Die Bachkantate (109): BWV10: Meine Seel erhebt den Herrn

  • BWV 10: Meine Seel erhebt den Herrn
    Kantate zum Fest Mariae Heimsuchung (Leipzig, 2. Juli 1724)




    Lesungen:
    Epistel: Jes. 11,1-5 (Weissagung auf den Messias)
    Evangelium: Luk. 1,39-56 (Besuch der Maria bei Elisabeth, Marias Lobgesang „Magnificat“)



    Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 23 Minuten


    Textdichter: unbekannt, inspiriert aber von Marias Lobgesang „Magnificat“



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Trompete, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Choral SATB, Trompete, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Meine Seel’ erhebt den Herren,
    Und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes;
    Denn er hat seine elende Magd angesehen.
    Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskind.


    2. Aria Sopran, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Herr, der du stark und mächtig bist,
    Gott, dessen Name heilig ist,
    Wie wunderbar sind deine Werke!
    Du siehest mich Elenden an,
    Du hast an mir soviel getan,
    Dass ich nicht alles zähl’ und merke.


    3. Recitativo Tenor, Continuo
    Des Höchsten Güt’ und Treu
    Wird alle Morgen neu
    Und währet immer für und für
    Bei denen, die allhier
    Auf seine Hülfe schau’n
    Und ihm in wahrer Furcht vertrau’n.
    Hingegen übt er auch Gewalt
    Mit seinem Arm
    An denen, welche weder kalt
    Noch warm
    Im Glauben und im Lieben sein;
    Die nacket, bloß und blind,
    Die voller Stolz und Hoffart sind,
    Will seine Hand wie Spreu zerstreu’n.


    4. Aria Bass, Continuo
    Gewaltige stößt Gott vom Stuhl
    Hinunter in den Schwefelpfuhl;
    Die Nieder’n pflegt Gott zu erhöhen,
    Dass sie wie Stern’ am Himmel stehen.
    Die Reichen lässt Gott bloß und leer,
    Die Hungrigen füllt er mit Gaben,
    Dass sie auf seinem Gnadenmeer
    Stets Reichtum und die Fülle haben.


    5. Duetto e Choral Alt, Tenor, Trompete oder Oboe I + II, Continuo
    Er denket der Barmherzigkeit
    Und hilft seinem Diener Israel auf.


    6. Recitativo Tenor, Streicher, Continuo
    Was Gott den Vätern alter Zeiten
    Geredet und verheißen hat,
    Erfüllt er auch im Werk und in der Tat.
    Was Gott dem Abraham,
    Als er zu ihm in seine Hütten kam,
    Versprochen und geschworen,
    Ist, da die Zeit erfüllet war, geschehen:
    Sein Same musste sich so sehr
    Wie Sand am Meer
    Und Stern’ am Firmament ausbreiten,
    Der Heiland war geboren,
    Das ew’ge Wort ließ sich im Fleische sehen,
    Das menschliche Geschlecht von Tod und allem Bösen
    Und von des Satans Sklaverei
    Aus lauter Liebe zu erlösen;
    Drum bleibt’s dabei,
    Dass Gottes Wort voll Gnad’ und Wahrheit sei.


    7. Choral SATB, Trompete, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Lob und Preis sei Gott dem Vater und dem Sohn
    Und dem Heiligen Geiste,
    Wie es war im Anfang, itzt und immerdar
    Und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.





    Diese Kantate ist Bachs Beitrag zur Gattung der Choralkantate für den heutigen Feiertag Mariae Heimsuchung - zur Bedeutung dieses Feiertages siehe die Erläuterungen an anderer Stelle.


    Im Rahmen seiner Kantatenbesprechung weist Alfred Dürr auf den interessanten Umstand hin, dass diese Kantate strenggenommen gar keinen althergebrachten protestantischen Kirchenchoral zum Thema hat (was ja eigentlich die Grundlage jeder Choralkantate Bachs ist), sondern sich auf einen gregorianischen Choral (auf den 9. Psalmton) bezieht und somit ihre Bezeichnung Choralkantate mehr als zu Recht trägt!


    Zu Bachs Zeit sang man in Leipzig das Magnificat, dessen deutscher Text dieser Kantate teils im originalen Wortlaut, teils in freier Nachdichtung zugrundliegt, auf die erwähnte gregorianische Melodie des 9. Psalmtons in einem Satz von Johann Hermann Schein aus dem Jahr 1627.


    Da das Magnificat Teil des Evangeliums des heutigen Feiertages ist, ist es eigentlich nur naheliegend, diesen berühmten Hymnus, der ja in der Bibel schon als Lobgesang charakterisiert ist, zur Textgrundlage einer Kantate zu machen, die sich auf den heutigen Tag Mariae Heimsuchung bezieht.


    Wie in der entsprechenden Kantate des Vorjahres (BWV 147) setzt Bach auch in dieser Kantate eine Trompete ein, die den festlichen Charakter des Feiertages unterstreichen soll. Der Text dieser Kantate bringt es mit sich, dass man sie sicherlich auch während der Advents- oder Weihnachtszeit aufführen könnte, wie Bach es mit seiner Vertonung des lateinischen Magnificat-Textes ja auch getan hat.


    Im Eingangschoral spielt die Trompete dann auch zur Verdeutlichung und Verstärkung die Choralmelodie mit, während die anderen Stimmen munter drumherum musizieren.


    Das Duett Nr. 5 zwischen Alt und Tenor und zusätzlich entweder Holz- oder Blechbläser-Begleitung (das bleibt wohl dem Ermessen des Interpreten überlassen) hat Bach in späteren Jahren für die Orgel bearbeitet (BWV 648) - es gehört zu seinen sechs sogenannten Schübler-Chorälen.


    Der Schlusschoral enthält den Text der sogenannten "Kleinen Doxologie", mit der traditionell das Magnificat oder in der Regel auch Psalmvertonungen enden.
    Die kleine Doxologie gehört damit fest zum Text des Magnificat dazu und erklingt ebenfalls zur schon erwähnten, althergebrachten Choralmelodie, die in diesem Satz vom Sopran übernommen wird.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)