Die Liedinterpretationen des Dietrich Fischer-Dieskau - Zeitlos gültig oder modisch vergänglich ?

  • Sagitt meint:


    Ich hatte das selbstverschuldete (Miss)Vergnügen, den Sänger in einem Interview kennenzulernen.Das ist bei einer Beurteilung aber keinesfalls irgendein entscheidender Punkt. Wir sprechen über den Künstler, den Sänger, und ein herausragender Künstler vermittelt uns die Illusion des Als.ob.


    Das konnte Fischer-Dieskau grossartig. Wenn man seine Bach-Interpretationen hört, hält man ihn ( zu Unrecht) für einen tiefgläubigen Menschen.


    In aller Regel wird das Erscheinungsbild vom "Künstler" dominiert. Aber es gibt auch Zeugnisse von ihm, die seinen Charakter zeigen und der ist eher unangenehm. Wie er seine Frau schurigelt, in einer Aufnahme von Tod und das Mädchen( immerhin auch sie ein Star), ist peinlich. Vor dieser Veröffentlichung hätte man ihn bewahren müssen. Selbstkritik war nicht seine Stärke. Deswegen gibt es zu viele Aufnahmen von ihm, die nicht das Licht der Öffentlichkeit hätten erblicken sollen.


    Nun ist er 85 und dem Vernehmen nach ziemlich deprimiert ( der noch ältere Reich Ranicko gab von Altersverdrossenheit gerade in der ZEIT ein erschreckendes Beispiel).


    Ob ihm zum Feiern zumute ist ?

  • Meine Freunde,


    um nicht alles von neuem aufzuwärmen, beleuchte ich mal ein paar abgelegenere Aspekte.


    Ketzerisch möchte ich zunächst sowohl den Verdienst Fischer-Dieskaus für den Liedgesang im allgemeinen sowie eine spezielle interpretationshistorische Führerschaft im besonderen, wie vielfach hier dargestellt, anzweifeln.


    Wenn man z.B. bei Stockhausen (Julius) ansetzt, wird man eine ununterbrochene Tradition der Liedpflege bis in die unmittelbare Nachkriegszeit feststellen. Es gibt hier einfach keinen Raum für einen Hiat des Vergessens, der Versenkung, des Dornröschenschlafs usw. (von der Hausmusikpraxis einmal ganz abgesehen).


    Der wahre Verdienst wahr wohl eher, gemeinsam mit z.B. Schwarzkopf einem alliierten Publikum deutsche Kultur wieder "unbelastet" nahezubringen (eine nicht bloß dankbare Aufgabe).


    Wenn man aber die zeitgenössische Plattenproduktion der 50er und 60er heranzieht, wird man eine solche Fülle hervorragender Einspielungen finden, daß die Vereinseitigung des Blicks gerade auf Fischer-Dieskau denn doch etwas scheuklappig wirkt. Ich denke an die verschiedenen Auswahlplatten der Schwarzkopf, Schubertlieder von Streich, Mussorgskijs Kinderstube von Seefried, die frühen Liedauswahlen der Rothenberger und Preys, an Wunderlich, um bloß die namhaftesten zu benennen.


    Das durchgängig sehr hohe Niveau der Liedinterpretation jener Zeit wird von Fischer-Dieskau gewiß quantitativ dominiert. Aber ich würde es vorziehen, für jene Epoche eine Art Schule deutscher Gesangskunst zu hypostasieren, für die Schwarzkopf und Fischer-Dieskau nur als Extrembeispiele fungieren (exemplarisch und didaktisch).


    Für mich waren es immer die symbolischen "Liederabende" ausgewählter Liedprogramme und allenfalls die großen Zyklen (Winterreise, Dichterliebe usw.), bei denen Fischer-Dieskau seine größte Wirkung erzielte (z.B. "Stille Tränen" in der 57er DGG der Kernerlieder mit Weissenborn). Das hängt gewiß an der Möglichkeit sorgfältiger Selektion und Kontrastierung der Stücke.


    Mit den dicken Alben der "sämtlichen Schubertlieder in zeitlicher Reihenfolge" ergeht es mir wie mit den sämtlichen Bachkantaten - das spielt ins Bibliothekarische und Lexigraphische. Da lobe ich mir Rita Streichs dramaturgische Auswahl, wo z.B. dem "Auf dem Wasser zu singen" Höltys "An den Mond" sowie Claudius´ "An die Nachtigall" und "Wiegenlied" sowie Mayrhofers "Nachtviolen" beigesellt sind - eine großartige Reihung von Nachtstücken in exquisiter Darbietung.


    Ich glaube eigentlich nicht, daß man schon durch die Menge der Aufnahmen recht bekommt - gäbe es bloß dies eine Lied von ihr, so trüge die de Los Angeles durch ihre Interpretation von "Auf Flügeln des Gesanges" gegen alle Dieskauisierungen und Schwarzkopfereien die Palme der Poesie davon.


    Selbstredend hängt die Latte für das Kunstlied seit jener Zeit ziemlich hoch. Aber es bleibt fragwürdig, eine so große Wichtigkeit der Einzelwortausdeutung beizumessen, wodurch die Stimme - auf dem Wellenkamm der Melodie - gleichsam permanent kleine Paraden und Kunststückchen aufführt. Bereits der junge Fischer-Dieskau verfällt bei Straussens "Ständchen" ins allzu illustrative (statt primär ein feurig drängender Liebhaber zu sein); und eine so singuläre Aufnahme wie der "Erlkönig" der Schwarzkopf mit drei perfekt gegeneinander abgesetzten Singcharakteren hinterläßt im Ohr ein Fragezeichen, da dieses Singen mit verteilten Rollen, der böse Feenfürst zumal, im Grunde außermusikalische Übertreibungen sind. Fischer-Dieskau hat den Erlkönig (als musikalische Rolle) stets in vollendetem Wohllaut, im Einklang mit Schuberts Musik, ohne alle boshaften Fratzen gesungen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat


    Original von Sagitt
    Wenn man seine Bach-Interpretationen hört, hält man ihn ( zu Unrecht) für einen tiefgläubigen Menschen.


    Ja!
    Genau diesen "authentischen" Eindruck hatte ich bereits, als ich mir seine Aufnahmen als 10-jähriger Junge anhörte. Ich konnte wohl noch nicht beschreiben, woran das liegt, oder wie er das macht, aber ich habe sehr intensiv diese Erlebnisse von Authentizität gehabt..


    Das galt und gilt bei mir übrigens auch für seine Liedinterpretationen.
    Gerade eben hörte ich wieder einmal das Lied "Nähe des Geliebten" von Schubert (D 162) mit Fischer-Dieskau (Bariton) und Gerald Moore (Klavier).
    Schöner und überzeugender interpretiert kann ich mir das nicht vorstellen.
    Ich glaubte früher tatsächlich, dass er derjenige sei, der mit diesen Worten seine Verbundenheit und Liebe ausdrücken will.
    Fischer-Dieskau versetzt sich sehr in die Rollen der singenden Personen.
    Eine Folge davon ist, dass die sprachlichen Bilder vor dem geistigen Auge des Hörers auftauchen( was "technisch" gesehen unter anderem durch seine Art der Ausprache und Vokalfärbung erreicht wird, aber nicht nur dadurch):


    "....der Sonne Schimmer, der vom Meere strahlt"


    oder


    "...wenn dort mit dumpfen Rauschen, die Welle steigt"


    Das Wort "dumpf" klingt genau so, und beim Wort "rauschen" rauscht es durch die besondere Aussprache der Konsonanten.


    Seine Aufnahme des Schwanengesangs von Schubert mit Brendel am Klavier trägt auch genau diese Züge.
    Für mich hört es sich so an, dass es hier nicht der Sänger Fischer-Dieskau ist, der uns etwas von Schubert vortragen möchte, sondern dass er selbst der "unglückselige Atlas" ist, oder dass er "sich auch schwellender Triebe bewusst" ist, usw..... (hier könnte man sehr lange weitermachen)


    Meine starke Vermutung ist, dass diese interpretierende Aussprache aus einer textlich-musikalischen Verinnerlichung während des Vortrags bei ihm ganz natürlich entstanden, und nicht dauernd bewusst konstruiert wurden.


    Ich kann mich da an eine TV-Dokumentation erinnern, bei der er einem Gesangsschüler Interpretationsunterricht gab.
    Für ihn war wichtig, dass der Schüler die Sonnenstrahlen hinter den Bergen wirklich in seiner Phantasie sah.
    Es war interessant zu sehen, wie die beiden Sänger im unisono die gleiche Stelle sangen, und beide mit ausgestrecktem Arm in die Ferne "hinter den Bergen" zeigten.


    Wahre Kunst ist eben viel mehr, als nur Noten und Melodien stimm-schön zum Klingen zu bringen...


    Um auf Alfreds Eingangsfrage einzugehen:


    Wenn etwas wirklich gut ist, dann nennt man es irgendwann "klassisch", weil etwas darin enthalten ist, dass man als zeitlos bezeichnen kann.
    Ich sage nicht, dass alle Interpretationen dieses Sängers derart exemplarisch gelungen sind. Aber da gibt es schon relativ viele Aufnahmen, die ich immer noch als Referenzen, wenn nicht gar als Überreferenzen ansehe.


    Das alles ist selbstverständlich auch sehr vom persönlichen Geschmack beeinflusst, weshalb ich jetzt nicht die unbestreitbar hohen Verdienste des Sängers durch seine Gesamtaufnahmen als Argument für seine "interpretationshistorische Führerschaft" (Farinelli) anführen möchte.
    Es kommt hier eben - wie so oft- darauf an, was man selbst hören will.
    Ähnlich, wenn auch nicht quantitativ derart ausgeprägt wie bei Helmut Hofmann ( dessen hier gemachten Statements ich wieder einmal in vollem Umfang zustimme) bin auch ich "befangen", weil Fischer-Dieskaus Versionen für mich oft den Erstkontakt mit ganz unterschiedlicher musikalischer Literatur in meiner Kindheit darstellten und mich oft begeisterten.


    Es gibt natürlich auch Fälle, bei denen mich andere Sänger mehr überzeugen können:
    Da, wo die Gattung des Kunst- und des Volksliedes vermischt wurden, wie z.B. bei den Deutschen Volksliedern von Brahms, finde ich, dass die grössere Natürlichkeit Peter Schreiers den Liedern besser bekommt, auch wenn dieser durchaus deutlich und viel interpretiert, aber eben auf eine m.E. diesen Liedern angemessenere, schlichtere Art und Weise.


    Bei den "ernsten Gesängen" desselben Komponisten höre ich hingegen wieder am liebsten Fischer-Dieskau...



    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Anlässlich des 85. Geburtstages von Dietrich Fischer-Dieskau wurde ja praktisch alles geschrieben, was soll man da noch hinzufügen?


    Aber eine Bemerkung zu Helmut Hofmanns Beitrag vom 27.02.2010 möchte ich doch noch machen - zum Punkt 1. wo es heißt:
    "Die Zeit der Potpourris aus Kunstlied-Highlights verschiedener Komponisten ging mit seinem Auftreten zu Ende."


    Gerade in jüngster Zeit erlebe ich, dass in Liederabenden wieder verschiedene Komponisten anwesend sind; bei meinem letzten Liederabend zu Pfingsten waren es deren fünf.
    Auch hier kann man unterschiedlicher Meinung sein, denn wie Helmut Hofmann sagte - und das ist richtig - gab es so etwas bei Fischer-Dieskau nicht.

  • Hier sind ja sehr gute und auch erhellende Beiträge über Dietrich Fischer-Dieskau eingestellt worden. Was soll man dazu noch weiteres sagen?


    Vielleicht den Versuch wagen, ein „neutrales“ Fazit zu ziehen?


    Ich meine feststellen zu können, daß sich hier einerseits die Bewunderer und andererseits die Kritiker des Sängers äußern. Was im übrigen auch nichts Besonderes ist; über jeden Künstler wird doch kontrovers diskutiert, egal ob Sänger, Instrumentalsolist oder Dirigent.


    Unbestreitbar, auch hier im Forum, ist die Feststellung, daß Fischer-Dieskau als ein „wundervoller Sänger“, der Geschichte geschrieben hat, in die Annalen eingehen wird. Das kann man schon, aber doch nicht nur, an der „Masse“ der Aufnahmen festmachen. Seit Fischer-Dieskau ins Plattenstudio ging, konnte man Jahr für Jahr unter zahllosen Platten eine Auswahl treffen. Und die dokumentieren eine einzigartige Stimme; mit Höhen und Tiefen; die Zustimmung und Ablehnung erfuhren. Wie immer bei Künstlern...


    Wie so viele Künstler, hat sich Fischer-Dieskau an Rollen gewagt, die letztlich auf eine Beschädigung der Stimme hinausliefen. Dazu zählen, beispielsweise, Wotan, Scarpia, aber auch Rigoletto und Falstaff. Merkwürdigerweise wird auch der Papageno, den Fischer Dieskau ja nie auf der Bühne, sondern einmal in der zu Recht gerühmten „Zauberflöten“-Aufnahme unter Böhm und, vorher, unter Fricsay gesungen hat, kritisiert. Ich kenne die Fricsay-Einspielung nicht bewußt, nenne aber die Böhm-Aufnahme meinen Favoriten. Man schelte mich, aber ich kenne keinen anderen Sänger, der die Gefühlswelt des Papageno so „hörbar“ zum Ausdruck bringt wie er. Als Beispiel nenne ich hier das Duett Papagena/Papageno: Ich habe die Überraschung und Freude noch nie wieder so gehört wie in diesem „Pa-Pa-Pa-Pa“-Geplappere. Ich besitze außerdem eine ganze Reihe von Einzelaufnahmen seiner Liedprogramme und möchte sie nicht missen.


    Aus alledem erhellt, daß ich erklärter Fischer-Dieskau-Fan bin. Dennoch weiß ich auch, daß es, nach William James Henderson, „nie einen vollkommenen Sänger gegeben“ hat. Und ich ergänze: „Den wird es auch nie geben!“ Insofern ist auch Fischer-Dieskau nur ein unvollkommener Sänger. Aber einer, der meine Bewunderung hat.

    .


    MUSIKWANDERER

  • Ich stimme musikwanderers Beitrag "fast" uneingeschränkt zu. Zwei Dinge möchte ich ergänzen.


    Richtig ist, dass er sich an Rollen gewagt hat (besser Dirigenten ihn dazu überredet haben, Karajan, Kleiber, Fricsay), die seiner Stimme nicht gut taten. Aber FD war so klug, bis heute nehme ich an, die Partien nie so lange zu singen, bis die Stimme beschädigt war. Beim letzten Satz von musikwanderer:... Insofern ist auch Fischer-Dieskau nur ein unvollkommener Sänger... würde ich gerne das Wörtchen "fast" vor unvollkommen einfügen.


    Liebe Grüße an alle FiDi-Fans, zu denen ich mich auch zähle,



    Bernward


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


  • Zu dem Trend, den ich in den Liederabenden der letzten Zeit meine erkennen zu können (ich habe ihn im Thread "Verballhornungen" beschrieben), gehört offensichtlich auch die Rückkehr zum Komponistenmix.
    Das fügt sich ja auch ganz gut. Wenn es um den möglichst großen Effekt geht, dann wird das Liedrepertoire zur Verfügungsmasse, aus der man dann die Stücke auswählt, mit denen man die größte Wirkung beim Publikum erzielen kann.
    Das geht dann nach dem Prinzip: Zwei Liedchen von Mozart, zwei Liedchen von Beethoven (darunter natürlich die Adelaide), vier Liedchen von Schubert, und so fort. Das Publikum ist entzückt und drückt seine Begeisterung selbstverständlich mit Beifall nach jedem Lied aus. Ab und zu ist auch mal anerkennendes Geraune zu hören, wenn es dem Interpreten gelang, ein Lied so zu singen, "wie Sie es noch nie gehört haben".
    Alles schon erlebt!


    Fischer-Dieskau hatte mit dieser alten Tradition des Komponistenmix in seinen Liederabenden gebrochen, und das aus gutem Grund. Er wollte dem Lied im öffentlichen Konzertleben das Gewicht geben, das ihm zukommt, wenn man es als das nimmt, was es ist: ein musikalisches Kunstwerk.
    Dem Lied haftete im Bewusstsein des klassischen Konzertbesuchers davor ja immer das Image der "Kleinkunst", des musikalischen Leichtgewichts an. Fischer-Dieskau wollte es davon befreien, und das ist ihm auch gelungen.
    Man mag ja, auch welchen Gründen auch immer, die Verdienste Fischer-Dieskaus um den Liedgesang anzweifeln, dieses Faktum ist - bei aller Lust am Zweifel - schwer aus der Welt zu schaffen.


    Ein wesentliches Mittel - von den interpretatorischen Mitteln einmal abgesehen - war, dass er sich bei seinen Liederabenden nicht nur auf einen Komponisten beschränkte, sondern, und das wird oft übersehen, bei der Auswahl der Lieder ein kompositorisches Prinzip walten ließ.
    Ich greife einmal ein beleibiges Beispiel heraus, um möglichst konkret zu argumentieren:
    Am 4. Mai 1971 sang er, begleitet von Günther Weissenborn, in Frankfurt Schubertlieder. Aufeinander folgten am Anfang: Der Strom (Mayrhofer), Auf der Donau (Mayrhofer), Der Wanderer (Schlegel), Gruppe aus dem Tartarus (Schiller), Litanei (Jacobi), Die Vögel (Schlegel), An die Freunde (Mayrhofer) ...


    Man sieht sofort:
    Hier gibt es eine deutlich erkennbare Linie, die nur vordergründig darin besteht, dass mehrmals derselbe Textautor auftaucht. Das kompositorische Prinzip erkennt man man Inhalt der Lieder: Es geht um das Motiv des Wanderers, um das Erschließen der Welt also, die passive und gestalterische Begegnung mit ihr, und schließlich um das Ende dieses Weges, das langsame Zur-Ruhe-Kommen, in dem sich der Tod ankündigt.


    Ich hätte gar nichts dagegen, dass man heute wieder zu dem alten Komponistenmix zurückkehrt, wenn bei der Auswahl der Lieder wenigstens ein - aus ihrem Gehalt hergeleitetes! - Gestaltungsprinzip erkennbar wäre und nicht Beliebigkeit herrschte.
    Andernfalls nämlich wäre man wieder hinter Fischer-Diekau zurückgefallen, und das kann doch eigentlich einem Liebhaber des Kunstliedes nicht recht sein.


    In einem Interview, das er zu seinem achtzigsten Geburtstag gab, berichtete er von einem Liederabend in den Niederlanden. Er wollte die "Winterreise" singen und das natürlich (wie immer) ohne Pause. Man verwies ihn dezent, aber nachdrücklich auf die Kaffeepause, die das niederländische Publikum gewohnt sei.
    Er ließ sich nicht beirren, verwies seinerseits auf die in diesem Liederzyklus gründenden Zwänge der Interpretation, und die Pause fand nicht statt.


    Das ist es , was ich meine:
    Primat hat das musikalische Kunstwerk. Alles andere ist sekundär!

  • Zitat

    Helmut schreibt einmal:
    (...) Fischer-Dieskau hatte mit dieser alten Tradition des Komponistenmix in seinen Liederabenden gebrochen (...)


    ...um dann einen Absatz später zu verkünden:


    Zitat

    Ein wesentliches Mittel (...) war, dass er sich bei seinen Liederabenden nicht nur auf einen Komponisten beschränkte (...)


    Watt'n nu?

    .


    MUSIKWANDERER

  • Lieber musikwanderer,
    darf ich Dich darauf aufmerksam machen, dass Du das "sondern" in diesem Satz übersehen hast?
    Die Satzkonstruktion lautet:
    "Er hat sich nicht nur auf einen Komponisten beschränkt, sondern ... auch..." .
    Die Feststellung besagt in der hier vorliegenden sprachlichen Formulierung also sinngemäß:
    Er hat sich auf einen Komponisten beschränkt und zudem auch noch ein kompositorisches Prinzip walten lassen.


    Das ist übrigens tatsächlich ein Sachverhalt, der bei der Gestaltung von Liederabenden nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, weil er erkennen lässt, dass es dem Interpreten um mehr geht als um die Präsentation von wohlklingenden Liedern und die damit einhergehende Entfaltung seines sängerischen Organs (obwohl das natürlich auch schon eine schöne Sache ist!).


    Hoffentlich habe ich Dich mit diesem Hinweis nicht verärgert. Es täte mir leid!

  • Lieber Helmut,


    wieso verärgert? I wo! Allerdings ist mir der Sinn jetzt erst durch Deine Erläuterung klar geworden. Mein "watt'n nu?" sollte ja humorvoll auf mein Unverständnis aufmerksam machen. Es muß also kein Leid entstehen - im Gegenteil: Ich danke herzlichst für mir erwiesene "Erleuchtung" !

    .


    MUSIKWANDERER

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  • Lieber Helmut Hofmann,


    Gefahr ist sicher nicht im Verzuge, was die deutlich erkennbare Linie der aktuellen Liederabende betrifft.
    Ob bei Güra, Goerne, Hampson, Holl, Jarnot oder Prégardien (das waren meine Liederabende in der jüngsten Zeit) ... immer ist ein System erkennbar, nie werden nur die bekanntesten Lieder angeboten.
    Ach die Zeiten als nach jedem Lied geklatscht wurde sind vorbei; in den Programmheften wird (bei "Mischprogrammen") in aller Regel darauf hingewiesen, dies nur nach abgeschlossenen Liedgruppen zu tun.

  • Hallo, sagitt,
    sicher hast Du in dieser Sache Recht, aber wie die beiden Eheleute Fischer-Dieskau/Varady Schumanns so selten gesungenes "Familiengemälde" op. 34, No. 4 singen, das ist einfach ein ganz wunderbares Hörerlebnis - hier herrscht hörbare Harmonie...


    Zitat

    In aller Regel wird das Erscheinungsbild vom "Künstler" dominiert. Aber es gibt auch Zeugnisse von ihm, die seinen Charakter zeigen und der ist eher unangenehm. Wie er seine Frau schurigelt, in einer Aufnahme von Tod und das Mädchen( immerhin auch sie ein Star), ist peinlich. Vor dieser Veröffentlichung hätte man ihn bewahren müssen. Selbstkritik war nicht seine Stärke. Deswegen gibt es zu viele Aufnahmen von ihm, die nicht das Licht der Öffentlichkeit hätten erblicken sollen.

  • Sagitt meint, Selbstkritik sei nie Fischer-Dieskaus Stärke gewesen, und infolgedessen gäbe es viele Aufnahmen von ihm, die nie hätten veröffentlicht werden dürfen.


    Ich wüsste gerne einmal, worauf sich diese Vorwürfe stützen und welche Aufnahmen ganz konkret damit gemeint sind. Mein Motiv: Ich müsste mein Bild korrigieren, das ich von diesem Sänger habe (und würde das dann auch tun).


    Das sieht nämlich ganz anders aus. Ich habe alles an Interviews mit ihm gesammelt, was je im Rundfunk und im Fernsehen gesendet wurde. Ich kenne (vermutlich!) alle Interviews, die gedruckt vorliegen, sowohl in Form von Büchern (z.B. "Musik im Gespräch" von Eleonore Büning) als auch diejenigen, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Buch "Nachklang" von ihm.


    Fazit: Ich könnte hier jede Menge Belege bringen, die zeigen, dass er mit seiner eigenen Leistung als Sänger und Liedinterpret höchst kritisch umgeht. Ich werde das auch tun, wenn es gewünscht wird.


    Zum Umgang mit seiner Frau.
    Da hat unsereiner natürlich keinerlei Einblick, zumal Fischer-Dieskau sein Privatleben von jeher sorgfältig abgeschirmt hat.
    Ich habe hier eine Filmaufzeichnung vorliegen, die zeigt, wie er mit Julia Varady zusammen eine Arie einstudiert. Er begleitet sie dabei am Klavier und gibt Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten.
    Ich finde, dass er dabei überaus liebevoll und behutsam vorgeht. Die Art, wie er das macht, lässt großen Respekt vor der Ehefrau und Künstlerin erkennen.

  • Es erstaunt mich, dass bei Fischer-Diekau von mangelnder Selbstkritik die Rede ist. Ich habe eher das Gegenteil erlebt. Mit Gottlob Frick und dem Heilbronner Sinfonie Orchester machten wir Tonaufnahmen im Münchner Bürgerbräukeller. Vorher hatte FIDI dort Aufnahmen eingespielt. Das Aufnahmeteam war mit den Nerven am Ende, weil der Bariton mit nichts zufrieden war und dann die Aufnahmen in kleinen Sequenzen nach seinen Wünschen geschnitten oder besser gesagt zusammen geschnipselt werden mussten. Dadurch wurde die Aufnahmezeit überschritten. Das sorgte bei den Frick-Aufnahmen ebenfalls für Hektik, weil der Bassist am Aufnahmetag abends in München singen musste. Der Lobl als Gemütsmensch beruhigte aber alle, so dass alles doch noch zeitgerecht klappte und es sehr befriedigende Aufnahmen wurden. Frick meinte allerdings als alles fertig war etwas mehr Zeit zum Abhören und für Korrekturen wäre besser gewesen.
    Zur Ausgangsfrage: Die Liedaufnahmen von Fischer-Dieskau werden zumindest für eine Epoche zeitlos gültig sein. Nach der Ära von Schlusnus, Hüsch, Rehkemper usw. leitete der Sänger einen Paradigmenwechsel ein, durch eine bis dato nicht gekannte Spannweite von feinster Lyrik bis hin zu dramatischster Ausdruckskraft. Aus dem Liedersänger wurde der Liedgestalter.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • In Ergänzung und als Beleg zu dem, was "operus" hier schreibt, möchte ich aus dem Buch von Herfried Kier, einem ausgewiesenen Kenner der Musikproduktionsszene zitieren (Herfried Kier, Der fixierte Klang. Köln 2006).
    Dort heißt es u.a.:
    "Als anspruchsvoll und nicht leicht zufrieden zu stellen galt bei vielen Tontechnikern Dietrich Fischer-Dieskau, der sich, besonders bei seinen Lied-Aufnahmen, bemühte, seine Klangvorstellungen durchzusetzen." (S.191)
    "Anlass zu Verärgerung bei Aufnahmen waren für Fischer-Dieskau aus seiner Sicht meist ungenügende oder schlecht platzierte Mikrophone und Mängel in der Balance zwischen Stimme und Klavier." (S.144)
    Der Produzent Suvi Raij Grubb berichtet in seinen Erinnerungen:
    "Die erste Sitzung mit Fischer-Dieskau ist immer anstrengend." (S.145)


    Der legendäre Produzent Walter Legge erzählt von einer Aufnahme von "Capriccio":
    "Finding himself with Gedda and Hotter in the gentle opening scene, Fischer-Dieskau felt overwhelmed by the other voices, and suddenly accused Legge and his technical staff of favouring his colleagues to his own disadvantage and detriment."


    Fischer-Diekau selbst berichtet aus den letzten Jahren seiner Liedaufnahmen:
    "Ich habe große Kämpfe ausgefochten mit dem sehr tüchtigen Aufnahmeleiter Teeje van Geest, der in Heidelberg ein Studio hat."


    Ich denke, das genügt jetzt.
    An sich sind Sänger ja (bekanntermaßen) nicht mein Thema, aber der Vorwurf mangelnder Selbstkritik gegenüber Fischer-Dieskau hat mich ein wenig schockiert, muss ich gestehen.

  • Meine Freunde,


    ich bedaure zutiefst, in welche Richtung dieser Thread sich bewegt, und appelliere an die Vernunft all derer, die sich hier zu einem der größten Künstlerpersönlichkeiten seiner und unserer Zeit bekennen.


    à propos Walter Legge - der war ja ganz bestimmt ein toleranter und unperfektionistischer Aufnahmeleiter :pfeif:


    Die sonderbar gehäuften Beurteilungen des manierierten, kühlen, überinterpretierenden Singens für Dietrich Fischer-Dieskau haben mich überrascht.


    Manieriert - schon das Wort wird irgendwie falsch verwendet. Manieriert ist z.B. ein Erwachsener, der sich an ein Kind wendet in der herablassenden Weise von "Ei, was hat denn unser Kleiner da Schönes?". Manieriert, eine Mischung aus aufgesetzt, künstlich-süßlich und perfide, dürfte keinen einzigen mir bekannten Sänger angemessen beschreiben, am wenigsten aber Fischer-Dieskau.


    Was allerdings frappiert, ist der bei aller Subjektivität der Ausleuchtung vorherrschende Eindruck der Objektivität. Fischer Dieskau singt gleichsam stets hinter der personellen Rolle, die ein leibhaftiger Sänger sonst nahelegt, am Gewissen der Worte entlang. Das lyrische Detail entspringt sozusagen direkt aus der (tiefgreifenden) Textkenntnis, weniger aus einer subjektiven Notwendigkeit (also einer Rolle, die der Sänger einnimmt, z.B. als Liebhaber, Einsamer, Wanderer usw.)


    Darin liegt auch ein gewisser Unterschied im Vortrag zu Elisabeth Schwarzkopf (mit der Fischer-Dieskau ja gerne verglichen wird).


    Ich bin mir im Klaren darüber, daß ich mich hier vielleicht etwas mißverständlich ausdrücke. Ich glaube indes, daß sich Fischer-Dieskaus hintangesetzte, ganz in den Dienst der lyrischen Qualität gestellte sängerische Subjektivität in einer Art von Demut, Innigkeit, beinahe Frömmigkeit niederschlägt, die den besten seiner Aufnahmen einen beinah extatischen Zug verleiht.


    Dieser Zug von Demut war bereits bei seinen frühesten Platten zu vernehmen und hat sich später - ich finde kein besseres Wort - quasi objektiviert.


    Sänger, die primär eine plastische Rolle einnehmen, erleichtern im Liedgesang die Identifikation des Hörers (ich denke natürlich an Hermann Prey). - Was auf viele bei Fischer-Dieskau "analytisch" wirkt, ist in Wirklichkeit die vokal entfaltete Palette des komplexen lyrischen Gebildes "Lied", für das dieser Sänger ein Medium sein möchte, kein bloßer Interpret. Das kann man bei utube bis in seine späten Aufnahmen verfolgen, deren hoher künstlerischer Wert bestechend ist.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat

    Der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau ist tot. Er starb im bayerischen Berg bei Starnberg kurz vor seinem 87. Geburtstag, wie seine Frau Julia Varady mitteilte. Der "Jahrhundertsänger" Fischer-Dieskau galt als der wahrscheinlich bedeutendste Vertreter des romantischen Liedgesangs. Er machte aber auch als Opernsänger, Musikpädagoge und Schriftsteller Karriere.

    (*)


    Er ruhe in Frieden.


    (*)Quelle: Meldung der dpa, am 18.05.2012, 13.26 h, entnommen aus hatetepe://www.general-anzeiger-bonn.de/news/ticker/Saenger-Dietrich-Fischer-Dieskau-gestorben-article765473.html

  • Die Meldung über den Tod Dietrich-Fischer.-Dieskaus - die ich übrigens bemerkenswerterweise über unser Forum erhalten habe – hat mich zu einer Art Rückblick veranlasst. Ich vertiefte mich in mein Fischer-Dieskau-Archiv, in dem sich alles findet, was ich an Schriftlichem über diesen großen Sänger im Laufe meines Lebens gesammelt habe: Hunderte von Kritiken, Konzertprogrammen, Zeitungsartikeln, Würdigungen, Interviews … Es wurde zu einem Rückblick auch auf mein eigenes Leben, das Fischer-Dieskau tatsächlich seit meiner späten Schulzeit begleitet hat.


    Seine Äußerung, die er im Jahre 2007 bei einem Interview machte, jenes Bekenntnis: „Manchmal sage ich mir, dass ich umsonst gelebt habe, dass es aus ist – vorbei“, erschütterte mich damals. Ich konnte sie in gar keiner Weise verstehen und machte auf der Stelle einen Eintrag in sein Gästebuch, das Monika Wolf im Internet führt (er ist im Thread „Fischer-Dieskau ist tot“ wiedergegeben).


    Der Schiller-Satz ging mir damals durch den Kopf: „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“. Fischer-Dieskau muss wohl so ähnlich gedacht haben, als er diese Äußerung machte. Seine Kunst ist eine höchst vergängliche, sich im Augenblick ereignende und mit ihm erlöschende: Die sängerische Interpretation eines musikalischen Werkes. Er hat dabei zwar übersehen, dass es, als dieser Satz von Schiller formuliert wurde, noch keine Tonträger und medialen Träger der Kunst des „Mimen“ gab, aber das verrät etwas über sein menschliches und künstlerisches Selbstverständnis: Es lebte und speiste sich ganz und gar aus der unmittelbaren interpretatorischen Begegnung mit dem musikalischen Kunstwerk. Und unmittelbar heißt: Dem Augenblick auf der Bühne und im Konzertsaal geschuldet, - und damit vergänglich.


    Aus unserer Perspektive, derjenigen, die gleichsam „Empfänger“ dieser Kunst waren, stellt sich dieses freilich ganz anders dar. Wenn auch vielleicht nicht auf der Opernbühne (ich kann es nicht beurteilen), - im Konzertsaal und auf der Schallplatte hat Fischer-Dieskau als Liedinterpret ganz zweifellos Geschichte geschrieben: Das Lied als die künstlerische Synthese von Lyrik und Musik ist bei seiner dem lyrischen Wort verpflichteten Interpretation des Kunstliedes der musikinteressierten Öffentlichkeit zum ersten Mal voll ins Bewusstsein getreten. Ich jedenfalls habe das so erlebt.


    Da ist aber noch etwas, worauf hingewiesen werden sollte. Joachim Fest hat dies in einer Würdigung Fischer-Dieskaus zu dessen sechzigstem Geburtstags ( beim beim Stöbern bin ich gerade darauf gestoßen) so formuliert:
    „Ausländischen Kritikern ist wiederholt der >deutsche< Charakter des Sängers aufgefallen, und sein englischer Biograph hat ihn sogar als >Inbegriff deutscher Kultur< bezeichnet. Auf die Frage, was darunter zu verstehen sei, hat einer dieser Kritiker, gesprächsweise und ohne sich lang zu besinnen, erwidert: Empfindungsfähigkeit, reflektierte Kunstleidenschaft und jünglingshafte Emphase.“

    Ich glaube, mit diesen Begriffen ist ein Wesensmerkmal mindestens des Liedinterpreten Fischer-Dieskau sehr genau getroffen. Vor allem der Begriff „reflektierte Kunstleidenschaft“ scheint mir sein eigentliches Wesen zu treffen: Diese – aus meiner Sicht – wirklich singuläre Einheit von musiksensibler Emotion und sprachorientierter Reflexion in der sängerischen Interpretation des Kunstliedes.

  • Dass Fischer-Dieskau vom Kunstlied kam, merkte man auch seinen Operninterpretationen an. Wenn er den Schlussmonolog des Hans Sachs in den "Meistersingern" sang, dann sang da kein Schuster, nein: dann sang der deutsche Nationalpoet. Ob das dieser Rolle völlig gerecht wird, sei mal dahingestellt. Aber ich kenne sonst keinen, der das auf diese Weise sang. So "deutsch" (im besten Sinne!) klang das auch selten. Insofern würde ich "Inbegriff deutscher Kultur" unterstreichen.


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich könnte, wie Helmut, sagen: Dietrich Fischer-Dieskau begleitete mich seit meinen Schülertagen. Doch das griffe historisch zu kurz. Denn dieser Künstler trat gleichsam mit der jungen Bundesrepublik aufs Podium, in einer unerschöpflich reichen Generation, zu der der wenig jüngere Prey, Streich, Schwarzkopf, Grümmer, Ludwig ebenso zählen wie Wunderlich, Callas oder Christoff, um nur ganz wenige zu nennen.


    The show must go on, wenn auch mit kleineren Namen. Zwischen Bostridge, dem Schüler, und etwa Gerhaher, einem verantwortungsbewußten Lied- und Konzertsänger in Fischer-Dieskaus Fußstapfen liegt die Perspektive seines Lebenswerks, seiner Lebensleistung beschlossen.


    Wir müssen uns, wie zu vielem, was zwischen 1950 und 1970 entstanden ist, staunend zurückwenden, dankbar, daß es möglich war - Eva Rechel-Mertens´ Proust-Übersetzung oder die des Ulysses von Hans Wollschläger (1975) ebenso wie der Ehrgeiz Walter Legges oder der Gruppe 47. Es war eine nachkriegsbedingt gehegte Blütezeit, die der deutschen Kunst zu ihrem Recht verhelfen sollte, auch vom Ausland aus.


    Sein Erbe scheint kein leichtes zu sein. Einen legitimen Nachfolger hat er kaum, und es hält schwer, sich mit ihm zu messen. Kultur, einst ein Mittelpunkt gesellschaftlichen Lebens, rückt unaufhaltsam an die Peripherie der öffentlichen Wahrnehmung. Goethe, das Biedermeier und die Romantik sind längst nicht mehr das Zentrum unserer Selbstvergewisserung als Deutsche.


    Ein Künstler von solcher Reinheit und Demut, fernab jeden Glamours und Marketings, wird dennoch immer das Wesen der Kunst gegen seine Ausschlachtung für fremde Zwecke verteidigen und verkörpern. Wir sind ein gesegnetes Volk!


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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  • Hallo,


    kein Beitrag von mir, nur der Verweis auf die - für die große Linie - ganz hervorragenden Beiträge Nr. 11 + 12 (incl. hier bei Nr. 12) und Nr. 30 - für das Detail.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Der Hinweis von farinelli, dass es "zu kurz greift", wenn man hier anlässlich des Todes von Dietrich Fischer-Dieskau Gedanken aus ganz persönlicher Perspektive äußert, ist sicher berechtigt. Mein diesbezüglicher Beitrag (Nr.48) war der unmittelbaren Betroffenheit durch die Nachricht des Todes geschuldet.


    Ich werde mich bemühen, in einem ergänzenden Beitrag auf die gleichsam objektive Ebene abzuheben.

  • Zur Frage, worin die historische Bedeutung des Liedsängers und –interpreten Dietrich Fischer-Dieskau besteht (der Aspekt "Operngesang" soll hier ausgeklammert bleiben), finden sich in diesem Thread viele, auf die einzelnen Beiträge verstreute Aspekte und Anmerkungen. Es ist nicht sinnvoll, das alles noch einmal in ausführlicher Form zu wiederholen. Man kann versuchen, es mit wenigen Aussagen sozusagen auf einen Nenner zu bringen. Und das möchte ich wie folgt tun:


    Es sind im wesentlichen drei Bereiche, in denen der Liedinterpret Fischer-Dieskau Außergewöhnliches und seine historische Bedeutung Begründendes geleistet hat:


    1. Wie keiner vor ihm hat er interpretierend das Wesen des Kunstliedes als in Musik gesetzte Lyrik erschlossen. Die sängerische Gestaltung der melodischen Linie des Liedes setzte an der Aussage des lyrischen Wortes und an der diese reflektierenden musikalischen Struktur an. Es ereignete sich ein gleichsam reflektiertes – oder, wenn man so will, „intelligentes“ – Singen, bei dem die vokalen Ausdrucksmittel nicht Selbstzweck waren, sondern allesamt in den Dienst des lyrisch-musikalischen Textes und seiner kompositorischen Aussage traten. Wie sich das anhört, habe ich in dem Beitrag „Fischer-Dieskau und die Pappeln des Salis“ in diesem Thread beispielhaft darzustellen versucht (Beitrag Nr. 30).
    Jean Cocteau meinte Fischer-Dieskau gegenüber einmal: „Sie singen so, als würden sie im Augenblick des Singens gerade komponieren“. Damit ist das Wesen seiner Liedinterpretation in ihrem Kern erfasst.
    Bei all den großen Liedsängern vor ihm – Karl Erb, Heinrich Schlusnus, Gerhard Hüsch, Elena Gerhardt, Elisabeth Schumann , um nur die wichtigsten zu nennen - war Liedinterpretation dieser Art nicht zu vernehmen, - auch wenn Fischer-Dieskau sie lobend erwähnte und sich auf sie berief. Er selbst hat eine neue Kultur des Liedgesangs begründet. Die heutigen großen Liedinterpreten haben sie übernommen und weiterentwickelt.


    2. Fischer-Dieskau kommt das Verdienst zu, mit seinen Liederabenden und vor allem mit seinen Schallplatten-Produktionen das Repertoire des Kunstliedes in einer wahrlich singulären Weise erschlossen, erweitert und einem breiten Publikum zugänglich gemacht zu haben. Das gilt nicht nur für die Werke der bereits bekannten Komponisten. Er hat auch das Liedwerk von Komponisten erschlossen, die bislang weitgehend unbekannt waren. Die Namen hier aufzuzählen würde eine ganze Seite füllen. Sie reichen vom vorschubertschen Lied bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein. Man hat bei ihm den Eindruck, dass er von einer nicht erlöschen wollenden Neugier getrieben wurde, die sich nicht nur auf das deutsche Liedrepertoire erstreckte, sondern auch das französische und englische einbezog. Debussy, Ravel, Poulenc, Fauré, - ja sogar Tschaikowsky, - all diese Namen tauchen in der Diskographie auf, die Monika Wolf dankenswerterweise zusammengestellt hat. Das Blättern darin lässt einen staunen.


    3. Mit Fischer-Dieskau gewann der Liederabend eine neue Gestalt und einen neuen Rang als Konzertveranstaltung. Zum ersten Mal trat er dem sinfonischen Konzert und dem Kammermusikabend als gleichrangige und künstlerisch ernst zu nehmende Veranstaltung zur Seite. Zum ersten Mal auch konnte man den Liederabend nicht als Panoptikum von quer durch die Liedgeschichte zusammengestellten Highlights erleben, sondern als thematisch oder kompositorisch ausgerichtete Präsentation von Kunstliedern. Nicht nur die Lieder selbst, sondern auch ihre jeweilige Zusammenstellung waren reflektiert, - eine bewusst gestaltete, unter ein Thema gestellte Komposition. Das war neu. Und die Folge war, dass das Konzertpublikum das Lied als eine ernst zu nehmende Gattung der Musik erfahren konnte.
    Angemerkt sei in diesem Zusammenhang noch: Das Auftreten Fischer-Dieskaus als Liedinterpret bei Konzerten, die überaus beeindruckende Ernsthaftigkeit und die erlebbare innere Anteilnahme am Akt der Liedinterpretation – Engagement nennt man das heute – hatten ganz erheblichen Anteil an dieser Bedeutungssteigerung des Liedes als musikalische Gattung.


    Vielleicht, so denke ich, sollte noch ein vierter Punkt wenigstens kurz erwähnt werden, weil er sehr wichtig ist und hierhergehört. Nach dem Krieg war deutsche musikalische Kultur – wie überhaupt deutsche Kultur ganz allgemein – im europäischen und außereuropäischen Ausland nicht gerade besonders angesehen und beliebt. Die – um Grunde unfasslich zahlreichen - Liederabende, die Fischer-Dieskau im Laufe seiner Sängerlebens im Ausland veranstaltete – von der UdSSR, über Japan bis hin zu den USA – haben einen sehr wichtigen Beitrag dazu geleistet, das Bild Deutschlands nach dem Krieg zumindest musikalisch wieder zurecht zu rücken. Wenn man japanische, russische, französische oder amerikanische Kritiken seiner Liederabende liest, begreift man auch diese Leistung Fischer-Dieskaus in ihrer historischen Dimension und Bedeutung.

  • Der Hinweis von farinelli, dass es "zu kurz greift", wenn man hier ...



    Lieber Helmut, gemeint war lediglich, daß dies in meinem Fall zu kurz griffe, denn ich bin doch über eine Generation jünger als du. Nicht indignus est, sondern indignus sum ...


    :hello:

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  • Nein, lieber farinelli, -


    ich war selbst der Meinung, dass meine erste Stellungnahme zum Tod Fischer-Dieskaus "zu kurz gegriffen" hat. Sie entsprang ganz einfach der unmittelbaren Betroffenheit eines Menchen, der mit Fscher-Dieskau sozusagen aufgewachsen ist. Diese Perspektive ist aber eine sehr persönliche und wird der Bedeutung der Sache nicht gerecht.

  • Dieser Thread fragt nach der Gültigkeit der Liedinterpretationen Fischer-Dieskaus. Gültig im Sinne von künstlerisch bedeutsam, möglicherweise maßstabgebend und -setzend.


    Denn "zeitlos gültig" können sie ja wohl nicht sein. Das kann keine Interpretation von musikalischen Kunstwerken für sich in Anspruch nehmen. Zumal sie ja jeweils "aus der Zeit" - der Lebenszeit des Künstlers und der Welt, in der er lebte und arbeitete - hervorgegangen ist. Fischer-Dieskau selbst sah das so, - wie seinen Äußerungen, insbesondere in späten Interviews, zu entnehmen ist.


    Oder ist das doch nicht so? Gibt es das Phänomen der "zeitlos gültigen" Interpretation überhaupt? Und wenn ja, - wäre Fischer-Dieskaus Liedinterpretation so etwas wie ein - nun, nach seinem Tod - historischer Beleg dafür?


    Ich denke seit dem achtzehnten Mai immer mal wieder - wenn ich nämlich Lieder, von ihm gesungen höre - über diese Frage nach. Und ich gestehe: Bei all meiner Hochschätzung des Liedinterpreten Fischer-Dieskau (die Bewunderung sei als persönlicher Aspekt ausgeklammert) bin ich unsicher.


    Wer hilft mir weiter?


  • Auch ich kann mich mit dem Begriff 'zeitlos' für die Interpretationen nicht recht anfreunden. Ich persönlich, bin kein großer FiDi-Verehrer, was aber in dem Sinne nichts zur Sache tut, da ich seine Lebensleistung für die Musik und speziell das Kunstlied, deshalb nie in Frage stellen würde.
    Künstlerisch bedeutsam in jedem Fall, maßstabgebend möglicherweise auch, allein schon wegen der Tatsache, dass er ja vieles erst erschlossen hat, was bis dahin gar nicht mehr vorgetragen wurde.
    Aber zeitlos gültig, nein, das würde ich bezweifeln (wie helmut fragt, gibt es das überhaupt bei irgendeiner Form von Interpretation?). Für mich spricht allein schon dagegen, dass er trotz aller Bedeutung, jedenfalls nach meiner Meinung, einen doch sehr individuellen Stil hatte, der sich so nicht auf andere Sänger in anderen Zeiten übertragen lässt (wenn es doch versucht wird, klngt das meistens sehr albern).

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • So lange höre ich noch gar keine Klassische Musik, erst ungefähr seit einem Jahr. Leider stehe ich damit auch ziemlich allein in meiner Umgebung da, weil sich kaum jemand in meinem Bekanntenkreis dafür begeistern kann. Auch die Aufführungslandschaft ist in meiner Gegend eher spärlich (zudem bin ich nicht im Besitz eines Autos), so habe ich bis heute auch kaum „Live-Erfahrung“.


    Hallo Schall und Wahn,


    wenn ich mir Deine 98 Beiträge seit 05.06.2012 durchlese (z. T.) und dazu Deinen Beitrag im Vorstellungsthread (auszugsweises Zitat s. o.) - dann bring' ich das nicht "unter einen Hut". Aber wahrscheinlich geht das nur mir so.


    zweiterbass


    Und was hat das mit Dietrich Fischer-Dieskau zu tun?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat

    Aber wahrscheinlich geht das nur mir so.


    Keineswegs.


    ^^ Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Ich lese gerade den früheren Beitrag von Glockenton vom 28. 05. 2010 zu diesem Thema, und ich kann mich eigentlich jeder Feststellung von ihm zu der Interpretationskunst DIETRICH FISCHER-DIESKAUS und deren Stellenwert nur anschließen. Sein Beispiel bezüglich der Interpretation von SCHUBERT's "Nähe des Geliebten" könnte auch aus meiner Feder stammen, nur hätte ich vermutlich meine Eindrücke beim Hören der Wiedergabe dieses wunderschönen, und doch so einfach konzipierten Liedes in der Wiedergabe durch DIETRICH FISCHER-DIESKAU und GERALD MOORE nicht so wunderbar treffend formulieren können! Und dieses Lied - wie auch z. B. seine Interpretation von SCHUBERT's "Ständchen" oder BEETHOVEN's "An die ferne Geliebte" - mögen repräsentativ sein für seine hohe Kunst des Liedgesangs, die ihm vielleicht nicht bei jedem der so zahlreichen SCHUBERT-Lieder so unvergleichlich gelang, die aber nach meiner Überzeugung von keinem anderen Sänger bis heute je wieder auch nur annähernd erreicht wurde. Es ist so, wie Glockenton sinngemäß feststellt: DIETRICH FISCHR-DIESKAU singt oder interpretiert nicht einfach diese Lieder, sondern er verkörpert jedes gesungene Wort gewissermaßen als selbst Betroffener, und dies in stimmlichen Schattierungen und Feinstabstufungen, die einfach faszinieren, die man als höchste musikalische Ästhetik bezeichnen könnte, die aber auch jede empfindsame Seele erreichen dürften.


    Viele Grüße


    wok

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