notentextes, so Schuller, bliebe dem Dirigenten noch genug großer Freiraum für eine individuelle Interpretation.


    Schuller hat übrigens zur Verdeutlichung seines Ansatzes Beethovens 5te und Brahms 1te auf CD aufgenommen. Ich würde diese Aufnahmen zwar nicht als meine bevorzugten dieser beiden Werke bezeichnen, aber sie unterscheiden sich im orchestralen Detail teilweise recht deutlich von den Interpretationen aller anderen Dirigenten, die ich kenne.



    Grüße


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Tag,


    dabei fällt mir ein, es kommt darauf an, welcher Art von Musikästhetik einer anhängt: der traditionellen Produktionsästhetik oder der modernen Rezeptionsästhetik.


    Illustrationen: Produktionsäthetik = Beethoven wütend zu Primgeiger Schuppanzigh, der sich über die Unspielbarkeit einer Quartettpassage beklagt: "Was geht mich seine elende Geige an, wenn der Geist zu mir spricht!", so (fast wörtlich) die Überlieferung.
    Rezeptionsästhetik = Rubinstein zu Bert Whyte, im Studio nach der Aufnahme und dem sorgfältigen Editieren: "You know, I would like to play as good as this guy!" Dazu Bert Whyte, zur Rolle des Mastering: "That's it."
    Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik in Karambolage = Otto Klemperer dirigiert an der Budapester Oper Wagner, der Heldentenor singt schrecklich, das Publikum aber jubelt dem Tenor nach der Arie zu, endlos, Klemperer will fortsetzen, das Publikum setzt sich lautstark durch, Klemperer dreht sich um und brüllt zurück: "Frechheit!"


    Es ist vielleicht, wohl schon, eine Generationenfrage, welcher Spielart von Ästhetik man den Vorzug gibt. Soziologisch ist die Angelegenheit auf jeden Fall: Die Inhaber allerhöchsten Ruhmes pochen auf die Freiheit des Schöpferischen in ihrem Nachschöpferischen, Produktionsästheten im Selbst-Urteil. Darin gestützt von der traditionell orientierten Musikästhetik, die bei der Absicht des Komponisten als Einschätzungs- und Urteilbasis ansetzt. Danach wäre die Version, die eine Aufführung der Italienischen Sinfonie (4. Sinfonie, Mendelssohn-Bartholdy) zu einer Aggressionsstudie geraten läßt (Colin Davis, Dirigent), ein Fehlgriff = falsch.


    Der Anhänger einer durch die Eigensinnigkeit der Moderne geschulten Rezeptionsästhetik, eingetaucht in Beschleunigung und Erregung an jedem Ort des alltäglichen Lebens, dazu die Schnitttechnik von Film und Fernsehen gewohnt, der hätte darin nichts als Normalität. Normalität = Variation von Laut-Leise, Langsam-Schnell, mehr hat der Dirigent, der Solist ja überhaupt nicht.


    MfG
    Albus

  • Salut Ulli


    Zitat

    der AUFSCHREI kommt JETZT !!!! Bei Mozart gibt es nichts zu verbessern! Wer es nicht so spielen und 'rüberbringen kann, wie es in den Noten steht, sollte es lassen...


    Grundsätzlich gebe ich dir Recht: der Interpret sollte eine Komposition so realisieren, dass sie möglichst eng dem Willen des Komponisten, den er aus dem Notentext herauslesen kann, entspricht.
    Jetzt ist es aber so, dass dies oft leichter gesagt als getan ist. In unserem Beispiel: was könnte Thomas Beecham dazu bewogen haben, eine Mozartsymphonie zu "verbessern"? Nun, Mozart hat seine Kompositionen so angelegt, dass sie zu seiner Zeit mit den damals vorhandenen Orchestern in den damals zumeist verwendeten Säälen ein gewisses klangliches Ergebnis brachten. Beginnend Mitte des 19. Jahrhunderts setzt aber eine Entwicklung ein, die heute noch nicht ganz abgeschlossen ist. Zuerst kommen echte Konzertsääle, die im Laufe der Zeit immer größer werden, und dann folgt das Wachstum der Orchester (ok, dieses Wachstum dürfte nach dem Tod von Strauss abgeschlossen sein). Wie Mozart eine eigene Symphonie gehört hat, hat nichts mit dem zu tun, wie das gleiche Werk heute mit einem Riesenorchester in einem großen und akustisch guten Raum erklingt. Nicht nur, dass das Klangbild grundsätzlich ein anderes ist, durch die größere Besetzung ergeben sich Änderungen in den klanglichen Proportionen. Das lässt sich sehr leicht in einem direkten Vergleich feststellen. Und wenn ein durchaus nicht leichtfertiger Musiker wie Beecham Eingriffe in die Partitur unternimmt, um gerade die ursprünglichen, von Mozart beabsichtigten klanglichen Proportionen unter geänderten akustischen Voraussetzungen wieder herzustellen, dann sollte man eher interessiert den "Erfolg" dieser Bemühungen untersuchen, als diese Eingriffe von Vornherein kategorisch abzulehnen.


    Es ist dies ja letztlich wieder das Problem mit der Definition des "Originalklangs". Eine frühe Mozartsymphonie mit Originalbesetzung und alten Instrumenten in einem Saal aufzuführen, wo vielleicht 1500 Zuhörer Platz finden, ist in Wirklichkeit viel verfälschender als ein Aufführung mit einem zum Saal "passenden" Orchester. In einem modernen Saal können 20 Musiker niemals den Effekt erzielen, wie sie es damals in den kleinen Prunksäälen schafften. Das Dilemma lässt sich eigentlich nur in den eigenen vier Wänden auflösen. Zu Hause vor der Stereoanlage kann man die Originalklang-Ensembles recht gut genießen, in Natura müsste man sie eben auch in den kleinen und passenden Säälen hören, was aber nicht einfach ist.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Erna


    Zitat

    Meiner Meinung nach ist der Interpret aber bei der Interpretation eines Musikstückes in gewisser Weise, wenn auch nur zu einem ganz geringen Prozentsatz, im Moment des Spielens irgendwie Mitschöpfer, weil ich glaube, dass die Komposition beim Spielen jedesmal neu entsteht. Das werden vor allem Komponisten natürlich nicht gerne hören,...


    Warum nicht? Mahler fordert es sogar explizit von seinen Interpreten (bei Bruno Walter nachzulesen). Komponisten werden auch in diesem Punkt so sein, wie Menschen generell: unterschiedlich.
    Der eine will eine möglichst exakte Reproduktion dessen, was er sich gedacht hat, ungeachtet der Tatsache, dass eine Notation immer ungenau sein muss, und das andere Extrem ist der Komponist, der einfach nur aufgeführt werden will und überhaupt keine Ansprüche an die Realisierung stellt (bekannter Ausspruch von Federico Mompou).
    Wenn sich also ein Interpret über die werkgetreue Realisierung Gedanken macht, sollte er vielleicht nachschlagen, wie denn der Komponist selber darüber gedacht hat. Er könnte sich damit unter Umständen einige Arbeit ersparen...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Ja, aber genau dieser Gustav Mahler ist auch der Komponist, der mit die detailliertesten Angaben überhaupt in seine Partituren schreibt. So finden sich Schlaghinweise für den Dirigenten, Artikulationen, Lautstärkeangaben bei fast jeder Note, Metronomzahlen usw.


    Auch ein Hinweise wie: Falls der Bassposaunist diese Note nicht in ppp hervorbringt, ist diese vom Kontrafagottisten zu übernehmen (genauer Wortlaut ist mir grad nicht geläufig, aber so ähnlich) und ähnliche genaue Ausführungen lassen bei Mahler nicht gerade riesigen Spielraum für den Interpreten.


    Gruß, flo

    "Das Leben ist zu kurz für schlechte Musik"


    Wise Guys 2000

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  • Salut Thomas,


    die Frage, die sich stellt, ist die, inwieweit solche Eingriffe der Interpreten gehen „dürfen“. Wenn Du von „kompositiorischen Eingriffen“ sprichst, so werde ich dies in der Tat strikt ablehnen. Was die Besetzungsstärke betrifft, so sind die Türen relativ weit geöffnet, sofern es sich um Orchesterwerke handelt. Mozart schreibt ja bekanntlich im Streicherbereich nicht die Anzahl der Spielenden Formationsteilnehmer auf. Dies geschieht nur bei den Bläsern, woraus man im Sinne einer gewissen Ausgewogenheit im Umkehrschluss auf die Stärke der Archi schließen kann oder können sollte. Hinzu kommt noch die Klangintensität der jeweiligen Instrumente zum Zeitpunkt des Entstehens des Werkes. Zu Mozarts Zeiten wurden beispielsweise bei „Monsterbesetzungen“ im Streicherbereich, die relativ selten waren, die Bläser verstärkt, also verdoppelt, d.h. z.B. zwei erste Flöte, zwei zweite, zwei erste Oboen usf. Heute würde man so etwas sicherlich bewusst nicht mehr machen, denn die Gefahr ist zu groß, dass die doppelt Besetzten Stimmen „auseinandergehen“, zudem ist es nicht mehr notwendig, da die betreffenden Instrumente lauter geworden sind. Dazu könnte man den bekannten Spruch zweckentfremden: Was ist schlimmer als eine Flöte? Zwei Flöten… Das soll kein Angriff gegen Flötisten sein, es ist einfach ein notwendiges Übel. Weiterhin wurden im 18. Jahrhundert bei Solokonzerten, während das [schwache] Soloinstrument spielte, die begleitenden Instrumente – insbesondere die Streicher – zurückgenommen, z. B. also Halbiert. Gegen Eingriffe dieser Art ist demzufolge nichts einzuwenden. Heute allerdings sind die „Holz“-Bläser in aller Regel lauter, als damals, weshalb dies nicht mehr funktioniert und weshalb ich eben wegen der Klangausgewogenheit auf die Benutzung „alter Instrumente“ schwöre. Bei den Neuen geht mir ein wenig Flair [bei Musik des 18. Jahrhunderts] verloren, das aber ist ein anderes Thema.


    Dann sprichst Du von riesigen Konzertsälen [man schreibt es mit einem ä, obwohl es keinen Sinn macht – den „Fehler“ hatte ich aber auch bereits mehrfach] und großen Orchestern. Mir stellt sich die Frage, ob ein Mozart z.B. mit einem solch großen Klangkörper überhaupt gespielt werden sollte. Natürlich spricht Mozart selbst in seinen kühnsten Träumen von 40 ersten Geigen, es hat aber niemals stattgefunden. Sicherlich hätte Mozart hier anders komponiert. Beethoven ist da das bessere Beispiel für derart gestaltete Besetzungen. Mir persönlich gefällt Mozart im kleinen Rahmen, mit kleinem Ensemble und einer handvoll Gästen. Zudem würde diese Art der Umsetzung, die ja glücklicher Weise auch stattfindet, die Anzahl der Konzerte und deren Intensität absolut in die Höhe treiben, was ja keinesfalls Schaden anrichtet. Es ist die Kategorie "persönlich" und „Warmumsherz“. Dieses Feeling geht mir bei Großveranstaltungen absolut abhanden, was ich sehr schade finde. Einen Bach z.B. würde man doch niemals in einer solchen großen Wagner- oder Mahlerbesetzung spielen? Was bräuchte man allein für einen Chor? Und dann kommt die Frage auf, klingt das Ganze noch? Es ist ähnlich einer Rezeptur für zwei Personen. Eine so abgestimmte Rezeptur für zwei Personen willst Du nun umsetzen auf 20 Personen, also multipliziert man alle Zutaten mit 10 und ist fertig. Leider schmeckt es dann nicht… natürlich gibt es Mittel und Wege, die zu einem Gelingen beitragen [müssen], aber im Endergebnis erhält dennoch jeder Geniesser seine eigene kleine Portion, die tatsächlich schmeckt. Das ist bei der Musik m.E. nach anders, die „Größe“ bleibt und kommt bei jedem Empfänger an…


    bien cordialement
    Ulli

    You might very well think that. I couldn't possibly comment.“ (Francis Urquhart)

  • Zitat

    Original von Theophilus
    Hallo Erna



    Warum nicht? Mahler fordert es sogar explizit von seinen Interpreten (bei Bruno Walter nachzulesen). Komponisten werden auch in diesem Punkt so sein, wie Menschen generell: unterschiedlich.
    Der eine will eine möglichst exakte Reproduktion dessen, was er sich gedacht hat, ungeachtet der Tatsache, dass eine Notation immer ungenau sein muss, und das andere Extrem ist der Komponist, der einfach nur aufgeführt werden will und überhaupt keine Ansprüche an die Realisierung stellt (bekannter Ausspruch von Federico Mompou).
    Wenn sich also ein Interpret über die werkgetreue Realisierung Gedanken macht, sollte er vielleicht nachschlagen, wie denn der Komponist selber darüber gedacht hat. Er könnte sich damit unter Umständen einige Arbeit ersparen...


    Salut,


    gerade bei Mahler ergibt sich [evtl. von der ersten und zweiten Sinfonie einmal abgesehen] durch die Besetzung und die Komposition der Musik selbst ein Kosmos in der Form, dass myriaden kleinster Teilchen willenlos und ganz willkürlich umherschwirren und dennoch eine gemeinsame Richtung finden, die sich erkennen oder auch bestimmen lässt. Mahler hat bekanntlich unendlich viele Anweisungen gegeben, gar dirigentische [was in dieser Zeit neu ist und auch Sinn macht]. Selbst wenn 1.791 verschiedene Orchester nebst 1.791 verschiedenen sehr guten, sich mit Mahler auskennenden, Dirigenten das Werk absolut textgetreu wiedergeben, wird man [automatisch] mindestens 1.756 unterschiedliche Interpretationen hören. Ich glaube, das meinte Mahler damit...


    bien cordialement
    Ulli

    You might very well think that. I couldn't possibly comment.“ (Francis Urquhart)

  • Hallo Giselher


    Zitat

    Dabei stellte er zu seinem nicht geringen Entsetzen fest, daß gravierende, willkürliche Abweichungen von Notentext nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel darstellen, oft, wie er meint, in geradezu entstellender und dem Komponistenwillen zuwiderlaufender Weise. Dutzenden gedruckter Partiturbeispiele stellt er das gegenüber, was er in den Aufnahmen gehört hat und zieht insgesamt eine ziemlich verheerende Bilanz.


    Klingt interessant. Konnte Schuller in diesem Buch auf die Problematik eingehen, dass die fehlerhaften Beispiele wahrscheinlich in der Mehrheit der Fälle nicht von den Interpreten sondern vom verwendeten, fehlerhaften Notenmaterial verursacht wurden?

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo flo,


    Zitat

    Ja, aber genau dieser Gustav Mahler ist auch der Komponist, der mit die detailliertesten Angaben überhaupt in seine Partituren schreibt. So finden sich Schlaghinweise für den Dirigenten, Artikulationen, Lautstärkeangaben bei fast jeder Note, Metronomzahlen usw.


    Mahler hatte eben genaue Vorstellungen, wie seine Partituren handwerklich realisiert werden sollen. Aber die technische Realisierung ist eben noch keine Interpretation. Das genau wird Mahler meinen, wenn er fordert (oder zumindest wünscht), dass idealerweise das Werk im Augenblick der Interpretation neu geschaffen werden soll...


    Ach ja, selbst die so genauen Angaben in den Partituren haben keineswegs zu irgendeinem einheitlichen Stil in der Mahlerinterpretation geführt. ;)

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Hallo Theophilus,


    Schuller geht - gerade bei Beethoven - auf die unterschiedlichsten, zu Zeiten der Aufnahmen verfügbaren Editionen ein (und schaut sich natürlich auch die Original-Partituren hinsichtlich des vom Komponisten Gewollten an). Aber die Abweichungen der unterschiedlichen Interpretationen gehen über mögliche Editions-Fehler weit hinaus (dann müßten sich ja auch die Abweichungen weitestgehend ähneln). Schuller macht sich die Mühe, die Interpretationen der jeweiligen Dirigenten in Notation zu übertragen und sie dann mit den Partituren (bzw. ihren unterschiedlichen Editionen) zu vergleichen. Er analysiert Temporelationen, Balancen der Orchestergruppen zueinander etc. pp. Ähnlich große Abweichungen vom Partiturtext stellt Schuller aber auch bei Komponisten fest, die nicht in demselben Maße wie Beethoven von Editionsfehlern betroffen sind, etwa bei Strauss oder Ravel. Mit größerer Nähe zur Moderne nach 1945 verschwinden nach Beobachtung des Autors interessanterweise die Abweichungen vom Notentext immer mehr. Schuller vermutet, daß zum einen die Moderne von Stardirigenten mit dem Hang zur Egomanie gemieden wird (weil sie dort aus ihrer Sicht nicht "glänzen" können) und daß zum anderen keine vergleichbare Aufführungs- und Lehrtradition besteht, in deren vermeintlich sicherem Fahrwasser sich die Dirigenten bewegen könnten.


    Für mich als Laie in Partiturdingen ist das alles ziemlich schwer zu durchdringen (daher waren seine den Analysen vorausgehenden Aufsätze über die Geschichte und die Philosophie des Dirigierens für mich am interessantesten). Für jemanden, der sich in solchen Dingen gut auskennt, dürften sich insbesondere die Analysen als wahre Fundgrube erweisen, insbesondere für angehende Dirigenten.


    Zu dem von Ulli oben angesprochenen Problem der Klangbalance der einzelnen Orchestergruppen bei der Aufführung von Musik der Vergangenheit habe ich eine interessante Textstelle gefunden (S. 130, Fußnote 20):


    "It is a sad fact that more often than not, when dynamic imbalances occur, the automatic solution is presumed to be that the ´weaker´instruments simply play louder. It seems rarely to occur to anyone that perhaps the ´louder´instruments should play softer! This kind of misguided thinking seems also to be behind the widespread penchant for doubling instruments, especially the woodwinds, in classical symphonies. Instead of the brass playing loud and the conductors using large (or augmenting their) string sections as well as doubling the woodwinds, might it not be better to scale down the resultant inordinate volume levels by reducing of the brass and timpani, maintaining the woodwinds at their normal size and dynamic levels, and keeping the string sections at a size more common in Beethoven´s time? It should be remembered that in addition to their pitch limitations, the trumpets of Beethoven´s day produced an intrinsically softer, mellower, less projecting sound than the trumpets of today. They blended much more readily into the over-all texture. Similarly, the calfskin heads of classical timpani did not have the brilliance and impact of today´s plastic heads, and therefore were not as obtrusive as they tend to be nowadays in classical symphonies. Such approaches would, by the way, come very close to ´period authenticity´ without the necessity of resorting to actual period instruments.


    The most grievous example of distorting Beethoven´s music by way of uncalled for doublings and enlargement of orchestral forces that I ever had the displeasure to hear, occurred some years ago when Karajan visited Boston with the Berlin Philharmonic, performing the ´Eroica´in that city´s wonderfully responsive and sensitive Symphony Hall acoustics, using six trumpets, eight horns, enormous numbers of woodwinds, and, of course, the Philharmonic´s entire string section (18-16-14-12-10). It was a truly painful and revolting aural experience! (Karajan also recorded Mussorgsky´s ´Pictures at an Exhibition´with twelve trumpets, ten trombones and eight horns!)."


    Grüße


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

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  • Hallo Giselher,


    vielen Dank für deine Ausführungen. Der erste Teil des Zitats spricht explizit das grundlegende Problem an: wie reagiert man angemessen auf die Tatsache, dass man im Schnitt in wesentlich größeren Sälen spielt und daher einfach lauter spielen muss. Man hat sowohl die Besetzungen vergrößert als auch die Instrumente modifiziert. Beide Strategien haben ihre Problematiken.
    Der zweite Teil des Zitats entbehrt nicht einer gewissen Komik. Sie zeigt wohl einen Gipfelpunkt der Entwicklung "Viel ist gut, mehr ist besser!". Die Besetzung ist wohl für Bruckner/Mahler/Strauss ausreichend. Man sollte aber auch die äußeren Umstände nicht vergessen. Eine Amerika-Tournee der Berliner Philharmoniker war natürlich vor allem eine Demonstration des Klangkörpers. Da wurde geklotzt und nicht gekleckert, auch wenn es bei Beethoven ganz sicher zuviel des Guten war. Auch hatte man sicher keine (Proben-)Zeit, sich besetzungsmäßig auf die unterschiedlichen Konzertsäle einzustellen. Und Boston ist nun einmal ein Ausnahmesaal in den Staaten.
    Aber 10 Kontrabässe müssen wirklich eine gewaltige Macht darstellen. Meiner Erinnerung nach bin ich in Natura nie über acht hinausgekommen...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Der Wille des Komponisten ist auf alle Fälle kein Dogma. Es gibt die Anekdote von Isaac Albéniz, der nach dem Hören einer Bearbeitung eines seiner Klavierwerke für Gitarre gesagt haben soll: "Wenn ich gewusst hätte, dass es so gut klingt, hätte ich es gleich für Gitarre komponiert!" Und ich glaube, ich habe von einem anderen Komponisten auch schon einmal eine ähnliche Geschichte gehört.
    Der Wille des Komponisten ist aber auch nicht nur reine Empfehlung. Man sollte seine Intentionen berücksichtigen und darauf seine Interpretation gründen.


    Sich exakt an angegebene Metronomzahlen zu halten, finde ich absurd. Deshalb finde ich es auch besser, erst gar keine Metronomzahl anzugeben, sondern eher den Charakter des Stückes zu umreißen. Allegro, Andante etc. sind ja im Prinzip nichts anderes als Charakterbezeichnungen. Wenn ich als Komponist "Andante" über ein Stück schreibe, dann will ich damit ausdrücken, dass es flüssig, stringent und ohne zu stocken gespielt werden soll. Das kann bei verschiedenen Interpreten aber ein völlig verschiedenes Tempo sein - eben so, dass die Musik und ihr Spannungsbogen nicht abreißen.


    Das Schubert-Sanctus aus seiner Deutschen Messe... Was war da der Wille des Komponisten? Ich habe zwar das Manuskript noch nie gesehen, aber es erscheint mir unmöglich, dass Schubert es so langsam komponiert haben kann, wie es oft gesungen wird: Die Noten werden so lange ausgehalten, dass es unmöglich ist, eine Melodie im Gelujer erkennen zu können!
    Dabei ist es nach meinem Empfinden ein nicht zu langsamer Walzer. Ich würde sagen: Metronomzahl ca. 100, eher mehr als weniger. Ein ordentliches Andante halt. Erlebt habe ich aber schon öfters weniger als 50!

  • Salut, lieber Philhellene,


    Du widersprichts Dir im letzten Satz selbst, wenn Du zunächst behauptest - was weitestgehend richtig ist - dass eine Satzbezeichnung primär den Charakter vorgibt. Bei Mozart hingegen ist die Satzbezeichnung durchaus als Tempo zu betrachten, dies in Kombination mit metrischen Angaben wie 12/8 oder C...


    Liebe Grüße
    Ulli

    You might very well think that. I couldn't possibly comment.“ (Francis Urquhart)


  • oha...Alfred Brendel hat Mozart nach eigenem Geschmack verändert.
    Denn ich kenne so einige Stücke,an denen er Veränderungen vornimmt (vielleicht sind es auch mehr).
    Sie sind zwar nicht so krass und es ist auch nicht sooo entscheidend,aber immerhin.


    Beispiele:


    Klaviersonate KV 333, 1.Satz: Spielt bei einigen Akkorden Appreggio,obwohl es in den Noten nicht steht.


    Klavierkonzert KV 467, 2.Satz: Spielt bei 2 ganzen Noten etwas aus (Ergänzung). Nach der Neuen Mozart Ausgabe Bärenreiter stehen da aber eben nur die 2 ganzen Noten.


    Sicherlich nehmen andere Interpreten auch andere Veränderungen/Verzierungen/Ergänzungen vor


    Ich persönlich finde es nicht so schlimm.
    Gerade bei den ganzen Noten fand ich es sehr gut,daß da etwas ergänzt wurde.
    Im übrigen habe ich genau diese 2 Stücke auch mal aufgeführt und auch eigene Veränderungen/Ergänzungen vorgenommen.



    Publikum/Fachlehrer waren begeistert.
    Fairerweise muß man dazu sagen,daß Publikum/Fachlehrer die Gelegenheit hatten,mich zu kritisieren.



    Zitat


    Sich exakt an angegebene Metronomzahlen zu halten, finde ich absurd. Deshalb finde ich es auch besser, erst gar keine Metronomzahl anzugeben, sondern eher den Charakter des Stückes zu umreißen. Allegro, Andante etc. sind ja im Prinzip nichts anderes als Charakterbezeichnungen.


    Da geb ich dir absolut recht....ABER:
    Der Komponist handelt doch im guten Sinne...es ist eine Empfehlung...kein Muss,ein Beispiel,daß es so gut klingen kann; und wenn auch keine Metronomzahl vorhanden ist;bzw.nur oder gar keine Charakterbezeichnung...



    Vergleiche: Alfred Brendel Vox Aufnahme: Haydn D-Dur Klavierkonzert mit
    ABM´s Version.


    Die Tempi sind grundverschieden.


    Und vom Charakter her passt imo die Version von ABM besser als Brendels Version.


    Bei Brendel ist es schon fast lächerlich...die Geschwindigkeit des Konzertes.


    Haydn ist nämlich imo nicht RASENDER Natur.


    Ob es dem Zuhörer gefällt...-eine andere Frage.


  • Salut,


    ein Arpeggio passiert mir durchaus versehentlich auch mal... ich hasse das.


    Das Auszieren ist bei Mozart eine besondere Problematik. Vgl. hierzu im Besonderen den ersten Satz des Klavierkonzertes c-moll oder auch den Schluß des 2. Satzes von KV 488 [punktierte 4tel]. Gerade im fis-moll-Satz finde ich das Auszieren der als langweilig geltenden Phrase widerlich... die Schönheit zeichnet sich hier m. E. durch die Einfachheit aus, die ganze himmlische Glückseligkeit würde hier durch ein Auszieren zernichtet.


    Beste Grüße
    Ulli



    P.S. Solange ich lebe, werden meine Kompositionen so gespielt, wie ICH das haben will... :D

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  • Entschuldigung, aber sitzt ihr mit der Partitur im Konzertsaal und kontrolliert die Interpreten oder kennt ihr die ganzen Angaben auswendig?


    Ganz grundsätzlich umfasst die Kunstfreiheit auch Interpretation und Bearbeitung, womit fast alles zumindest erlaubt ist. Und im richtigen Rahmen können auch die absurdesten Transkriptionen und Bearbeitungen ein wunderbares Erlebnis sein. Dass Dirigenten/Solisten einem Werk einen besonderen Touch bzw individuellen Ausdruck geben, macht die Sache doch erst spannend. Und gerade SängerInnen sind ohnehin gezwungen(!) den Charakter von Partien mit ihren stimmlichen Fähigkeiten in Einklang zu bringen. Oder soll Deborah Voight die Isolde plötzlich so singen wie Flagstad oder Nilsson?!


    Die Angaben der Komponisten sind wichtige Orientierungspunkte, aber nicht mehr. Wären sie "heilig" oder "Dogmen" wären irgendwan Computer die besten Musiker - und das will ich nicht glauben.

  • Martello schrieb:
    Die Angaben der Komponisten sind wichtige Orientierungspunkte, aber nicht mehr. Wären sie "heilig" oder "Dogmen" wären irgendwan Computer die besten Musiker - und das will ich nicht glauben.


    Andererseits betet Martello (nomen est omen) den Meister der selbsternannten, authentischen Interpretation, Herrn Harnoncourt, nahezu an.


    Meine ärztliche Diagnose: "Der Zerrissene" oder klassischer Fall von Bewußtseinsspaltung. Heilungschancen sind aber durchaus gegeben.

    Otto Rehhagel: "Mal verliert man und mal gewinnen die anderen".
    (aus "Sprechen Sie Fußball?")

  • Hallo,


    die Angaben der Komponisten sind nicht nur wichtige Orientierungspunkte, sondern Gesetz. Wieso sollte man bei einem Komponisten, der zu jedem Ton eine Artikulation und eine dynamische Nuance notiert, davon ausgehen, dass man selber als Interpret es besser weiß und sich einfach darüber hinwegsetzen?


    Wenn ich jemandem einen Text vorlese, verändere ich den Wortlaut auch nicht, weil der Text mir dann besser gefallen würde.


    Übrigens bin ich der Meinung, dass auch Harnoncourt, gerade in der Zauberflöte und im Fidelio sich Freiheiten nimmt, die durch die Partitur nicht zu begründen sind.


    Gruß, flo

    "Das Leben ist zu kurz für schlechte Musik"


    Wise Guys 2000

  • Salut,


    Pianoflo gebe ich Recht. Es gibt aber dummerweise Fälle, in denen das Autograph einer Komposition nicht genügend aufschlussreich ist, da es entweder verschollen, zerschnitten, oder gar flüchtig geschrieben ist. Selbst Mozart beispielsweise weicht innerhalb eines Stückes von Phrasierungen ein und der selben Stelle zwischen Exposition und Reprise ab. Hier stellt sich dann die Frage, ob dies Flüchtigkeit oder Absicht ist. Es ist nicht so einfach, hier den richtigen Weg zu finden und es gehört einfach sehr viel Kenntnis der Komponisteneigenarten in der Schreibweise dazu [das betrifft letztlich alle Komponisten], um ein treffliches Ergebnis zu erzielen. Daß hier natürlich ebensoviele Meinungen wie Interpreten vorhanden sind, ist logisch. Welches sind die Freiheiten, die sich Harnoncourt herausnimmt? Ich kenne [leider] beide Harnoncourt-Fassungen nicht und wäre dankbar, etwas darüber zu erfahren.


    Trés cordialement
    Ulli

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  • Lieber Ulli,


    diese Fälle sind aber doch wohl eher die Ausnahme. Selbstverständlich muss bei solchen Situationen der Interpret sich dem Willen des Künstlers möglichst annähren.


    So sind beispielsweise bei etlichen Chopin-Notationen z.B dynamische Angaben und Tempi umstritten, da Chopins eigene Anweisungen divergieren, und in einigen Fällen seine Anweisungen in den Noten seiner Schüler von der eigentlichen Komposition abweichen.


    Ich denke jedoch, sofern, die Werke erhalten vorliegen, sollte man als Interpret sich, so weit es geht, daran halten, und nicht nach eigenem Gutdünken sich die Werke 'zurechtbiegen',weil einem dann manches besser gefällt.


    Liebe Grüsse, Moritz

    "Das beste, an dein Übel nicht zu denken, ist Beschäftigung."
    Ludwig van Beethoven

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  • Salut Moritz,


    mein Standpunkt zu dieser Sache scheint Dir nicht klar zu sein - er ist weiter oben gepostet. Du widersprichst Dir, wenn Du zum einen sagst, es sei "eher die Ausmahme" und im Falle Chopins sprichst Du von "etlichen [...] Notationen", welche diese Problematik aufweisen. Das Problem ist keineswegs eine Ausnahme.


    Liebe Grüße
    Ulli

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  • Du hast Recht, Ulli, ich habe es geschafft, meine eigene These innerhalb zwei Sätzen selbst zu widerlegen und mir selbst zu widersprechen.


    Es war so gemeint: Ich weiss, dass es diese Fälle gibt und wollte dafür noch Beispiele nennen, wie eben jene, wo eben Chopin in den oten seiner Schüler z.T. Widersprüchliches notiert hat.


    Woauf ich eigentlich hinaus wollte, war, dass meiner Meinung nach diese Fälle doch nicht die Regel sind, und ich finde, dass wenn die Anweisungen des Komponisten eindeutig sind, man diese auch beachten sollte. Und es gibt ja wirklich genug Beispiele, wo dies nicht getan wird.


    Ich habe Deine Meinung durchaus gelesen und verstanden...Ich glaube wir teilen die selbe...


    Liebe Grüsse, Moritz

    "Das beste, an dein Übel nicht zu denken, ist Beschäftigung."
    Ludwig van Beethoven

  • Zitat

    Original von Moritz


    Ich habe Deine Meinung durchaus gelesen und verstanden...Ich glaube wir teilen die selbe...


    Liebe Grüsse, Moritz


    ita est.


    Ulricus

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  • Hallo


    @ Ulli:


    In der Zauberflöte beziehe ich mich aufs Rezitativ in der Sprecherszene, "die Weisheitslehre dieser Knaben etc." im Finale des ersten Aktes.


    An den Stellen: "ich wage mich mutig zur Pforte hinein" und "Erzittre feiger Bösewicht" lässt Harnoncourt das Orchester mit den Akkorden und den Läufen in den Geigen erst nach dem Sänger einsetzen. In der mir zur Verfügung stehenden Partitur und im Klavierauszug sowie in jeder anderen mir bekannten Aufnahme sind diese Akkorde zeitgleich mit dem letzten Wort des Sängers. Harnoncourts Vorgehensweise hemmt den musikalischen Fluß doch ein bisschen und ist mir nicht verständlich. Vielleicht kennst du ja den Grund für dieses Verhalten.


    Im Fidelio sind die mir aufgefallenen Änderungen wesentlich sinnfälliger, Harnoncourt bremst z.B. bei den Worten "töt erst sein Weib" im Quartett des zweiten Aktes stark ab, was aber insofern gut ist, dass man diese wichtigen Worte endlich einmal versteht.


    Gruß, flo

    "Das Leben ist zu kurz für schlechte Musik"


    Wise Guys 2000

  • Salut Pianoflo,


    ich benötigte ein wenig Zeit für die Recherche dessen, was ich im Hinterkopf hatte:


    [...]Es war zu Mozarts Zeit allgemein italienische Praxis, Überschneidungen von Singstimme und Orchestereinwurf [Anm. im Recitativo accompagnato] zu vermeiden. Einige wenige Fingerzeige in Mozarts Autograph deuten darauf hin, daß dies auch seine Ansicht war, zumindest wenn es sich um eine affektgeladene Situation handelte. Die Raumverteilung des auf Blatt 44v aus dem Autograph des dritten Aktes [Anm. des Idomeneo] macht deutlich, daß Mozart den Eintritt des Adagio nach den beiden Silben auf dem ersten Taktteil wünscht, womit der Takt wiederum auf 5/4 erweitert wird.
    [Quelle: Daniel Heartz Ausführungen zu "Idomeneo", April 1972]


    Die im Zitat erwähnte Stelle sieht im Original so aus:



    Die Neue Ausgabe Sämtlicher Werke [Bärenreiter/dtv] setzt diese Stelle entsprechend so um:



    Leider bin ich noch nicht im Besitz eines Faksimiles der gesamten Zauberflöte, was aber bald folgen wird, da Baerenreiter bekanntlich zum Mozartjahr 2006 die sieben "größten" Mozartopern im Faksimile herausgeben wird; ich habe subscribiert.


    Dennoch wage ich, in diesem Falle Harnoncourt zu widersprechen. Die Zauberflöte ist doch ein absolutes Gegenteil einer italienischen Opera seria wie z.B. Idomeneo und ich gehe fast davon aus, dass Mozart hier in der Zauberflöte so notiert hat, wie es zu spielen ist, was das obige Beispiel ja im Umkehrschluss letztlich auch beweist. Gerade in der Zauberflöte sind auch gewisse Wort-Ton-Verhältnisse zu beachten - Was die Sprecherszene in der Zauberflöte betrifft ist es dann zumindest merkwürdig, wenn Harnoncourt hier lediglich die beiden von Dir genannten Stellen auf diese "italienische" Art ausführt, dennoch will ich mich erst vorsichtig zurückhalten.


    Beste Grüße
    Ulli

    You might very well think that. I couldn't possibly comment.“ (Francis Urquhart)

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  • Zitat

    Original von Ulli
    Dennoch wage ich, in diesem Falle Harnoncourt zu widersprechen. Die Zauberflöte ist doch ein absolutes Gegenteil einer italienischen Opera seria wie z.B. Idomeneo und ich gehe fast davon aus, dass Mozart hier in der Zauberflöte so notiert hat, wie es zu spielen ist, was das obige Beispiel ja im Umkehrschluss letztlich auch beweist. Gerade in der Zauberflöte sind auch gewisse Wort-Ton-Verhältnisse zu beachten - Was die Sprecherszene in der Zauberflöte betrifft ist es dann zumindest merkwürdig, wenn Harnoncourt hier lediglich die beiden von Dir genannten Stellen auf diese "italienische" Art ausführt, dennoch will ich mich erst vorsichtig zurückhalten.


    (Ich habe keine Ahnung bzgl. der konkreten Fragestellung, abgesehen davon soll Harnoncourts Zauberflöteneinspielung doch eh so eine Märchentante statt des Dialogs haben, das fand ich so abschreckend, dass ich sie nie gehört habe)


    Aber die Zauberflöte ist ein ziemlicher (und meinetwegen genialer) Stilmischmasch, wobei das Singspiel nur der Rahmen ist. Die Arien der Königin
    ("Oh zittre nicht.. Zum Leiden bin ich auserkoren..." und "Der Hölle Rache") sind ziemlich seria-mäßig, oder?


    Solch konkrete Dinge sich zu überlegen, ist gewiß wünschenswert; allgemein geführt, halte ich die Diskussion über den "Willen" des Komponisten" für wenig fruchtbar. Meistens wisen wir nicht, was genau er wollte, ganz wesentliche Dinge werden nicht notiert, sondern vorausgesetzt usw. und besonders einem diesbezüglich so pragmatisch veranlagten Zeitalter wie dem 18. Jhd. wäre es absurd vorgekommen, konkrete Bedingungen ein für allemal festzuschreiben.
    Wollte Mozart nun 40 Violinen, 10 Bässe und die Bläser alle doppelt für seine Sinfonien? Oder war er nur in diesem einen Fall beeindruckt? Oder was nun? usw. Ich denke, man kann sowohl plausibel machen, dass manche Werke von einer eher kammermusikalischen Besetzung profitieren, aber andererseits auch im Auge behalten, dass sie, besonders für ein Bruckner unkundiges Publikum natürlich als großartig auch bei der Klangentfaltung erlebt wurden. Das sollte man schon vermitteln, muß das heute aber vielleicht anders tun als mit bloßer Masse, eben weil wir Wagner und Mahler u.a. vor Augen haben.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Ulli,


    ich weiß nicht ob es die einzigen beiden Stellen sind, an denen Harnoncourt auf diese Weise verfährt, hatte leider keine Zeit, das zu überprüfen, wegen unaufschiebbarem Staatsexamen X( X( X(


    Es war mir nur als am auffäliigsten an diesen Stellen in Erinnerung, auffällig vor allem auch deswegen, weil beispielsweise Arnold Östman es nicht so macht und es musikalisch für mich einfach keinen Sinn ergibt.


    Wenn ich mal Zeit hab hör ich mir die ganze Zauberflöte mal von Harnoncourt mit Partitur an, dass ich fundierte Aussagen hier abliefern kann und nicht bloss Andeutungen.


    Im Übrigen wollte ich nur erwähnt haben, dass ich durchaus ein Fan von Harnoncourt bin und viele Aufnahmen von ihm sehr gelungen finde, nicht dass hier ein falscher Eindruck aufkommen sollte.


    Gruß, flo

    "Das Leben ist zu kurz für schlechte Musik"


    Wise Guys 2000

  • Zitat

    Original von pianoflo
    ich weiß nicht ob es die einzigen beiden Stellen sind, an denen Harnoncourt auf diese Weise verfährt, hatte leider keine Zeit, das zu überprüfen, wegen unaufschiebbarem Staatsexamen X( X( X(


    Ich bin mir ziemlich sicher das dies nicht die einzige Stelle ist in der Harnoncourt die Akkorde nachstellt. Eine mögliche Denkweise wäre z.B. bei "ich wage mich mutig zur Pforte hinein" das er den Gang zur Pforte ( den die Bewegung in den 1.Geigen wohl ausdrückt ) erst nach dem Satz sieht und somit diesen Affekt eben nachstellt. ( Just a thought :beatnik: )

  • Salut,


    ich gehe ebenfalls davon aus, dass Harnoncourt hier konsequent gehandelt hat.


    Eine auf historischer Bühne besonders freimaurerisch gelungene Inszenierung der Zauberflöte ist Göran Järvefelt 1989 am Drottningholms Slottsteater [Schweden] geglückt. Sie ist als Aufzeichnung in größeren Abständen im Proculvisor zu erleben. Auch das gehört meiner Meinung nach zu den "Dogmen"... aber dazu haben wir ja einen separaten Thread...


    :D


    Einen sonnigen Tag wünscht
    Ulli

    You might very well think that. I couldn't possibly comment.“ (Francis Urquhart)

  • Nun, oh Dottore Rienzi, ganz so massiv ist meine Anbetung denn doch nicht - so ist bei "Cosi" und "Nozze" mA nach Jacobs noch besser, bei der Zauberflöte "Christie" und Gardiners "Giovanni" zumindest ebenbürtig.


    Wie Du feststellen kannst, ist es also nicht ein Name der sakrosankt ist, sondern eine Stilistik, bestimmte Werke zu spielen, die mir besonders zusagt. Ich finde, dass Werke der Barockmusik (bis inkl. zumindest Mozart) schlicht besser klingen, wenn sie nach den "Regeln" oder in Anlehnung an die HIP interpretiert werden. Freiheiten in der Instrumentation, den Rezitativbegleitungen etc. sind da angesichts des Materials ja oft zwingend notwendig.


    An Harnoncourt schätze ich enfach den Ansatz "Ich zeige euch jetzt, dass ein Werk, von dem ihr alle glaubt, zu wissen wie es klingen muss, auch ganz anders klingt - wenn man sich an die Originalpartituren hält." Ich würde diese Interpretationen nie als alleinig gültige Version bezeichnen, aber sie sind für mich eine unschätzbare Bereicherung.


    Ich diagnostiziere meinerseits eine neue Strategie der HIP-Ablehner:
    Nachdem ursprünglich erklärt wurde, Harnoncourt, Gardiner, etc. spielen die Werke schlicht falsch oder haben den instrumentalen Fortschritt nicht kapiert (was mittlerweile glatt widerlegt ist) wird jetzt so getan, als wäre HIP reine Lust- und Interpretationsfeindlichkeit die aber ("selbsternannt") ohnehin nur auf Annahmen basiert.


    P.S.: Tschaikowsky oder Wagner mit dem Concentus brauche ich etwa so dringend wie Monteverdi, Vivaldi oder Händel mit den Wiener Philharmonikern.

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