BWV 50: Nun ist das Heil und die Kraft
Kantate (?) zum Michaelistag (möglicherweise Leipzig, 29. September 1723 [?])
Lesungen:
Epistel: Offenbarung 12,7-12 (Michaels Kampf mit dem Drachen)
Evangelium: Matth. 18,1-11 (Den Kindern gehört das Himmelreich; ihre Engel im Himmel sehen das Angesicht Gottes)
Aufführungsdauer: ca. 5 Minuten
Textdichter: unbekannt
Besetzung:
Coro: S I + II, A I + II, T I + II, B I + II; Oboe I-III, Trompete I-III, Pauken, Violino I/II, Viola, Continuo
Chor S I + II, A I + II, T I + II, B I + II, Oboe I-III, Trompete I-III, Pauken, Streicher, Continuo
Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich und die Macht unser’s Gottes seines Christus worden,
weil der verworfen ist, der sie verklagete Tag und Nacht vor Gott.
Dieser Satz teilt das Schicksal mit ähnlich „undefinierbaren“ Einzelsätzen oder Satzfolgen, die alle nicht recht in das gängige Kantatenschema passen wollen (siehe z. B. auch BWV 191 oder BWV 200).
Kantaten waren nicht einsätzig, was aber sollte man als ordnungsliebender Musikwissenschaftler mit einem einzeln stehenden (bzw. allein überlieferten) Chorsatz wie diesem machen?
Bei der Erstellung des Bachwerkeverzeichnisses (BWV) hat man sich offenbar gedacht, dass dieses Fragment wahrscheinlich Teil einer mehrsätzigen Kantate gewesen sein könnte und hat daher eine BWV-Nummer vergeben, die diesen Chorsatz in die Gruppe der geistlichen Kantaten einordnet (das sind die Nummern BWV 1 bis 200).
Vielleicht hat man gehofft, dass sich die übrigen Teile dieser möglicherweise irgendwann einmal mehrsätzigen Kantate doch noch zu einem späteren Zeitpunkt finden würden – bis dato ist hier jedoch noch nichts geschehen.
Die liturgische Einordnung dieses Chorsatzes ist einfach, da es sich hierbei um eine Nachdichtung der Bibelstelle aus der Offenbarung des Johannes, Kapitel 12 Vers 10 handelt – und diese Stelle gehört zur Lesung am heutigen Feiertag. Die reiche Festtagsbesetzung des Orchesters mit Trompeten und Pauken, die der Orchesterbesetzung anderer Michaeliskantaten entspräche, stützt diese Annahme.
Vielleicht war der Chorsatz einmal der Eingangs- oder Schlusschor einer Michaeliskantate möglicherweise auch eine Hinzufügung Bachs zu einer Kantate eines fremden Komponisten oder einer eigenen älteren Kantatenkomposition, die nicht mehr erhalten ist, die er an einem Michaelistag aufführte?
Ich habe u. a. gelesen (beim amerikanischen Bachforscher William H. Scheide), dass der Satz als sogenannte ”Epistelmusik” gedient haben könnte – das ist ein einzelner Chorsatz mit biblischem Text (oft in Form einer Motette, wie wir sie ja auch von Bach kennen), die in Kantaten eingefügt wurden.
Ein solcher Einzelsatz wäre dann natürlich thematisch gesehen im BWV an dieser Stelle bei den Kantaten falsch eingruppiert.
Selbst das Uraufführungsjahr ist bei diesem Werk reine Spekulation – evtl. käme Bachs erstes Leipziger Amtsjahr 1723 in Frage, da aus diesem Jahr keine Kantate zu Michaelis überliefert ist? Die Art, wie Bach diesen Chorsatz in Fugenform komponiert hat, veranlasst Bachforscher zu dieser zeitlichen Einordnung.
Musikalisch ungewöhnlich an diesem Satz ist seine Doppelchörigkeit – alle vier Chorstimmen sind also geteilt. Dies kommt in „gewöhnlichen“ Bachkantaten nicht vor, da der ihm zur Verfügung stehende Thomanerchor normalerweise eine solche Stimmaufteilung von der Besetzung her gar nicht zuließ. Daher wird vermutet, dass es sich bei der uns heute erhaltenen achtstimmigen Version um die Bearbeitung eines Fremden handelt. In die Neue Bach-Ausgabe, die in den 1950ern Jahren begonnen wurde, ist diese achtstimmige Version mangels einer Alternative aufgenommen worden.
Der erwähnte Bachforscher William H. Scheide vermutet angesichts einiger offenbar vorhandener satztechnischer Ungeschicklichkeiten (die Bach so anscheinend nie unterlaufen wären), dass der originale Satz lediglich für fünfstimmigen Chor konzipiert wurde (hierbei war der Alt geteilt, so die These).
Ungeachtet aller dieser Unwägbarkeiten, Theorien, Vermutungen und Spekulationen liegt uns mit BWV 50 ein großartiger und prachtvoller Chorsatz vor, der sich in Form einer großdimensionierten Chorfuge präsentiert, wie sie eigentlich nur von Bach stammen kann!
Bach zieht hier – als wahrer Meister seines Faches – sämtliche kontrapunktischen Register, so dass nicht nur beeindruckte Zuhörer, sondern auch Musiktheoretiker über diesen Satz einhellig in Begeisterung ausbrechen...! :]