Alles anzeigenZu Goethe als "Referenz" in Geschmacksfragen
Zum einen hat er ja Schuberts Vertonungen seiner Gedichte falsch bewertet, zum anderen finde ich den Reim
Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!
Das Schwert im Herzen,
Mit tausend Schmerzen
Zuerst der unsaubere Reim am Beginn, dann der Herz-Schmerz Reim
Auch wenns noch so berühmt ist - Geniestreich ist das keiner....
Lieber Alfred, auch wenn es nicht zum Thema gehört: Ich kann das nicht stehen lassen.
Zum einen: Goethe hat wie jeder Mensch im Laufe seines Lebens viel geirrt. Wenn es danach ginge, wären wir bei der Frage nach Referenzen schnell am Ende. Aber Goethe war in puncto Verstechnik und vor allem auch Verssemantik so virtuos wie kaum ein anderer. Und: Er hat mit die schönsten, vollendetsten Verse geschaffen, die ich kenne, z.B. in "Wandrers Nachtlied". Der wusste, was er tat und wie man es macht. Schon als Kind und Jugendlicher fiel er dadurch auf, dass er mit unglaublicher Leichtigkeit und stilistischer Sicherheit Verse zu allen möglichen Gelegenheiten und Themen schmieden konnte. Im "Faust" jonglierte er mit den unterschiedlichsten Vers- und Strophenformen - und zwar immer mit Blick auf den Inhalt des Geschehens. Das ist schlicht atemberaubend.
Zu dieser Stelle, die du zitiert hast: Ich muss dich leider belehren. Der "unsaubere" Reim zu Beginn ist seiner Frankfurter Herkunft geschuldet. Derartiges kommt bei Goethe öfter vor. Ob du es magst oder nicht: Aber es ist natürlich nicht so dilettantisch, wie du es darstellst, und fiel bezeichnenderweise auch der Überarbeitung des "Urfaust" nicht zum Opfer. Lies es als "Ach 'neische', / Du 'Schmerzensreische' (...)", dann passt es.
"Herzen (...) / Schmerzen" tut natürlich irgendwie schon weh, klar. Aber: Goethe verwurstet hier eine mittelalterliche Sequenz, nämlich aus dem "Stabat mater", es ist kein genuin erfundener Text! Und wenn du hier mal nachguckst bzw. nach unten zu den Übersetzungen Wielands und Bones scrollst, die sogar jünger als Goethes Textstelle sind, dann siehst du, dass dem Übersetzer fast keine andere Wahl bleibt, als es so zu reimen. Wie gesagt: Das Problem entsteht aus dem Rückgriff auf einen Fremdtext.
Um wenigstens den Bogen zur Musik noch zu schlagen: Goethe hat diesen Text aus der Szene "Zwinger" als Da Capo-Arie eines Singspiels angelegt. Und da wären wir wieder ganz nah an dem, was ihn auch an der "Zauberflöte" faszinierte bzw. ihn auch bezüglich eines weiteren Teils inspirierte...