ZitatAlles anzeigenOriginal von Johannes Roehl
Karajan galt vielleicht im Einzugsbereich seiner mächtigen Marketingmaschinerie (und der der DGG) als "einsame Referenz", aber schauen wir doch einmal, was es ca. 1965 außerdem noch für Zyklen gab (bitte nicht steinigen, wenn einer davon vielleicht erst ein oder zwei Jahre später vollständig vorlag):
Szell/Cleveland
Klemperer/Philharmonia
Leibowitz/Royal PO
Cluytens/Berliner PO
Bernstein/NYPO (?)
Monteux (?)
Konwitschny/Leipziger Gewandhaus
(alle stereo)
dann noch, teils mono
Jochum/? (DGG)
Toscanini (RCA)
Scherchen (Westminster)
Furtwängler (evtl. nicht komplett)
Schuricht
(Vorkriegsaufnahmen mal ganz weggelassen, da gäbe es noch Mengelberg, Weingartner)
Dazu noch signifikante einzelne Aufnahmen von E.Kleiber, Fricsay, Munch, Reiner u.a.
Dass in dieser Gesellschaft HvK die einsame Referenz sein soll, ist ein reiner Marketinggag....
Hallo JR
Deine Analyse beleuchtet die Situation vom heutigen Standpunkt aus, was vollkommen irrelevant ist. Wie sah die Situation damals aus:
Szell/Cleveland: Überhell bis schrill abgemischte, relativ stark rauschende LPs. Trotz der anerkannten interpretatorischen Qualitäten eher ungeliebte Scheiben. In den 70ern kann ich mich an keine LP-Box mit diesen Aufnahmen erinnern.
Klemperer: Sehr zwiespältig aufgenommen (bekanntlich mochte Legge sie überhaupt nicht!). Aber es gab starke Befürworter und Gegner, auf jeden Fall eine echte Alternative zu Karajan.
Leibowitz: Nur eine Zeit lang über Readers Digest zu bekommen, am Markt praktisch nicht existent. Dass Leibowitz nicht zumindest zeitweilig völlig vergessen wurde, liegt lediglich an verrückten amerikanischen Audiophilen, die in den 70ern beim Durchforsten von ausgefallenem Material über diese klanglich herausragenden Schätze stolperten, worauf diese Aufnahmen recht schnell Kultstatus erlangten. Aber da sie (nur gebraucht) immer schwer erhältlich waren und auch stark im Preis anstiegen, waren sie nur einem kleinen Kreis bekannt. Es kam zu dem Paradoxon, dass in den 80ern (der große Streit zwischen Analog und Digital) kaum eine Aufnahme bei Musikkennern dem Namen nach so bekannt war, ohne jemals gehört worden zu sein. Zumindest jeder HiFi-Jünger wusste von ihnen, aber sie waren kaum aufzutreiben. Als sie dann erstmals "regulär" auf den Markt kamen, lagen sie preislich sowohl analog als auch digital deutlich über dem Vollpreis-Niveau!
Cluytens: Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Box gesehen zu haben. Sie waren meines Erachtens auch als Einzel-LP kaum präsent (einige Einzeltitel hatten einen guten Ruf).
Monteux: Wie bei Cluytens habe ich nie eine Kassette zu Gesicht bekommen, und ebenso gab es auch bei Monteux zwei oder drei sehr geschätzte Aufnahmen, ohne dass er als besonderer Beethoven-Spezialist gegolten hätte.
Bernstein: Kam deutlich später, hatte nicht die extremen klanglichen Probleme der Szell-Aufnahmen und bildete auch eine Alternative. Allerdings meine ich, dass die Solti-Aufnahmen aus den 70ern hierzulande einen größeren Stellenwert hatten, aber das war bereits kurz vor Karajans 2. DGG-Zyklus.
Konwitschny: Die VEB-Platten waren in den 60ern eine ausgesprochene Rarität im Westen, nur eingefleischte Sammler verfügten über das Wissen über die wenigen Kanäle. In der Öffentlichkeit dürften die Aufnahmen keine wesentliche Rolle gespielt haben.
Mono-Aufnahmen waren gerade in den 60ern völlig out, da lief gerade die Begeisterungswelle für Stereo. Furtwängler wurde erst von der 68er-Generation wieder entdeckt, erst in den 70ern schusterte die EMI eine Beethoven-Kassette mit ihm zusammen. Die Böhm-Kassette mit den Wienern erschien 1970 und war eine Zeit lang recht beliebt.
Was bleibt ist die Tatsache, dass in den 60ern Einzelplatten dominierten (Fritz Reiner!), aber bei Gesamtaufnahmen Karajan und mit Abstrichen Klemperer stark dominierten. Ich kann mich irren, aber meiner Erinnerung nach gab es zwar Fricsay und er war bei Kennern geschätzt, spielte aber beim Massenpublikum keine sehr große Rolle.
Man darf bei solchen Überlegungen nicht vergessen, dass in den 60ern eine Beethoven-Gesamtausgabe ein kleines Vermögen kostete und schon aus diesem Grund nicht so inflationär auf den Markt geworfen wurde wie heutzutage, wo man sie um einen Appel und ein Ei erstehen kann.