Anton Bruckner: Sinfonie Nr 9 (komplettiert) CD-Neuerscheinung

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Findest Du...?
    Über die Tempi sind viele SEHR geteilter Meinung ...


    Wie ich schon öfter schrieb: Wenn man Boschs Aufnahme hört, dann kommt man zwangsläufig nicht an den Tempi vorbei... ;)


    Wobei: Es gibt für mich kein pauschales "zu schnell" oder "zu langsam", es gibt eher ein "passend" oder "unpassend".


    Warum soll dem Bruckner-Liebhaber ein gleiches "Schicksal" verwehrt bleiben, mit dem sich der Beethoven- oder Mozart-Fan schon seit Jahrzehnten auseinandersetzen muß?


    Ich empfinde die Tempi selten als unpassend, im Gegenteil, das Trio des Scherzos ist mir in Relation zum Grundtempo zu langsam.


    Bei Bosch fällt auf, daß er "nur schnell" ist. Das Gefühl der "schönen, glattpolierten Oberfläche" hatte ich schon bei den ersten Hörsitzungen. Die Spielqualität des Orchesters ist sher hoch und beeindruckend, aber namentlich im Finale bleibt vieles zu sehr an der Oberfläche.


    Bei Ben oder bei Daniel Harding entdeckt man erst, wie viel Details im Finale stecken.


    Ob man überhaupt Gefallen am Finale findet oder ob es das Finale sein muß, ist eine ganz andere Frage, aber in der Detailarbeit hat Bosch ganz klar das Nachsehen.


    Und das ist für mich das eigentliche Manko der Aufnahme, nicht aber ungewohnt schnelle Tempi.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Liebe Forianer:
    Die folgende neue Rezension der CD wollte ich Euch nicht vorenthalten.
    Info zum Bruckner Journal und wie man es beziehen kann gibt es übrigens unter


    brucknerjournal.co.uk


    **************
    Bruckner, 9. Sinfonie, Sinfonieorchester Aachen, Marcus Bosch; SACD Coviello COV 30711
    Rezension von Colin Anderson


    The Bruckner Journal Vol. 12, Nr. 1, März 2008, S. 13f



    With a playing time of just under 70 minutes and this being a four-movement Bruckner 9, then it can be rightly assumed that tempos are swift. Whether any one listener will judge the end results as ›refreshingly direct‹ or merely ›matter of fact‹ is for each to decide. This isn't a ruthless account, however, and there are moments in the first movement that are properly reflective: if anything they seem rather abrupt admist the general ›let's get on with it‹ approach, which can seem far too business-like at times. Movement timings are 20, 11, 19 and 20 minutes. Proportionally this reads well, but there can be undue haste – certainly in the first movement – and while Marcus Bosch has the measure of the music, and his orchestra is a dedicated exponent, this opening movement doesn't always flow organically, which in effect makes it more sectional than can be the case, simply because Bosch alerts the listener to his (rather than Bruckner's) haste by making some parts slower, favourably so for those particular bars, but not to the whole. Such restlessness seems like misjudgement rather than being deeply perceptive of the music's course. The Scherzo moves along well and enjoys incision, but lacks menace – the recording, naturally made in a resonant acoustic, doesn't always allow the strings proper attention in tuttis and the effect of climaxes can be a little soft-focused because of the orchestra's relative distance – with a Trio that, in context, is surprisingly lumbering. Within a four-movement design, Bosch's unsentimental way with the Adagio has merit, but also eschews momentous gesture, the music pressed into an interpretative template that lacks yield. It's a Classicalapproach that can deny Bruckner his outreach, his thinking beyond – some passages in the Adagio here simply pass by as if inconsequential, and while it could be argued that Bruckner performances can be overloaded with meaning and significance, this one goes to the other extreme: at times I was interested in Bosch's approach but rarely convinced and moved. This is the first recording of the 2006 edition of the Finale completion – and made on 28 May 2007. Bosch's approach works best in this movement, keepingthings on the move and providing a convincing structure for the music to stand in resolution.

  • Liebe Forianer:
    Wie Ihr Euch denken könnt, sammele ich alle Rezensionen zum Thema Bruckner Neun mit Finale, die ich bekommen kann. Nicht vorenthalten möchte ich Euch auch diesen neuen Beitrag vom 4.4. aus der Aachener Zeitung. (Titel: ›Die schwere Aufgabe mit sportlichem Elan bestens gemeistert‹)


    Darin heißt es:
    »Die Bruckner-Einspielungen des Sinfonieorchesters Aachen unter der Leitung seines Chefdirigenten Marcus R. Bosch werden trotz des übersättigten Marktes überregional sehr wohlwollend und aufmerksam zur Kenntnis genommen. Das betrifft in besonderem Maße den von unserer Zeitung unterstützten Live-Mitschnitt von Anton Bruckners 9. Symphonie mit dem mühsam rekonstruierten Finalsatz, den die Aachener Musikdirektion mit Stolz als Welt-Ersteinspielung ankündigte. Es kann hier nicht im Detail gewürdigt werden, inwieweit sich die «letzte», über einen Zeitraum von 20 Jahren zusammengesetzte Fassung von früher eingespielten vorläufigen Bearbeitungen unterscheidet. Entstanden ist ein Finalsatz, der an Komplexität und Problematik den Schlusssätzen der anderen Symphonien nicht nachsteht. Entscheidend ist die Akzentverlagerung vom Adagio, mit dem die übliche, fragmentarische Fassung endet, auf einen konventionellen finalen Schlusspunkt. Die Umorientierung fällt Bosch nicht schwer. Feierliche Weihrauchschwaden interessieren ihn an Bruckner ohnehin nur marginal. Und er nimmt die Herausforderung erwartungsgemäß mit sportivem Elan an. Für die ersten drei Sätze markiert er mit knapp 50 Minuten einen Tempo-Rekord. Choralgeschwängerte Feierlichkeit hebt er sich in sparsamen Dosen für das Finale auf. Da mag manches, vor allem im Adagio, etwas nüchtern klingen. Aber mit dem Aachener Orchester ist so wiederum eine vorzüglich gestaltete Bruckner-Einspielung ent- standen. Das große Plus der CD in SACD-Qualität liegt in der klanglichen Transparenz, die der extrem halligen Live-Akustik der Nikolauskirche haushoch überlegen ist. Die Techniker fingen Boschs weite dynamische Bandbreite erfreulich plastisch ein. Dass das Blech den Streicherteppich mitunter immer noch zudeckt, berührt ein generelles Problem der Klangbalance des Orchesters, an dem Bosch noch arbeiten muss.«
    [Pedro Obiera, Aachener Zeitung, 4. 4. 2008]


    Die bisher erschienenen Rezensionen sind übrigens zum größten Teil positiv. Vornehm zurückgehalten haben sich inzwischen insbesondere deutsche Hifi-Printmedien: Obwohl mir Coviello Classics versichert hat, alle bekannten Magazine mit Rezensionsexemplaren bemustert zu haben, ist bis April 2008 in den einschlägigen Blättern noch keine Rezension erschienen, soweit ich weiß ...

  • Etliche Zeit wurde hier nichts mehr geschrieben. Nun würde mich als weitgehenden Bruckner-Laien aber doch interessieren, welche Aufnahmen es mittlerweile von den beiden Finalsatz-Rekonstruktionsversuchen gibt. Vielleicht könnte jemand ja eine kurze Auflistung der (auch im Handel erhältlichen) Einspielungen machen.


    :hello:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • hallo Joseph,


    für mich ist diese Aufnahme die erste Wahl Bruckners Neunten mit dem SPCM-Finale :



    Eine Aufnahme mit dem Nationaltheater-Orchester Mannheim unter der Leitung von Friedemann Layer. Leider nicht im Handel erhältlich; ich habe sie bei http://www.abruckner.com bestellt. Eine vorzügliche Aufnahme, in der auch die ersten 3 Sätze keine Wünsche offen lassen; das Finale ist nach der aktuellsten Fassung von SPCM eingespielt.


    Die Aufnahme von Bosch mit ihren irrwitzigen Tempi in ersten und dritten Satz ist für mich indiskutabel, sie steckt bei mir in der Schublade 'einmal und nie wieder gehört', für mich ist das eine Micky-Maus-Neunte.


    Als Alternative empfehle ich noch die Fassung mit Inbal :



    rolo

    Es wird immer weitergehn, Musik als Träger von Ideen.

    Kraftwerk

  • Super, vielen Dank, Rolo! :jubel:


    Von den zwei Aufnahmen habe ich noch nie etwas gehört, immer nur von Wildner und Bosch.


    Vom Marthé-Finale scheint's ja dagegen nur eine einzige Aufnahme zu geben.


    :hello:

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    – Luís de Camões

  • Neben der Vervollständigung durch SPCM gibt es zwei weitere solche Versuche (von Carragan und Letocart). Beide sicherlich philologisch nicht ganz so präzise wie SPCM - aber deshalb muss die Musik ja nicht unbedingt schlechter sein. Es gibt von beiden Versionen immerhin insgesamt sechs Aufnahmen laut abruckner.com. Leider habe ich bisher noch keine gehört.


    Zu Inbal wäre noch zu sagen, dass er damals die Rekonstruktion durch SPCM Stand 1984 verwendet hat. Das hört man schon recht deutlich. Ich würde die Aufnahme eher nicht empfehlen. Allerdings gefällt mir Inbals Zugang zu Bruckner und die eigenwillige (nicht unbedingt schlechte) sehr direkte Aufnahmetechnik von Teldec nicht so sehr. Auch wenn ich die Aufnahmen heute nicht mehr so grottig wie damals finde. ;))

  • Ich hatte ja gedacht, daß das Thema mittlerweile schon längst aus dem Gedächtnis der Menschheit gelöscht wurde.
    Aber gerade war tatsächlich ein Kunde da und hat "diese neue Aufnahme von Bruckners IX." bestellt, die endlich mal komplett aufgeführt worden sei... Bruckner IX reloaded.


    :pfeif: Jürgen

    Ich brauche keine Millionen, mir fehlt kein Pfennig zum Glück...

  • CD


    Endlich ist es soweit: Ein Weltklasseorchester, die Berliner Philharmoniker, haben die viersätzige Fassung von Bruckners letztem Werk aufgenommen, 2010 nach fast drei Jahrzehnten von vier Musikwissenschaftlern akribisch vervollständigt. "Von ca. 650 Takten sind nahezu 600 entweder in voller Partitur ausgeschrieben oder lassen sich eindeutig aus seinen umfangreichen Skizzen rekonstruieren. Und die vier wunderbaren Musiker, die viele Jahre lang am Finale arbeiteten, sagten, dass sie letztendlich nur 28 Takte komponieren mussten, für die sie Material verwenden konnten, das bereits vorhanden war."


    Eigentlich ein Grund zum Feiern, oder? Auch wenn Sir Simon Rattle kein genuiner Bruckner-Dirigent ist. Die meisten Rezensionen bewerten die Aufnahme sehr hoch, 4 von 5 Sternen ist wohl der Durchschnitt. Die Klangqualität soll nicht so absolut ideal sein, aber es gibt ja noch eine SACD-Fassung (als Import):


    SACD


    Wer hat sie schon gehört? Was sagt ihr dazu? Es geht natürlich vorrangig um den Finalsatz, der jeden wohl am brennendsten interessiert.


    :hello:

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    – Luís de Camões

  • Wer hat sie schon gehört? Was sagt ihr dazu? Es geht natürlich vorrangig um den Finalsatz, der jeden wohl am brennendsten interessiert.


    Lieber Joseph,


    frag' mich in einer Woche noch einmal... ;)


    Meine CD kommt erst am 01.06., zusammen mit der Rott-Sinfonie (und dem hr-Sinfonieorchter und Järvi).

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


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  • Eine Einschätzung würde auch mich interessieren. Rattle hat die 9. vor Jahren in Berlin gespielt. Die Rundfunkübertragung hatte ich seinerzueit mitgeschnitten und war davon nicht sonderlich begeistert. Aber im Laufe der Jahre mögen sich ja auch Sichtweisen ändern. Vor allem reizt mich der 4. Satz (logisch). Der begeistert mich nach wie vor unter Harding am meisten (leider ist aus dieser Stockholmer Aufführung keine CD geworden). Würde mich also interessieren, wie sich Rattle gegen Harding behauptet.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Lieber Joseph II, lieber Thomas,


    meine ersten, kurzen Höreindrücke aus dem "was höre ich gerade"-Thread kopiere ich der Einfachheit halber hier noch einmal hinein:


    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • und auf einem Level mit den leider nicht kommerziell erhältlichen Aufnahmen von Ben Cohrs und Daniel Harding.


    Klasse ! Dann kann ich mir den Kauf dieser Rattle-Neuaufnahme der viersätzigen Fassung ja im Prinzip sparen. :thumbup: Denn ich habe die Daniel Harding-Aufnahme vorliegen, von der ich auch bisher den besten Eindruck hatte. Das scheint die derzeit beste Wahl für die Sinfonie Nr.9 in der komplettierten Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca-Fassung zu sein.


    Nicht nur bei Rattle gibt es magische Momente im 3.Satz (und 4.Satz)... wenn das der einzige Vorteil ist ?
    Total enttäuscht, mit baldigem Absatz der CD, war ich von Wildner (Naxos).


    ;) Was die ersten drei Sätze angeht liegen bei mir ohnehin andere Aufnahmen vorn ... u.a. der Wahnsinn von Bernstein (DG) ...

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • hallo miteinander, nun will ich auch mal meinen Senf dazu geben :


    ich habe mir die Rattle-Aufnahme zwei mal angehört. Ok, beim ersten mal bin ich eingeschlafen, aber das lag nicht an der Musik. Beim zweiten mal war ich dann hellwach, und - es hat sich gelohnt. Auch wenn Rattle den Bruckner für meinen Geschmack ein bisschen (aber wirklich nur ein bisschen) zu schnell dirigiert (wie viele), liefert er doch eine feine Vorstellung ab, insbesondere im dritten Satz. Und das Finale lässt auch nichts zu wünschen übrig, herrlicher Bruckner, auch mit seinen Dissonanzen. Mir ist zwar die Layer-Aufnahme nicht mehr so direkt im Ohr und kann jetzt nicht sagen, ob da wirklich Welten dazwischen liegen, aber ich kann mich erinnern, dass sie mir damals gut gefallen hat. Und dass Rattle für mich jetzt nicht DIE Referenz ist, was die ersten 3 Sätze betrifft, das kann man bei 60 anderen Aufnahmen der Neunten, die ich besitze, nicht erwarten. Aber sie ist SEHR GUT :thumbsup:


    rolo

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  • Danke für die Einschätzungen!


    Das deckt sich weitgehend mit meinen eigenen. Obwohl ich m. E. nicht im Ruf stehe, ein Rattle-Fan zu sein, muss man doch konstatieren, dass die Aufnahme sehr gelungen ist. Man merkt, dass Sir Simon und die Berliner mit viel Tatendrang an die Sache herangehen. Bei den ersten drei Sätzen gibt es tatsächlich unzählige mindestens gleichwertige Alternativen, aber was das Finale angeht, so dürfte hier doch gewissermaßen eine neue Referenz geschaffen worden sein.


    Es wäre natürlich wünschenswert, würden sich andere große Bruckner-Dirigenten der Gegenwart (Abbado, Haitink, Skrowaczewski usw.) auch dieses neuen Finalsatzes erbarmen und ihn zur Aufführung bringen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

  • Es ist nicht nur das Finale, mit dem Rattle für mich einen neuen Maßstab setzt, es ist vielmehr die "neue Sichtweise", die er auf das Werk eröffnet hat.


    So radikal exemplarisch wie er hat noch niemand aufgezeigt, daß Bruckners 9. eben nicht nach dem dritten Satz zuende ist und daß auch im Adagio der offenbarte Friede nur ein scheinbarer ist.


    Wenn man z.B. Johannes Wildner hört, dann hört man drei konventionelle Sätze und quasi als Appendix das rekonstruierte Finale. "Konventionell" bedeutet für das Adagio geglättete Strukturen nach der großen Dissonanz und ein Abbremsen der Musik fast bis zum Stillstand. So kann man das Adagio dirigieren, wenn man die dreisätzige Version dirigiert, wenn man den Satz als "Bruckners Abschied vom Leben" deutet.


    Aber das Adagio ist kein Abschied.


    Harding geht in seiner Sichtweise schon einen Schritt weiter. Bei ihm wird das Adagio im ruhigen Fluss beendet, so wie es dirigiert werden muß, wenn noch ein vierter Satz folgt.


    Rattle begreift die Sinfonie von vornherein als viersätziges Werk und er arbeitet so konsequent wie niemand zuvor Bruckners Wandel in den Kompositionstechniken heraus. In Bezug auf Tonalität, Harmonik und thematische Durchführung, wie im sehr informativen Beiheft dargelegt wird, beschreitet Bruckner neue Wege - die aber nicht erst im Finale, sondern er legt die Grundsteine dafür schon im Adagio.


    Simon Rattle selbst beschreibt es wie folgt: "Wenn man das Gefühl hat, dass der langsame Satz beschaulich endet - und liebevoll auf seine früheren Werke zurückschaut - kommt das Finale als Schock. Es ist jedoch erstaunlich, dass die Musik nach dem glühenden Höhepunkt des Adagios - der mit einer Dissonanz endet, wie sie nie zuvor in klassischer Musik zu hören war und so extrem ist, dass sie um die letzte Jahrhundertwende neu harmonisiert wurde - wieder zum Anfang des Adagios zurückkehrt und im gleichen Tempo fortfährt. Das Ende des Adagios sendet Signale, die durch ein gewaltiges Finale gelöst werden müssen."


    Und genau das macht Rattle hörbar.
    Und genau das macht Rattles Aufnahme so außergewöhnlich.


    Ich hatte große Skepsis, weil sich Rattle bei der 7. und noch viel weniger bei der 4. als für mich guter Bruckner-Dirigent präsentiert hatte, hier hat er mich in den letzten beiden Sätzen vollkommen und in den ersten beiden größtenteils überzeugt.

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Ein Detail scheint mir noch erwähnenswert. Weiter oben schrieb ich:


    Zitat

    3. Satz: Ganz, ganz großes Kino! Rattle kann ein Dirigent der "magischen Momente" sein. Das von ihm dirigierte Adagio ist definitiv eins. So schmerzvoll habe ich es ganz selten gehört und empfunden. Rattle traut sich den Satz so modern-dissonant spielen zu lassen wie kaum ein anderer Dirigent vor ihm.


    Das modern-dissonante und der enthaltene Schmerz werden so intensiv dargeboten (und erlebt), daß Rattle offenbar der Meinung ist, daß danach dem Hörer erst einmal Zeit zur Erholung gewährt werden müßte. Nach der großen Dissonanz erfolgt eine neun sekündige (!) Generalpause. So lange wird Bruckner sie nicht notiert haben, aber sie verfehlt ihre Wirkung nicht.


    Der "Schock muß erst einmal verdaut werden"...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • hmmm, erstaunlich. mir gefällt der dritte satz nicht sonderlich; ja, ich finde ihn sogar eher geglättet ..ganz anders bei giulini oder bernstein.


    insgesamt hat mich rattle - wie fast immer - enttäuscht. der zweite satz viel zu langsam, zu wenig brutal. der erste satz noch ok. und das finale...ja, das finale war der grund des kaufs ... nicht übel, das muß ich sagen, auch wenn ich das finale bei immer häufigerem hören doch kompositorisch recht einfach finde... da wiederholt sich einfach vieles viel zu oft. von DEM so ewig erwartetem offenbarungs-finale ist - wie ich finde - nicht allzviel zu hören.


    aber, ich warte noch immer auf eine spitzeneinspielung .. mal sehen, wie lange noch ...


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • ... da wiederholt sich einfach vieles viel zu oft. :


    Das ist ein zentrales Manko Stilmittel bei Bruckner... :stumm: :angel:


    Ich habe allerdings nur die Wildner-Aufnahme und die Harnoncourts der Fragmente und mich mit beiden noch nicht näher befasst. Ich weiß nicht, ob Ben Cohrs hier oder anderswo im Netz die Vorgehensweise bei der Rekonstruktion mal genauer beschrieben hat. Es wäre jedenfalls nachvollziehbar, wenn das, was in höherem Maße rekonstruiert werden musste, vergleichsweise schematisch, oft als Wiederholung oder geringe Variation unstrittiger Teile ausgefallen wäre.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner

  • Das ist ein zentrales Manko Stilmittel bei Bruckner... :stumm: :angel:


    Ich habe allerdings nur die Wildner-Aufnahme und die Harnoncourts der Fragmente und mich mit beiden noch nicht näher befasst. Ich weiß nicht, ob Ben Cohrs hier oder anderswo im Netz die Vorgehensweise bei der Rekonstruktion mal genauer beschrieben hat. Es wäre jedenfalls nachvollziehbar, wenn das, was in höherem Maße rekonstruiert werden musste, vergleichsweise schematisch, oft als Wiederholung oder geringe Variation unstrittiger Teile ausgefallen wäre.)

    Es gibt im rekonstruierten vierten Satz einen punktierten Rhythmus, von dem Rattle sagt - was ich sehr treffend finde -, dass er "nahezu wie besessen" wiederkehre. Beim ersten Mal hat mich das auch eher gestört, aber je öfter ich den Satz inzwischen gehört habe - und man erfasst dieses komplexe Stück nun wirklich nicht auf Anhieb - um so eindringlicher und aufwühlender finde ich ihn. Und wie weiter oben Norbert beschreibt, meine auch ich, dass es Rattle großes Verdienst ist, die 9.Symphonie erstmals konsequent auf diesen vierten Satz hin angelegt zu haben - was auch insgesamt dann zu einem anderen, durchaus ungemütlicheren Ergebnis führt als bei seinen Kollegen, die das Werk doch immer eher als Abgesang und Ausklang interpretieren - nichts davon bei Rattle, das ganze Werk wirkt rhythmisch stärker strukturiert und dadurch von der Wirkung her wilder und radikaler. Für mich die bedeutendste CD seit langem, erstmal wird das Ausmaß und die Anlage dieser Symphonie erfassbar. Es ist wirklich ein Jammer, dass der ausführliche thread von Cohrs hier in diesem Forum zu eben diesem Satz, wo er regelmäßig über seine Arbeit berichtet hat, nicht mehr einsehbar und gesperrt ist. Warum eigentlich, Alfred, darf man das erfahren? Es wäre von unschätzbarem Wert für Liebhaber wie mich, jetzt - wo endlich die Früchte dieser Arbeit aufgehen und endlich auch mal mit einem Spitzenorchester umgesetzt werden (ich kenne fast alle anderen Aufnahmen bis auf den für mich nicht greifbaren Mitschnitt von Harding) - im Detail nachzulesen, wie das alles entstanden ist und welche Fragen und Probleme Cohrs beschäftigt haben. Ich bitte darum, diesen thread wieder freizuschalten!


    Viele Grüße,
    Christian

  • Ben hat glaube ich sogar hier im Forum über das Vorgehen bei der Rekonstruktion geschrieben. Immerhin, der 4. Satz der 9. ist wohl ein Work in Progress: im Detail zueigen sich Unterschiede zwischen der Harding- und der Rattle Aufnahme, die nicht aus unterschiedlichen Sichtweisen auf ein und denselben Notentext heraus begründbar sind.


    Das, was ich bislang von der Rattle-Aufnahme gehört habe gefällt mir ausnehmend gut. Die inoffizielle Harding-Aufnahme besticht allerdings durch filigrane Detailarbeit, gerade bei den Streichern, da geht bei Rattle das Eine oder Andere unter. Oder die gespielte Version wurde nochmals überarbeitet. Das etwas Plakative ist mir allerdings in den Teilen aufgefallen, die in dieser Form als gesichert von Bruckner gelten dürfen (und partiell bereits in den 1930er Jahren von Siegmund von Hausegger eingespielt woren sind). Auffällige Änderungen gegenüber der Harding-Aufnahme betreffen das Finale des vierten Satzes: da taucht plötzlich ein Thema aus dem ersten Satz auf, um eine völlig neue Coda einzuleiten. Nun gut, die war auch schon in der Harding-Aufnahme neukomponiert, und ich gebe gerne zu, dass die von Rattle gespielte Version runder, auch glaubhafter klingt, wenngleich im Vergleich zum Restwerk ein wenig zu strahlend. Dies alles ein Eindruck nach dem ersten Hören der Rattle-Aufnahme. Ohne Bosch/Wildner/Layer zu kennen muss man wohl auch bei den sogen. Finalversionen davon ausgehen, dass Ben Cohrs kontinuierlich weiter daran arbeitet.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
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