Der Dirigent als Blockade zwischen Publikum und Orchester?

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Schon - aber man kann mangels Vergleichsbasis nicht sagen, ob ein etwas langsameres Tempo oder ein etwas schnelleres besser wäre. Die Ausgangsfrage lautet: Wie kann man, wenn man das Werk nicht kennt, wissen, ob der Dirigent gut ist?
    Aus eigener Erfahrung geplaudert: Als ich zum ersten Mal Mahlers 6. live hörte (lang,lang ist's her...), hatte ich keine Vergleichsbasis. Der Dirigent war James Levine. Mich begeisterte das Werk restlos - aber erst, als ich drei Tage später die sofort gekaufte Aufnahme Leonard Bernsteins hörte, wurde mir klar, wie schwach Levines Interpretation war. Und als ich dann Kondraschins Aufnahme hörte, wusste ich, was "meine" 6. Mahler ist. Hätte ich Kondraschin gekannt, als ich Levine hörte, hätte ich die Schwäche der Aufführung sicher erkannt - was mir im konkreten Fall nicht gelungen ist.


    Danke Edwin, Du bringst meine Frage auf den Punkt.


    Aber Du schreibst:


    ... hätte ich die Schwäche der Aufführung sicher erkannt...


    Wieso bezeichnest Du die Aufführung als "schwach" - meiner Ansicht nach kann man sie doch nur als "anders" bezeichnen, also dem eigenen Geschmack nicht entsprechend? Man muß doch wohl davon ausgehen, daß Levine oder Bernstein die 6. nicht einfach so vor sich hingeschludert haben?


    LG
    Austria


    Meine persönliche Erleuchtung erlebte ich übrigens mit Harnoncourt's Interpretation von Bruckner's 7 live im Wiener Konzerthaus (WP). Ich wäre aber nicht auf die Idee gekommen, die bis dahin gehörten Interpretationen als schwach zu bezeichnen (live u.a. Luisi, Barenboim, Chailly, Masur, Haitink, Muti, Böhm und Karajan müßten auch als CD vorhanden sein). Sie waren einfach anders - und Harnoncourt ist eben meins ;-)

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)

  • Heute ist der Tag wo viele schreiben, worüber ich mir den ganzen Tag den Kopf zerbrochen hab:


    Auch ich bin der Meinung, daß man in den meisten Fällen nicht von "guter" oder "schlechter" Interpretation - in bezug auf das Dirigat bezogen - sprechen sollte.


    Gut und schlecht - das heisst in den meisten Fällen ob der Dirigent in seiner Werksauffassung kompatibel zum Hörer oder Reznsenten ist.
    Theoretisch wäre "Werktreue" ja das Optimum - allerdings nur theoretisch. Ware sie verwirklichbar (was glücklicherweise nicht gelingt)
    dann müsste eigentlich jede Interpretation annähernd gleich klingen -
    eine Horrorvision.


    es muß jedem klar sein, daß zwischen, Böhm-Karajan-Klemperer-Norrington-Harnocourt etc Welten sind - aber gerade das macht (zumindest für mich) den Reiz aus immer wieder neue Aufführungen (bzw Aufnahmen) hörenzu dürfen.....



    Ich sehe im Dirigenten eher einen Mittler zwischen Werk und Publikum -als eine Blockade


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • @ Austria


    Wenn wir uns schon darüber einig sind, daß es im Bereich der Wertung kein "richtig" oder "falsch" geben kann, muß es über den persönlichen Geschmack des einzelnen hinausgehend, einen anderen Maßstab für die Bewertung eines Konzerts geben - und das ist die Partitur. Der Kritiker sollte mE versuchen eine Aufführung aus Sicht des Komponisten zu betrachten. Erst sobald die von dem Interpreten beanspruchte Individualität den erkennbaren Absichten des Komponisten zuwiederläuft, hat der Kritiker einzuschreiten. Darauf beschränkt sich im wesentlichen seine Aufgabe.

  • Ich denke auch, dass die wesentliche Arbeit bei den Proben geleistet wird. Zum Konzert sei es dem Dirigenten vergönnt, ein bißchen Show zu machen. Schaut doch auch wirklich nett aus und schmälert den Konzertgenuss auch überhaupt nicht, wenn alles passt. Den Dirigenten kann man nun gar nicht als Blockade bezeichnen. Der Dirigent ist der Mittler zwischen Komposition und Publikum. Dass auch der Dirigent ein wesentliches Merkmal des Gesamtwerkes ist, welches man hört - indem er eben interpretiert, da er ja schließlich auch Künstler ist - macht das ganze umso interessanter. Auf seine Art und Weise sollte daher auch der Dirigent dem Publikum seine Interpretation des Werkes verdeutlichen. Dies tut der eine mit mehr Körpereinsatz, der andere mit weniger. Ich kann daher nicht generell sagen, ob es mir gefällt oder nicht gefällt, ob der Dirigent viel "Budenzauber" veranstaltet oder weniger. Bei dem einen ist man fasziniert und gebannt von seiner zurückhaltenden aber eindrucksvollen Körpersprache und bei dem anderen wird man einfach mitgenommen und mitgerissen. Beides natürlich im besten Fall im Interesse des Werkes, welches dirigiert wird.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • @Alfred tom


    Interessant - Eure beiden postings gleich hintereinander ;-)


    Alfred:
    Theoretisch wäre "Werktreue" ja das Optimum - allerdings nur theoretisch. Ware sie verwirklichbar (was glücklicherweise nicht gelingt) dann müsste eigentlich jede Interpretation annähernd gleich klingen - eine Horrorvision.


    Tom:
    muß es über den persönlichen Geschmack des einzelnen hinausgehend, einen anderen Maßstab für die Bewertung eines Konzerts geben - und das ist die Partitur. Der Kritiker sollte mE versuchen eine Aufführung aus Sicht des Komponisten zu betrachten. Erst sobald die von dem Interpreten beanspruchte Individualität den erkennbaren Absichten des Komponisten zuwiderläuft, hat der Kritiker einzuschreiten.


    Mit einem Wort - Drigenten wandeln auf einem schmalen Grat.


    LG
    Austria

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)

  • Das Wort Werkstreue mag ich eigentlich nicht sonderlich. Dann würde ja ein und dasselbe Werk immer gleich klingen. Es ist sehr interessant, wie sich jeder um Werkstreue nähern möchte und dabei ganz eigene Interpreatationen dabei herauskommen =)

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Zitat

    Werkstreue


    Nun, wenn Straußens oder Strawinskis Werke von den Meistern persönlich dirigiert worden sind, habe ich mit diesem Begriff überhaupt kein Problem. Ansonsten haben wir es naturgemäß mit Annährungen zu tun.

  • Zitat

    Mit einem Wort - Drigenten wandeln auf einem schmalen Grat

    .


    Nein. - Aus meiner Sicht tun sie das nicht.


    Es ist eine Frage der persönlichen Sicht der Dinge.


    Und die ist auch bei den Komponisten verschieden. Irgend jemand meinte, seine Musik solle nicht interpretiert werden - sondern so gespielt, wie er sie notiert habe. Andere Komponisten waren hingegen entzückt welche Feinheiten verschiedene Komponisen herausarbeiteten - solche die sie als Komponist des Werkes nie zuvor bewusst wahrgenommen hatten....


    Lg


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wenn ein Dirigent auf schmalen Graden wandelt, muss er schon ziehmlich krass aufspielen lassen (das ist sehr relativ, ich weiss). Auch ich würde äußerst selten von einem schmalen Grad sprechen, allerdings kenne ich die Feinheiten nicht so genau wie ein Experte, für den manches viel schneller zum schmalen Grad wird, als für mich ;) Dieses Thema hatten wir heute schonmal irgendwo im Rahmen der Musikanalyse. "Mit einem Wort" kann man das aber überhaupt gar nicht sagen außer mit einem riesengroßen Grinsen auf den Lippen.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Hallo Alfred, hallo Masetto!


    Mitnichten! Werktreue und unterschiedliche Interpretationen schließen sich nicht aus, ganz im Gegenteil. Es sind ja gerade Interpretationen, weil der Komponist einem i.d.R. neben all den Vorschriften genug Spielraum lässt, seine eigene Lesart mit einzubeziehen(Agogik etc!). Dadurch erwacht ein Werk auch erst zum Leben. Ein Computer vermag diesen Spielraum nicht zu nutzen. Werktreue bedeutet eben nicht, diesen Spielraum zu ignorieren, sondern nicht am Gerüst des Werkes rumzuschrauben - z.B. durch übermäßiges "Dazudichten" von Haltebögen, Einfügen von Stützakkorden etc.


    Ein berühmter Dirgent, der es mit der Werktreue nicht ganz so genau nahm, war Stokowski. Zugespitzt könnte man sagen, daß er in so einigen Fällen das Werk nach seinem Gutdünken umschrieb.

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  • Das Lassen dieser Freiräume stellt in meinen Augen eher einen weiteren künstlerischen Aspekt der Komposition dar. Oftmals geschieht dies vielleicht sogar unfreiwillig. Wenn ich ein Werk schreiben würde, wär ich in erster Linie froh, wenn man es halbwegs so aufspielt, wie ich es mir vorstellen würde, weil es sonst ja außerhalb meines Vorstellungs-/künstlerischen Horizonts wäre. Insofern dienen bewusst gesetzte Freiräume auch nur meinem eigenen künstlerischen Anspruch, wenn ich eine Komposition gebäre. Insofern gibt es durchaus Interpretationen, die im Augen des Komponisten - auch wenn er Freuräume gelassen hat - nicht werkstreu sind (die er möglicherweise aber trotzdem mögen würde - das schließt sich wiederum nicht aus!)

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Hallo Austria!
    Ich stehe zu dem Wort "schwach" - aber die Einschränkung folgt sofort: Für meinen Geschmack schwach. Jedes derartige Urteil, das ich abgebe, ist völlig subjektiv. Das setze ich voraus, daß das jeder weiß. Objektive Urteile sind in Sachen Kunst meiner Meinung nach nicht möglich.


    Hallo Tom!
    Strauss ist heikel - die Aufnahmen spiegeln logischerweise den relativ alten Strauss wieder, der seine eigenen Stücke ziemlich emotionslos und glatt herunterpinselt. IMO keine "Werktreue", weil (und das sage ich, obwohl ich Strauss als Komponisten nicht besonders schätze) die Werke besser sind und sie solche Exekutionen nicht verdienen.
    Bei Strawinskij kann ich nur das sagen, was ich schon mehrmals festgestellt habe: Die meisten der CBS-Aufnahmen hat nicht Zar Igor dirigiert sondern sein Vasall Robert Craft, sie wurden aus Vermarktungsgründen als "authentisch" ausgegeben (man machte aus "von Strawinskij autorisierte Aufnahme" eine "Aufnahme von Strawinskij"). Strawinskij selbst war ein miserabler Dirigent, dem jegliches Handwerk fehlte. Was er selbst dirigiert hat, ist jämmerlich. Man höre zum Vergleich Bernstein, Boulez oder, von den älteren Dirigenten, Ansermet!


    Zitat


    Zitat tom
    Der Kritiker sollte mE versuchen eine Aufführung aus Sicht des Komponisten zu betrachten. Erst sobald die von dem Interpreten beanspruchte Individualität den erkennbaren Absichten des Komponisten zuwiederläuft, hat der Kritiker einzuschreiten.


    Dieses Statement klingt gut - aber wie soll das durchführbar sein? Der Kritiker ist ebenfalls seinem eigenen Geschmack unterworfen. Die Objektivität ist ein völliges Fantasiegebilde.


    LG

    ...

  • Dies ist auch ein Phänomen, welches im ProgressiveRock oder auch Rock zu beobachten ist. Eine Band hat in den 70gern ein 30 Minuten Werk einmal einstudiert und aufgenommen, spielt es auf Veranstaltungen dann bis heute und es klingt jedesmal anders - auch diesbezüglich ist Werkstreue ein sehr relativer Begriff. Interpretation und Werkstreue schließen sich aber absolut aus, weil es Werksreue vielleicht nur für einen sehr kurzen Moment im Geiste des Komponisten gibt.


    Der/Die Komponisten spielen/dirrigieren das Werk vielleicht sehr oft im Bewusstsein, nie wirklich 100%ig werkstreu zu sein. Ist insofern Treue erstrebenswert?


    Das ganze wird umso Verrückter, je mehr man an die verschiedenen Solisten denkt ... Es gibt bestimmt eine Unmenge von Sängern, die nicht mit dem einen oder anderen Dirigenten zusammenarbeiten können :D

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Ein Komponist schreibt eine Sinfonie. Es ist ein relativ unerfahrener Komponist, zumindest was Werke mit großer Besetzung betrifft. Selbstvertändlich hört er das Werk vor seinem inneren Ohr. Irgendwann findet sich tatsächlich ein Dirigent mit einem Orchester, der sein Werk aufführen will. In der Probe ist der Komponist baff erstaunt: "Wow, so klingt also meine Sinfonie!!!" Was ist die "gültige" Interpretation? Die im inneren Ohr? oder die, die er da gerade gehört hat? Sicher wird er versuchen, beides anzunähern. Aber ist das, was dabei herauskoommt wirklich "das, was sich der Komponist beim komponieren gedacht hat"?

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

  • Ich gehe davon aus, das "der Komponist" ein konkreteres Abbild Seiner Sinfonie im Kopf hat. Er komponiert ja keine "Anregung für einen bemerkenswerten Dirrigenten". Ein Komponist weiss sicherlich ein Stück weit, dass Werkstreue unmöglich ist. Daher mag ich das Wort "Werkstreue" nicht sonderlich. Daher ist dies für mich eine Frage der Klarheit in der Musik. Diese zu erreichen ist wiederum nicht immer künstlerisches Anliegen. Aber daher huldige ich Bach :jubel:

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Ich muß Reinhard zustimmen. Es hat viel mit Psychologie zu tun.
    Angenommen, er hat ein konkretes Abbild seiner Symphonie im Kopf, so wie es Mahler mit Sicherheit auch hatte. Mag man den Biographien Glauben schenken, empfand dieser sich jedoch weniger als das schöpfende Genie, sondern vielmehr als ein Sprachrohr, als ein von der Musik auserwähltes Medium, über das sich die Musik in die Welt setzen kann. Auch wenn das sicherlich übertrieben erscheint, kommt darin ein Gedanke zum Ausdruck - das Autarke der Musik. Ich denke, daß die erste Interpretation eines Werkes diejenige ist, welche der Komponist beim Schaffensprozess vor seinem geistigen Auge hat. Ich glaube weiterhin, daß es eine Fehlvorstellung ist , das Werk als solches mit der Werkvorstellung bzw. dieser Erstinterpretation durch den Komponisten gleichzusetzen. Das klingt sehr anmaßend und die Komponisten unter euch mögen mir da widersprechen, aber mir stellt sich weniger die Frage, hat der Komponist das so gemeint, sondern eher entspricht es dem Charakter des Werks. Und auch das ist manchmal nicht gerade leicht zu beantworten.
    Der Komponist schafft also etwas, dem er sich aber schon im Moment des Schaffens durch eine erste Eigeninterpretation nähert. Dem Nachfühlen, dem Nachemfpinden dieses Zustands durch den späteren Interpreten und die vemutliche Unerreichbarkeit dieses Zustands würde ich dann eher als "Erstinterpretationstreue" bezeichnen. Das Werk hat sich aber schon längst von der Erstinterpretation des Komponisten gelöst und (hoffentlich) im Notentext manifestiert. Jedoch, erst durch Ausführung erwacht es zum Leben. Dem Werk die Treue zu halten bedeutet für mich deswegen, dem Notentext die Treue zu halten. Denn tut man dies, so wird man bei Ausführung desselbigen stets das gleiche Kind zum Leben erwecken, das sich dem geneigten Hörer je nach Aufführung im unterschiedlichsten Gewand präsentieren kann und an dem der Hörer stets neue Facetten entdecken kann.
    JEDE Interpration IST das Werk, es gibt nicht DAS Werk.
    Amen.


    :hello:
    Wulf

  • Wulf


    Dem Werk die Treue zu halten bedeutet für mich deswegen, dem Notentext die Treue zu halten. Denn tut man dies, so wird man bei Ausführung desselbigen stets das gleiche Kind zum Leben erwecken, das sich dem geneigten Hörer je nach Aufführung im unterschiedlichsten Gewand präsentieren kann und an dem der Hörer stets neue Facetten entdecken kann.


    Vielen Dank - für schlichte Gemüter wie mich ist das eine sehr einleuchtende Definition: das Kind im Schlafanzug, in Jeans, im Ausgehkleid, im Sportdress, usw. - es bleibt immer "dieses" Kind. Und der jeweilige Dress kann einem gefallen oder nicht. Erst wenn dem Kind Nase, Lippen, Ohren gepierced werden oder man es gar einer Schönheitsoperation unterzieht, ist es nicht mehr "dieses" Kind.


    Danke schön,
    Austria

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)

  • Zitat

    Ich denke, daß die erste Interpretation eines Werkes diejenige ist, welche der Komponist beim Schaffensprozess vor seinem geistigen Auge hat.


    Hallo Wulf!
    Das stimmt leider nicht ganz. Ich kann da aber nur aus eigener Erfahrung sprechen. Unter den Stücken, die mehrmals gespielt wurden, sind welche, deren Uraufführung erstklassig war und einen fixen Bezugspunkt für mich bildet, und es gibt andere, bei denen Folgeaufführungen besser waren. Auch bei den nur einmal gespielten Stücken ist es so, daß ich mit einigen der Uraufführungen sehr, mit anderen weniger und in einem Fall absolut nicht zufrieden bin.
    Natürlich gibt es im inneren Ohr die "Idealvorstellung", aber es ist extrem reizvoll, wenn sich dann herausstellt, daß diese Idealvorstellung von der Realität dank eines erstklassigen Interpreten noch bei weitem übertroffen wird.
    LG

    ...

  • Hallo Austria,


    danke fürs Lob und für die schöne Ergänzung durch das Beispiel mit der "Schönheits"operation. :) Ich glaube in diesem Bild trifft das ganz gut.
    Man sollte auch bedenken, daß es natürlich Gewänder gibt, die dem Wesen des Kindes in keinster Weise gerecht werden. Wenn Dein Kind z.B. ein "wilder Tiger" ist und Du zwängst es in rosa Kleider, oder besser noch Du verbietest dem Kind jegliches "Rumtollen" (Haitink <--> Schostakowitsch). Du nimmst dem Kind etwas, was ihm eigentlich eigen ist. Da fragt man sich, ob das Hinzufügen von ein paar Piercings oder einer Schönheits-OP noch dass größere Übel sind :wacky:


    Hallo Edwin,


    "erste Interpretation" wollte ich lediglich zeitig verstanden wissen und nicht qualitativ wertend. Deine Vorstellung vom Erklingen des Werks steht zeitlich vor jedem Erklingen des Werkes im Konzert. Kann mir das sehr gut vorstellen, daß Uraufführungen oder auch spätere Aufführungen für Dich zum Bezugspunkt werden können und so die "Idealvorstellung", die Du beim Komponieren im Kopf hattest, ablösen. Aber mit dieser Erfahrung spielst Du mir ja genau in die Hände :) Ich glaube, daß Du Dich schon im Schaffensprozess dem geschaffenen durch eine erste Interpretation näherst, weil das, was Du schaffst - ich weiß nicht ob das treffende Worte sind -quasi etwas geistig Überhöhtes hat bzw. ist. Ein Nachfühlen dieser Deiner "Idealvorstellung" kann man zwar erstreben, doch ich wäre so ketzerisch zu behaupten, daß dies nicht mein Zeil wäre, sondern möglichst dem Werk gerecht zu werden. Obwohl Dein geistig Eigentum, ist es etwas vollkommen autarkes, dem Du Dich selbst durch Interpretation vor dem geistigen Augen genähert hast. Wer sagt mir denn, daß die Vorstellung vor deinem geistigen Auge dem Werk 100%gerecht wird?
    Wenn Du tatsächlich die Erfahrung gemacht hast, daß spätere Aufführungen Deine Idealvorstellung übertrafen, so kann man damit doch sagen, daß Du bemerkt hast, daß diese Interpretationen dem Werk noch ein Stück weiter gerecht wurden als Du es selbst werden konntest.


    Als Beispiel kann man ja Peter Grimes heranziehen. Da gibt es Brittens eigenes Dirigat. Wenn ich um Werktreue im Sinne von Interpretation durch den Komonisten (hier tatsächlich "ausgelebte" Eigeninterpretation) bemüht wäre, dann hätte Colin Davis sich einfach möglichst nah an Brittens Interpretation gehalten. Hat er aber nicht - und jetzts wird es böse - ich finde er wird dem Werk manchmal sogar noch etwas mehr gerecht als Britten dies tut. Der Sturm z.B. Ich kannte natürlich zuerst Brittens eigenes Dirigat. Nachvollziehbar, daß dies ein Sturm sein soll. Doch bei Davis: was für ein Sturm, was für eine Gewalt und was für ein Peitschen! Dagegen wirkt - mit Verlaub gesagt - Brittens eigene Int. plötzlich wie ein laues Lüftchen, halt englisch distinguiert Oder?:stumm:


    :hello:
    Wulf

  • Hallo Wulf


    Zitat

    Als Beispiel kann man ja Peter Grimes heranziehen. Da gibt es Brittens eigenes Dirigat. Wenn ich um Werktreue im Sinne von Interpretation durch den Komonisten (hier tatsächlich "ausgelebte" Eigeninterpretation) bemüht wäre, dann hätte Colin Davis sich einfach möglichst nah an Brittens Interpretation gehalten. Hat er aber nicht - und jetzts wird es böse - ich finde er wird dem Werk manchmal sogar noch etwas mehr gerecht als Britten dies tut. Der Sturm z.B. Ich kannte natürlich zuerst Brittens eigenes Dirigat. Nachvollziehbar, daß dies ein Sturm sein soll. Doch bei Davis: was für ein Sturm, was für eine Gewalt und was für ein Peitschen! Dagegen wirkt - mit Verlaub gesagt - Brittens eigene Int. plötzlich wie ein laues Lüftchen, halt englisch distinguiert Oder?


    Ich denke, das Beispiel verlässt die Ebene von besser oder schlechter. Zwischen den Aufnahmen liegen Jahrzehnte und eine stark gewandelte Erwartung des Publikums an ein Werk. Vielleicht hat Britten auch für damalige Verhältnisse einen etwas verhaltenen Sturm dirigiert, aber ich vermute, es war ihm Sturm genug (und er war vielleicht auch von der Tonregie ein klein wenig gebremst).
    Der heutige Mensch ist derart reizüberflutet, dass man auch auf der Opernbühne Extreme erwartet, und so muss heute ein Sturm so dirigiert werden, dass es den Leuten in den ersten Reihen die Toupets von den Köpfen fegt (und die Tonmeister haben weniger bedenken). Tempora mutantur...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


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  • Hallo Theophilus,


    ok, stimme ich zu. Ein Vergleich über die Zeiten ist ein wenig gewagt und etwas übereilt.


    LG
    Wulf.

  • Hallo Wulf!
    Zu frühe Zustimmung!
    Der Tonmeister bei Britten war John Culshaw, bis heute ein Guru bezüglich technischer Perfektion. Die Philips hingegen (Davis) hat immer etwas schlampig aufgenommen. Dennoch: Davis ist zum Niederknien, Britten - na ja, sagen wir: als Dirigent eigener Werke war er nicht immer so inspiriert wie beim "War Requiem". Abgesehen davon singt Pears eher einen Lord Peter, während Vickers sich die Seele aus dem Leib brüllt und weint und röchelt.
    Fazit: Britten distinguiert, Davis Musikdrama auf Siedehitze. Und das hat mit Tontechnik nichts zu tun - sonst müsste der Levine-"Parsifal" besser sein als der unter Knappertsbusch.
    LG

    ...

  • ich hab schon länger nicht mehr hier gepostet. möchte mich aber gerne hier wieder einbringen.


    Ich denke, man muss unterscheiden zwischen Werktreue und Notentreue. Je älter die Musik ist, die wir spielen, desto weniger wissen, wir, was nicht in den Noten steht. Wenn man eine eine Rameau-Oper, eine Bach-Kantate oder auch eine frühe Mozart-Sinfonie notengetreu aufführt, das heisst jede Notenlänge genau wie notiert, dynamische Wechsel, nur wenn geschrieben, Artikulation etc. dann wird das wahrscheinlich zur langweiligsten Sache der Welt.
    Werktreu hingegen würde ich jede Interpretation nennen, die Inhalte (rein musikalischer Natur) vermittelt, egal ob das jetzt Toscanini, Stoki oder Harnoncourt ist.
    Während ein brillanter Theoretiker mit ansehnlicher Schlagtechnik und viel Wissen wie Hans Swarowsky vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht.


    Und es tut mir leid, aber ich wehre mich dagegen, dass es in der Interpretation kein "richtig" und "falsch" gibt. Auf der einen Seite ist mir jede "falsche" Interpretation, die mich mitreisst, berührt, Abgründe in meiner Seele offenbart lieber als eine "richtige", die die Frage vergisst, warum hier überhaupt Musik gemacht wird.
    Auf der anderen Seite aber jene, die annähernd "richtig" und emotional wahrhaftig sind, das sind mir dann doch die Liebsten. Denn dann passiert es im Sinne des Komponisten.


    Wenn ich vor gut einem Monat Muti den Figaro dirigieren sah, dann fand ich das dramatisch brillant, psychologisch durchdacht, schwungvoll und in jeder Sekunde spannend. Aber mit dem, was Mozart geschrieben hat (und es gibt objektivierbare Dinge wie Verhältniß der Tempi zueinander, dynamische Schattierungen, Striche!!! usw.) hatte es hezlich wenig zu tun.


    Vielleicht bin ich ein beckmesserischer Dogmatiker, aber wozu haben wir dann die zugegebenermaßen äusserst dürftige Notenschrift, wenn der Komponist sich darin nicht ausdrücken darf?


    Grüße aus Wien
    Raphael

  • Das mit den Noten ist bei mir schon viele Jahre her, aber gerade weil wir so eine, wie Du sie nennst, dürftige Notenschrift haben, ist doch Werkstreue eigentlich eine Illusion! Diese existiert im Kopf des Komponisten und da kann keiner 100 %ig drin stecken. Aber, wie gesagt, das macht das Hören spannend, weil es so viele Interpretationen gibt (und nebenbei lässt sich damit seitens der Labels ordentlich Geld verdienen).

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Moin,


    bei der Frage, was ein irgent an Interpretation leisten darf oder nicht, fällt mir immer wieder etwas ein, das ich über den Dirigenten Gustav Mahler gelesen habe (muss ja nicht stimmen): Er soll bei Aufführungen von beispielsweise Beethoven oder anderen zu durchaus rigiden Eingriffen, Streichungen bereit gewesen sein. Ich frage mich dann immer, ob er dann einverstanden wäre, wenn ein Dirigent heutzutage das gleiche mit seinen Symphonien treiben würde. Wäre das für ihn ein ganz normales Vorgehen, oder bezogen auf die eigene Arbeit ein Verbrechen?


    Nimmt man es heute genauer mit der Werktreue und dem mutmaßlichen Willen des Komponisten als zu früheren Zeiten?


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Ich würde sagen, dass man dies tut. Die ganze sgn. HIP-Einspielungen sprechen dafür.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Zitat

    Original von lohengrins


    bei der Frage, was ein irgent an Interpretation leisten darf oder nicht, fällt mir immer wieder etwas ein, das ich über den Dirigenten Gustav Mahler gelesen habe (muss ja nicht stimmen): Er soll bei Aufführungen von beispielsweise Beethoven oder anderen zu durchaus rigiden Eingriffen, Streichungen bereit gewesen sein. Ich frage mich dann immer, ob er dann einverstanden wäre, wenn ein Dirigent heutzutage das gleiche mit seinen Symphonien treiben würde. Wäre das für ihn ein ganz normales Vorgehen, oder bezogen auf die eigene Arbeit ein Verbrechen?


    Salut,


    das wäre natürlich ein Verbrechen, da ja nur Mahler ganz allein wusste, wie es wirklich geht - und das auch bei Beethoven usw... seine Werke hat er ja logischer Weise "gleich richtig" komponiert...


    8o


    Empfehlenswert: Der Wille des Komponisten - Dogma oder Empfehlung ?


    Cordialement
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Hallo,
    zu Weihnachten bekam ich "Karajan"- eine Biografie von Peter Uehling geschenkt. Passend zu diesem thread - auch wenn es sich nicht um den Dirigenten allein als "Blockade" handelt - wird aus dem Programmheft der Salzburger Osterfestspiele von 1973 Karajan zitiert:
    "Ich glaube, dass nunmehr erreicht ist, was mir von Anbeginn der Osterfestspiele über die Realisierung meiner künstlerischen Intentionen hinaus als schönstes künstlerisches Ziel vorschwebte: Die trennende Grenze zwischen denen, die hier auf der Bühne und im Orchester ihr Bestes geben und denen, die im Zuschauereraum Miterlebende sind, scheint aufgehoben. Wir sind eine einzige große Gemeinde geworden, verbunden durch die Musik. ... Dieses Bewusstsein ist die beglückendste Bestätigung unserer Arbeit"


    Über dieses Zitat zieht der Autor Peter Uehling her, wenn er es folgendermaßen analysiert: "Ein Publikum, das nicht mehr von den Ausführenden getrennt ist, hört allerdings als solches auf zu existieren. In einer großen Harmonie, so will es Karajan erscheinen, ist das Publikum verschlungen worden, mit den Mitwirkenden verbunden durch die - von ihm in Gang gesetzte und geleitete - Musik. Eigenartig ungeschützt, ja seltsam kindlich artikuliert sich in Karajans Worten eine Vereinnahmungsphantasie ... Warum sollte die Vereinigung von Publikum und Ausführenden eine künstlerische Arbeit bestätigen? IndemKarajan die Positionen von Sender und Empfänger kassiert, denkt er sich auch den kommunikativen Sinn von Kunst fort. Wo niemand sendet und niemand empfängt, gibt es auch keine Mitteilung, das Kunstwerk selbst verschwindet "


    Nun, ich finde Karajans Zitat recht bös ausgelegt.


    Das Philharmoniegebäude in Berlin ist so gebaut worden, dass das Orchester und damit der Dirigent auch von der "anderen" Seite gesehen werden kann und siehe da, die Karten für die Plätze der Rückseite, von denen aus Karajan (und andere Dirigenten) von vorne gesehen werden konnten, waren zuerst vergeben. Also dürfte der Dirigent wohl nicht als Blockade empfunden worden sein. Wie Musiker aussehen, wenn sie spielen, ist Konzertgängern wohl bekannt und es ist optisch wenig spektakulär (außer den Paukisten), wie jedoch ein Dirigent sein Orchester führt, würde ich auch oft gerne sehen. Die übliche Dirigenten-Rückenfront kann schrecklich aussehen z.B. bei Tennstedt (der dem Orchester gegenüber einen sehr emotionalen Ausdruck bot) oder gut bei Karajan (der dem Orchester mit geschlossenen Augen gegenüberstand und oft ohne Taktangabe Kringel in die Luft pinselte). Wer ist da nun Blockade?
    Gruß
    Lohengrin



  • Ich habe nie verstanden, was die Staatskapelle Dresden an diesem Dirigenten gefunden hat, ihn zu ihrem Chef zu berufen und dann noch nach den eher skandalösen Machenschaften des Orchesters vor dem Abgang Haitinks.


    Luisi lässt den Strauss ganz brav herunterspielen: Keine Spuren mehr von Kempe mehr, der ja diese Werke mit dem gleichen Orchester bravourös interpretierte.



    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • Zitat

    Original von Liebestraum


    Ich habe nie verstanden, was die Staatskapelle Dresden an diesem Dirigenten gefunden hat, ihn zu ihrem Chef zu berufen und dann noch nach den eher skandalösen Machenschaften des Orchesters vor dem Abgang Haitinks.


    Hab das irgendwie gar nicht mitbekommen. Wieso hat Haitink eigentlich vorzeitig geschmissen ?


    Gruß
    Sascha

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