In Anbetracht der inzwischen wieder einmal ausverkauften Aufführungsserie der Oper „Die Soldaten“ im Rahmen der Ruhrtriennale möchte ich einen der gleichzeitig bekanntesten und rätselhaftesten Komponisten des 20. Jahrhunderts ins Gespräch bringen: Den Kölner Bernd Alois Zimmermann (1918 – 1970).
Zimmermann wuchs im ländlich-katholischen Milieu der Eifel auf. Sein Vater war Beamter bei der Reichsbahn und Nebenerwerbslandwirt. Zimmermann legte 1937 auf einem katholischen Gymnasium in Köln das Abitur ab. Er studierte ab 1938 Schulmusik, Musikwissenschaft und Komposition an der Hochschule für Musik Köln. 1940 bis 1942 war er bei der Wehrmacht. 1947 legte er seine Examina ab. Von 1948 bis 1950 nahm er an den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik teil, unter anderem bei René Leibowitz und Wolfgang Fortner, und arbeitete 1950-52 als Lektor für Musiktheorie am Musikwissenschaftlichen Institut der Kölner Universität.
Schon ab 1946 war Zimmermann als Komponist tätig, insbesondere auch für den NWDR (dem späteren WDR), wo er auch Musik zu Hörspielen schrieb. 1950 bis 1952 war er Lektor für Musiktheorie an der Kölner Universität. 1958 wurde er als Nachfolger von Frank Martin Professor für Komposition an der Hochschule für Musik Köln.
In den 1960er Jahren etablierte er sich als erfolgreicher Komponist: Er gewann mehrere Preise, so 1960 den Großen Kunstpreis von Nordrhein-Westfalen, 1966 den Kunstpreis der Stadt Köln, und 1957 und 1963 Stipendien für die Villa Massimo. 1965 wurde er Mitglied der Berliner Akademie der Künste. Einen Ruf als Kompositionsprofessor an die Berliner Hochschule der Künste lehnte er 1968 ab.
Zum Ende des Jahrzehnts verstärkten sich bei Zimmermann depressive Tendenzen, die immer kritischer wurden. Außerdem litt er an einem inoperablen Augenleiden. Dies und die pessimistische Sicht der Dinge, die sich in seinen letzten Werken mitteilt, können als etwas gesehen werden, das seine Entscheidung zum Selbstmord im August 1970 mit beeinflußt hat.
Die Sprache Bernd Alois Zimmermanns:
Zimmermann begann mit Werken in der Tradition der 1920er Jahre, mit expressionisischer Färbung und den Ausdrucksmitteln der zweiten Wiener Schule. Ab dem Ende der 1950er Jahre fand er dann zu einer eigenen Sprache, die damals mit nichts vergleichbar war. In seinem letzten Werk, "Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne" (1970) Ekklesiastische Aktion für 2 Sprecher, Baß-Solo und Orchester verwendete er Texte aus dem Prediger Salomo (Kohelet) sowie aus dem Kapitel "Der Großinquisitor" aus "Die Gebrüder Karamasow" von Fjodor Dostojewskij. Aus dem Romankapitel über die Wiederkunft Christi im 16. Jahrhundert in "der südlichen Stadt, in der gerade erst am Tage vorher in "prunkvollem Autodafé" in Gegenwart des Königs, des Hofes, der Ritter, der Kardinäle und der schönsten Hofdamen der Kardinal-Großinquisitor vor der zahlreichen Einwohnerschaft ganz Sevillas fast ein ganzes Hundert Ketzer auf einmal hat ad majorem gloriam Dei verbrennen lassen" (DTV-Ausgabe 1995, S. 335), zitiert die Ekklesiastische Aktion gerade die entscheidenden, besonders schmerzhaften Passagen, so auch das "Wir sind nicht mit Dir, sondern mit ihm, das ist unser Geheimnis!" (DTV-Ausgabe, S. 347), das der Großinquisitor zu dem gefangen genommenen Jesus spricht. Bei Dostojewskij setzt sich die Passage so fort: Vor genau acht Jahrhunderten haben wir von ihm das angenommen, was du entrüstet zurückgewiesen hast, jene letzte Gabe, die er Dir anbot, als er Dir alle Reiche der Welt zeigte... (vgl. Matthäus 4)
Zimmermanns letztes Werk vor seinem Selbstmord endet mit einem Zitat aus Johann Sebastian Bachs Kantate "O Ewigkeit, du Donnerwort" ("Es ist genug..." ) als dem letzten Kommentar. Fünf Tage nach Vollendung des Werkes - am 10. 8. 1970 - nahm sich Bernd Alois Zimmermann das Leben.
In der musikalischen Grundidee ist das „Requiem für einen jungen Dichter“ Lingual für Sprecher, Sopran- und Baritonsolo, drei Chöre, elektronische Klänge, Orchester, Jazz-Combo und Orgel nach Texten verschiedener Dichter, Berichte und Reportagen mit „Ich wandte mich…“ zu vergleichen. An diesem Werk arbeitete Zimmermann zwischen 1967 und 1969. Erste Ideen hierzu gab schon 1956. In einem Brief an den NWDR vom 1. November 1956 schreibt Zimmermann von einem Oratorium über die letzten Dinge, mit Texten u.a. aus Psalm 139 und 148 und Textausschnitten der Bhagavadgita, Boethius, Novalis Hymnen an die Nacht, Dostojewskijs Großinquisitor, James Joyce Ulysses und anderem. 1963 sieht das Projekt so aus, dass es ein „Nachruf auf Sergej Jessenin“ von Wladimir Majakowskij werden sollte, einschließlich der Mitwirkung eines Arbeiterchores von 300 Sängern. In der endgültigen Fassung ist das Requiem eine Spiegelung der Geschichte des 20 Jahrhunderts von 1920 – 1970. Die Texte sind auf 3 Chöre, Sprecher und 4 Tonbänder verteilt und enthalten den lateinischen Requiem-Text ebenso wie Philosophische Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein, Alexander Dubceks Rede vom 27.8.68 nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, Papst Johannes des 23. Ansprache im 2. Vatikanischen Konzil, aus James Joyces Ulysses den Monolog der Molly Bloom, Teile des Grundgesetzes der Bundesrepublik, aus Aischylos Prometheus und aus einer Parlamentsrede Andreas Papandreous, von Wladimir Majakowskij den Nachruf auf Sergei Jessenin, einer Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy vom 31.10.56 während des Ungarischen Volksaufstandes und Texte von Mao, Kurt Schwitters, aus Hitlers Rede anlässlich des Einmarsches in die Tschechoslowakei vom 16.3.1939 und von Neville Chamberlain 1938. Außerdem musikalische Zitate von Messiaens „L`Ascension“, Richard Wagners Liebestod und von Zimmermanns eigener Sinfonie in einem Satz. Dies alles nur in den ersten 25 Minuten des über eine Stunde langen Werkes.
In der Mitte des Werkes steht ein „Ricercar“ über eine Passage aus Konrad Bayers „Der sechste Sinn“: „frage: worauf hoffen? Es gibt nichts was zu erreichen wäre außer dem Tod. Also, üblicherweise wird versucht ein ziel möglichst schnell zu erreichen, wenn es bekannt. Ich habe gegen meine natur versucht und gegen meinen instinkt (!) den optimistischen Standpunkt einzunehmen. Ich habe viel versucht. Ich habe gegen mein besseres wissen behauptet: das leben ist wert gelebt zu werden um seiner selbst willen. Wie dumm, ein vorwand diese unangenehme prozedur nicht vornehmen zu müssen… “
Das „dona nobis pacem“ am Schluss des Werkes wird kontrapunktiert mit einer Tonbandmontage von politischen Demonstrationen und dem Satzanfang des 4. Satzes aus Beethovens Neunter, dem „Hey Jude“ der Beatles und Reden von Stalin und von Roland Freisler.
Zimmermanns Oper Die Soldaten nach dem Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz, an der er zwischen 1957 und 1965 arbeitete, ist in der Textstruktur einfacher, nicht aber in der musikalischen Komplexität. Das Sturm-und-Drang-Drama um die Kaufmannstochter Marie, deren Leben zerstört wird, als sie sich mit dem französischen Offizier Desportes einlässt, gestaltet Zimmermann zu einem Antikriegsstück, dass über den zeitlichen Rahmen hinaus die Gewalt zum Thema hat, die Menschen einander antun. Auch hier, wie auch im Requiem, setzt Zimmermann zeitliche Abläufe nicht nacheinander, sondern nach dem Prinzip der „Kugelgestalt der Zeit“ in Bezug zueinander: „Die Betrachtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist eine Frage des Aspekts. Der Zuschauer sitzt im Zentrum einer Kugel, rund um ihn herum die Zeit, ein Kontinuum, was er gerade betrachtet, ist von seinem Blickwinkel abhängig. Denn: Was sich jetzt ereignet, ist bereits im Augenblick des Geschehens Vergangenheit, was immer wir tun – wir determinieren die Zukunft, und die Zukunft hat bereits die Vergangenheit bestimmt – die Tempora sind austauschbar.“ (Dieses Zitat und die Hinweise auf das Requiem für einen jungen Dichter stammen vorwiegend aus den beiden Texten des Booklets der CD des Requiems, die als Konzertmitschnitt vom 23. und 24. September 1986 zur Eröffnung der Kölner Philharmonie bei WERGO erschienen ist. Die Texte stammen von Wolfgang Becker-Carsten und Klaus Ebbeke, das Zitat steht bei Becker-Carsten: "Bernd Alois Zimmermann Requiem für einen jungen Dichter" auf Seite 2)