Musik der Moderne - Eine Sackgasse (?)

  • Zitat

    Original von Blackadder


    Ist es nicht möglich, dass diejenigen, die sich der Schönheit nicht veweigerten ästhetisch-intellekuell als unredlich galten und noch gelten? Dass pure Schönheit sofort und unwiderruflich als Korruption und Kitsch betrachtet wurde/ wird und unter Generalverdacht stand/ steht. Ich frage das nicht als Feind der Moderne, im Gegenteil. Und ich freue mich, wenn dieses von mir gehegte Vorurteil ausgetrieben wird...


    Ich finde die Frage schon problematisch. Sie setzt voraus, dass es ein vorgängiges oder gar überhistorisches Schönheitsideal gäbe. Was ist denn pure Schönheit?
    "Euklid alone has looked on beauty bare" heißt es in einem Gedicht, das dürfte den meisten Rezipienten etwas karg sein... Aber diese geometrische reine Schönheit findet man (auch wenn das auf die Musik übertragen schon wieder eine Art Klischee ist) wohl eher bei Webern oder dem neoklassischen Strawinsky als bei Richard Strauss...


    Boulez' Musik ist mir bisher eher fremd. Aber was ich davon gehört habe, gehört (was auch gängige Ansicht ist) viel weniger in die expressionistische Tradition, die unendliche Sehnsucht wie im Tristan-Vorspiel, ein komplexes erotisches Verhältnis wie in Verklärte Nacht (Frau gesteht Mann, dass sie von einem Seitensprung schwanger ist, er verzeiht ihr) oder eine Horrorvision wie in Erwartung, ausdrücken möchte, um nur Extrembeispiele zu nennen. (Davon würden die meisten "Verklärte Nacht" wohl noch in einem naiven Sinn als schön empfinden)
    Sondern eher in die Debussys des Experimentierens mit ungewöhnlichen Klängen und Klangkombinationen. Bei Debussy verlangte eben die Evozierung des Mondlichts auf dem Tempel oder anderer flüchtiger Stimmungen eine von der "bodenständigen" Harmonik gelöste Kompositionsweise. (Die Titel wurden oft erst nach den Klavierstücken gegeben, aber egal)


    Der Konflikt ist ja nicht neu. Monteverdi verteidigte seine Freiheiten, die expressive Dissonanzen zur Verdeutlichung eines Affektes einschlossen, gegen die Konservativen seiner Zeit. Verglichen mit einer ausgewogen-ätherischen Palestrina-Messe ist Monteverdi oder gar Gesualdo ähnlich "unschön" wie Schönberg verglichen mit Mozart (und da lagen immerhin mehr als hundert Jahre zwischen). Und wie oft selbst Mozart seinerzeit "Künstlichkeit", "Überladenheit" usw. vorgeworfen wurde, muß nicht zum x-ten Male wiederholt werden.
    Beethoven schrieb "Musik eines Wahnsinnigen" oder für die "Marokkaner und Chinesen", Berlioz' wurde als "sterile Algebra" charakterisiert.
    All das verstieß nach Ansicht einiger der jeweiligen Zeitgenossen gegen ihre Vorstellung von "reiner Schönheit" (die Algebra war nicht gemeint)


    Die ausdrückliche Ablehnung von "Schönheit" in irgendeinem Sinne stammt m.E. wenn es sie überhaupt gegeben hat, aus deutlich späterer Zeit und enstand wohl vor einem ähnlichen Hintergrund wie Adornos Hinweis auf die Schwierigkeit nach Ausschwitz Gedichte zu schreiben.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Ich empfinde Debussys "Et la lune descend sur le temple qui fut" als ausgesprochen schön.
    Nach herkömmlicher funktionstonaler Lehre ist "Et la lune" nicht an eine Grundtonart gebunden. Ein Phänomen, das man übrigens schon beim späten Liszt feststellen kann und das sich aus der bis zum Schlußakkord hinausgezögerten Auflösung des Tristan-Akkords herleitet.


    Als Debussy "Et la lune" komponierte (1907, wenn ich mich nicht irre), gab es die "atonale Musik" aber noch nicht, weil der Terminus "atonal" noch nicht erfunden war. Er war ja ursprünglich als Spottbegriff auf Schönberg gemünzt.


    Abel Decaux hat bereits 1903 derartige Musik für Klavier geschrieben:


    Clairs de lune
    1. Minuit passe [4'30] = Mitternacht vorbei
    2. La ruelle [4'02] = Die schmale Gasse (Hintergasse)
    3. Le cimetière [6'00] = Der Friedhof
    4. La mer [5'01] = Das Meer


    Die Schönheiten freitonaler/atonaler Msuik sind gar nicht schwer zu entdecken, wenn man sich nicht selbst im Weg steht. :yes:

  • Hallo Blackadder,
    Du hast völlig recht: Gerade im Umfeld der Serialität wurde Schönheit prinzipiell der Unechtheit verdächtigt. Ein Paradebeispiel ist gerade Boulez, der in einer Polemik Berg wegen dessen Süßlichkeiten abkanzelt. Es ist allerdings bezeichnend, daß Boulez diese Polemik zurückgenommen hat und ganz klar einen Irrtum eingesteht, der auf einem Mißverständnis beruht.


    Allerdings: Während sich die Komponisten und Musiker permanent mit der Materie auseinandersetzen und aufgrund ihrer persönlichen Entwicklung wechselnde Standpunkte einnehmen, ist für die Chronisten der Ereignisse (Musikwissenschaftler, Kritiker, Kulturjournalisten) ein wechselnder Standpunkt sehr oft gleichbedeutend mit "Verrat an der richtigen Sache". Die Chronisten wollen hier nämlich auch die Rolle des moralischen Richters einnehmen.


    Das freilich sind Extremhaltungen, die bis weit in die 80-er Jahre zu konstatieren sind und auf denen das gespaltene Verhältnis zwischen zeitgenössischer Musik und Publikum mit (aber nicht ausschließlich) beruht.


    Bis zu einem gewissen Grad stimmt nämlich die Verschwörungstheorie schon (aber eben nur bis etwa in die 80-er Jahre, nicht mehr heute): Es wurde im deutschsprachigen Raum nahezu jede nicht auf seriellem bzw. zumindest zwölftönigem Fundament stehende Musik als Kitsch verdächtigt. Das bekamen nicht nur konservative Komponisten wie Poulenc, Britten, Schostakowitsch etc. zu spüren, sondern, sogar noch extremer, abtrünnige Modernisten wie Henze und später Stockhausen.


    Umgekehrt haben die traditionell orientierten Musik-Chronisten moderne Bestrebungen verfolgt und sind auch mit abtrünnigen Konservativen (seinerzeit in Österreich etwa Karl Schiske) ähnlich rüde verfahren.


    Meiner Meinung nach hat aber die Postmoderne diese Diskussion überflüssig gemacht. Und so kann heute ein avantgardistischer Ansatz neben einem (scheinbar) konservativen bestehen, ohne daß aus der Orientierung allein Vorwürfe erwüchsen.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ich finde die Frage schon problematisch. Sie setzt voraus, dass es ein vorgängiges oder gar überhistorisches Schönheitsideal gäbe. Was ist denn pure Schönheit?


    Ich denke schon, dass es so etwas gibt, auch wenn viele es nicht wahr haben wollen. Dem Menschen sind in seinem Empfinden biologisch bedingte Schranken gesetzt, die auch der Verstand nicht überwinden kann. Einen Sonnenuntergang empfindet jeder Mensch auf Erden seit jeher als schön. So gut wie jeder Klassikliebhaber bewundert die Melodik Schuberts. Würde man eine Melodie in z. B. einem Schwanengesang-Lied nur geringfügig ändern (z. B. Noten vertauschen, spiegeln, o.ä.), würde sie höchstwahrscheinlich niemand mehr schön finden. Warum?

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Zitat

    Original von rappy


    Ich denke schon, dass es so etwas gibt, auch wenn viele es nicht wahr haben wollen. Dem Menschen sind in seinem Empfinden biologisch bedingte Schranken gesetzt, die auch der Verstand nicht überwinden kann.


    Dass wir begrenzte Lebewesen sind, ist unbestritten. Aber wir sind gleichzeitig extrem flexibel. Und das Spektrum dessen, was innerhalb dieser Grenzen möglich ist, ist immens. Höre Dir mal Musik außereuropäischer Traditionen an (und nicht welche, die schon als Ethnopop geglättet ist). Das allermeiste davon findet man als von abendländischer Musik geprägter Hörer mindestens so befremdlich (nicht unbedingt häßlich, aber das manchmal auch) wie die angeblich unschöne "Moderne", meistens befremdlicher.


    Zitat


    Einen Sonnenuntergang empfindet jeder Mensch auf Erden seit jeher als schön.


    Dazu können sich vielleicht die Kulturhistoriker äußern. Ich vermute eher, dass viele Naturvölker oder Menschen früherer Jahrhunderte einen Sonnenuntergang danach beurteilten, wie weit sie von der Höhle entfernt waren und falls noch weit, eher als unschön.


    Dass es einen gemeinsamen Kern gibt, den alle schön finden, widerspricht allerdings nicht der Tatsache, dass es eine Menge anderer Sachen gibt, wo sich im Laufe der Geschichte wandelt, was als schön empfunden wird.


    "Der Doppelgänger" aus dem Schwanengesang entspricht z.B. überhaupt nicht dem, was man "naiv" unter schön versteht, oder?
    Höre mal daneben ein frühes Lied von Berg oder sogar die damals skandalträchtigen Altenberg-Lieder, der Unterschied ist in mancher Hinsicht geringer als der zwischen "Ständchen" und "Doppelgänger".


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von rappy
    Ich denke schon, dass es so etwas gibt, auch wenn viele es nicht wahr haben wollen. Dem Menschen sind in seinem Empfinden biologisch bedingte Schranken gesetzt, die auch der Verstand nicht überwinden kann. Einen Sonnenuntergang empfindet jeder Mensch auf Erden seit jeher als schön. So gut wie jeder Klassikliebhaber bewundert die Melodik Schuberts. Würde man eine Melodie in z. B. einem Schwanengesang-Lied nur geringfügig ändern (z. B. Noten vertauschen, spiegeln, o.ä.), würde sie höchstwahrscheinlich niemand mehr schön finden. Warum?


    Es ist aber viel wahrscheinlicher, dass diese Grenzen bzw. diese Ästhetik anerzogen, und nicht angebohren ist. Durch die Erfahrungen, die wir während unserer Reifung vom Embryo zum erwachsenen Mensch machen, erfahren wir unter anderem, was Menschen in unserer Umgebung als schön empfinden. Ein gutes Beispiel ist die in der westlichen Welt ihren Ursprung nahm und dort als Ideal gilt. Mit der alterhergebrachten Volksmusik fremder Völker (Vierteltonmusik, Ganztonskalen etc.) können Menschen aus Westeuropa in der Mehrheit wenig anfangen. Ebenso ist ein Ureinwohner des brasilianischen Regenwaldes mit dem schubertschen Schwanengesang sicher hoffnungslos überfordert.


    Ein noch besseres Beispiel ist die Verwendung der wohltemperierten Stimmung. Eingeführt wurde sie, um bestimmte, bislang schief klingende, Tonarten spielbar zu machen. Dies ging jedoch zu Lasten der Tonarten, die bislang ausgesprochen sauber klangen. Die wohltemperierte Stimmung ist seit Jahrhunderten derart etabliert, dass wir uns nicht mehr vorstellen können, dass ein Dreiklang auf C reiner, voller und strahlender klingen könnte, als auf dem Klavier gespielt.
    Apropo: gibt es zu diesem Thema schon einen Thread?


    Ohne Literatur zu diesem Thema gelesen zu haben, wage ich die These, das Ästhetik (zu einem gewichtigen Teil) durch die Erziehung und gesellschaftlich-kulturellen Backround geprägt ist. Von einem vererbten musikalischen Schönheitsideal halte ich dagegen nichts.


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Zitat

    Zitat Rappy
    Würde man eine Melodie in z. B. einem Schwanengesang-Lied nur geringfügig ändern (z. B. Noten vertauschen, spiegeln, o.ä.), würde sie höchstwahrscheinlich niemand mehr schön finden.


    Allerdings gibt es - nicht gerade im "Schwanengesang", aber speziell bei Schubert - das Phänomen der "zurechtgesungenen Melodie": Das Kunstlied wird allmählich zum Volkslied, sperrige Intervalle schleifen sich ab, Verzierungen werden auf den zentralen Ton reduziert. Und trotz dieser Änderungen ist die Melodie immer noch "schön".
    Außerdem: Die monierten Variationsverfahren sind keine Erfindung Schönbergs. Man findet sie schon wesentlich früher, wenn ich mich nicht ganz irre bereits in der mittelalterlichen Musik, dann in den Spiegelkanons und ähnlichen kontrapunktischen Hexenkünsten. Und natürlich bei Brahms, Bruckner etc.


    ***


    Hallo Johannes,

    Zitat

    "Der Doppelgänger" aus dem Schwanengesang entspricht z.B. überhaupt nicht dem, was man "naiv" unter schön versteht, oder? Höre mal daneben ein frühes Lied von Berg oder sogar die damals skandalträchtigen Altenberg-Lieder, der Unterschied ist in mancher Hinsicht geringer als der zwischen "Ständchen" und "Doppelgänger".


    Ja, völlig richtig. Übrigens steht diesem Liedtypus Schuberts natürlich Mahler am nächsten - und von Mahler zu Berg ist ja wirklich ein ganz kleiner Schritt.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Walter Heggendorn
    Ja mein Gott: das ist doch eine aufschlussreiche Beobachtung! Irgend etwas stimmt doch da nicht! Das kann doch niemand ernsthaft abstreiten, oder?


    Mit liebem Gruss,
    Walter


    Ja und nein, lieber Walter. Ich habe ganz andere Sinfoniekonzerte erlebt, bei denen die Menschen echte Begeisterung zeigten. Leider war ich nicht bei der Urauffphrung von MacMillans "The Confession Of Isobel Gowdie" dabei. Das war ein Triumph wie er im Buche steht.


    Und der Unmut einiger Konzertgänger (es ist auch erwiesenermaßen nicht die Mehrheit) ist so alt wie die Musikgeschichte. Carl Maria von Weber hat nach der Urauffürhung von Beethovens 7. gesagt, jetzt sei dieser vollkommen verrückt geworden. Man muß sich nur mal in die Zeit zurückversetzen, um eine Ahnung davon zu erhalten, wie sehr Beethoven die damaligen Hörer herausgefordert hat....


    :hello:
    Wulf

  • Der Thread mäandert ja ganz schön herum. Die vermeintliche Sackgasse ist mindestens schon mal ein sehr weites Feld. Nun geht es also um Schönheit, was immer das über das subjektive Empfinden (gerne auch vieler) Einzelner hinaus sein mag.


    Schönheit, heißt es nicht zu Unrecht, liegt im Auge des Betrachters. Das gilt entsprechend für das Ohr des Hörers. Das aber ist geschult an Prägung (überwiegend) und wurde weiter entwickelt durch den persönlichen Geschmack und die Erlebnisse, denen man sich mehr oder weniger freiwillig ausgeliefert hat.


    Ich glaube nicht, dass der Begriff Schönheit taugt um irgendeine These mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit halbwegs tragfähig zu machen. Was dem einen als 'schön' erscheint, wirkt auf den anderen abschreckend, und subjektiv haben beide Recht. Und die Indifferenten auch.


    Mir erschließt sich die Schönheit einer mathematischen Formel nicht. Dennoch bestreite ich nicht, dass sie darüber verfügen kann. Ähnliche Probleme habe ich bei bestimmten Klängen und Klangfolgen, und damit befinde ich mich wahrscheinlich in der Mehrheit der (europäisch geprägten) Minderheit, die für klassische Musik ansprechbar ist. Dennoch räume ich gerne ein, dass der Aufbruch in die nicht tonalitätsgebundene Musik Klänge und Strukturen von großer Schönheit erschlossen hat, auch für mich, die zudem oft spannender sind als die berechenbarere Tonalität. Trotzdem tue ich mich in der Regel schwer damit.


    Ich bin aber immer froh darum, wenn mich ein solches Werk erobert, denn ich kann in der Regel leider nicht behaupten, dass ich es mir erschlossen hätte. Bezeichnenderweise geschieht dies viel eher im Live-Erlebnis und/oder mit einem optischen Umfeld als mittels einer Konserve. Ein Stanley Kubrick-Film kann mir auch erschließen, dass Ligety "schön" klingen KANN. Man muss eben nicht nur Hilfestellungen in Anspruch nehmen, wenn man (sich) etwas erobern möchte, sondern zuweilen auch, wenn man erobert werden will. Deswegen ist es ja oft so wichtig, mehr über ein Werk zu wissen als das reine Hören ermöglicht, wenn man es verstehen möchte und dann eventuell auch genießen kann.


    Dass man diese Leistung nicht immer aufbringen kann oder will, liegt für mich auf der Hand. Mag da auch eine Portion Trägheit darin stecken, es gibt den Apologeten der Neuen Musik nicht das Recht, geringschätzig auf diejenigen herab zu sehen, die ihrem Enthusiasmus nicht folgen wollen. Die sogenannten postmodernen Komponisten, die dem Hörer wieder weitaus bereitwilliger entgegen gehen als das eine Zeit lang Mode war, haben das begriffen und werden, dessen bin ich sicher, mittelfristig auch dafür sorgen, dass "moderne" Musik auch wieder in breiteren Kreisen gehört und geschätzt, vielleicht eines Tages sogar wieder populär wird. Der Prozess scheint mir schon voll im Gange zu sein, wie an der graduellen Annäherung nicht nur der Stränge des Musiktheaters (Oper:anspruchsvolles Musical), sondern auch im Jazz schon länger gut zu erkennen ist.


    All dies bringt mich zu der Feststellung, dass die pauschale Lobpreisung oder Verurteilung moderner Musik ungefähr so sinnvoll ist wie die der Musik generell. Der einzelne Hörer und das einzelne Werk entscheiden in jedem Einzelfall neu.


    Um Lichtenberg zu paraphrasieren: "Wenn eine Musik und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt nicht schön, dann muss es nicht an der Musik liegen."


    Auf mehr wird man sich allgemein wohl nie einigen können.
    Muss man aber auch nicht.


    :hello: Rideamus

  • Zitat

    Original von Wulf
    wie sehr Beethoven die damaligen Hörer herausgefordert hat....


    "Ich gäb' noch einen Kreutzer, wenn's nur aufhört", Ausruf eines Zuhörers während der Uraufführung der Eroica (zitiert nach Thayer, Bd. 2, S. 459).


    :hahahaha:


    Loge

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  • Zitat

    Original von m-mueller


    Edwin, Du hast ja vermutlich völlig recht, daß es wohl Schönheit gibt bei Henze und vielleicht auch Schönberg (ja, ich kenne die Gurre-Lieder), aber Schönheit im Atonalen ist offenbar recht mühsam zu entdecken - und solange es so viele "low hanging fruits" gibt überall sonst - im Jazz, im Pop (jawoll, sogar da), im Barock sowieso, da kenne ich erst ein paar Prozent der einschlägigen Werke, bei Mozart, der allenfalls auf den ersten Blick langweilig erscheint, tatsächlich aber unglaublich gute und intensive Stücke geschrieben hat, die von Banausen wie mir erst entdeckt werden wollen ... Henze und Co werden mich vielleicht in 20 Jahren interessieren - wenn überhaupt.


    So much music - so little time. Muß ich nicht hören, was mir sehr wahrscheinlich nicht gefällt.


    Hallo zusammen,


    ich hatte vor einiger Zeit das Erlebnis Boulez' Stück "Dialogue de l'Ombre double" für Klarinette und Tonband zu hören. Ich weiss eigentlich nicht, wie ich dieses Stück anders charakterisieren soll als ausgesprochen "schön" bzw. "klangschön". Und dabei ist das doch von Boulez, der scheinbar einer der ganz schlimmen seriellen Musiker ist, die nur hässliche Stücke komponieren... Hier würde ich das Attribut "schön" viel eher anwenden wollen, als bei vieler romantischer Ausdrucksmusik, die auf mich unter Umständen eine sehr emotionale Wirkung haben können (z.B. Schuberts Winterreise).


    Am Freitag hatte ich Gelegenheit Stockhausens Mixtur 2003 zu hören. Stockhausen ist ja ein anderer der "schlimmen" Avantgardisten. Auch dieses Stück enthält schöne Stellen.


    Ich empfinde auch viele Stücke von Nono (Prometeo, Streichquartett), Messiaen (eigentlich alles, vor allem die Klaviermusik), Stockhausen (z.B. In Freundschaft) sogar Lachenmann schön, wobei mich diese Stücke auch in einen Zustand sehr hoher Konzentration versetzen können, der vielleicht einer Meditation nahe kommt (das funktioniert aber nur, wenn ich entsprechend wach & aufnahmebereit bin). Eine ähnliche Wirkung kenne ich von älterer Musik eher weniger (vielleicht in geistlicher Musik aus der Renaissance, oder von Bach).


    Ich finde im übrigen Stücke wie die Kunst der Fuge oder die Große Fuge keineswegs leichter zugänglich als z.B. das oben erwähnte Dialogue de l'Ombre Double oder Répons von Boulez.


    Aber ich höre Musik aus allen Epochen und finde überall Schönheiten. der Schönheits-Begriff ist sicher, wie Rideamus bemerkt, auch sehr subjektiv. Als Mathematikerin finde ich tatsächlich auch manche Beweise schön :pfeif:


    Ich möchte niemandem etwas aufdrängen, aber mir würde sehr viel fehlen ohne die Musik des 20. Jahrhunderts. Den pauschalen Vorwurf, dass hier alles hässlich klingt, kann ich sogar bei den schlimmsten Avantgarde-Komponisten nicht nachvollziehen.


    Viele Grüße,


    Melanie


    Auch


  • Genau. Die ersten beiden Symphonien Beethovens genossen trotz einiger Vorwürfe - so z.B. wurde der ersten Symphonie vorgeworfen, sie enthalte für eine Symphonie zu viel Harmoniemusik und nachdem diese als genialer Erstling anerkannt, durfte sich die zweite dem Vorwurf allzu viele Skurrilitäten zu enthalten ausgesetzt sehen - trotz dieser Vorwürfe etablierten sich die Symphonien sehr schnell. Doch die Eroica riß manche aus ihrer Erwartungshaltung, daß es ordentlich wehgetan haben muss. Und ich muss gestehen, daß diese Eroica die einzige Symphonie Beethovens ist, mit der ich auch noch zu knabbern habe (wenn ich sie überhaupt mal rotieren lasse)..... :wacky:


    Insgesamt ist mir das eh schon viel zu modern, Bach war ja quasi eh schon der Anfang vom Ende. Monteverdi und diesen avantgardistischen Gesualdo kann man auch nicht wirklich
    geniessen, deshalb habe ich den großen - seinerzeits bedeutendster Trouvere Frankreichs - Thibaut IV. Konig von Navarra und Conte de Champagne für mich entdeckt. Und auch hier entdeckt man eine Verweichlichung der musikalischen Sprache im Vergleich zum hl. Ambrosius - wie Edwin mal feststellte.
    Komisch eigentlich, daß die Musikgeschichte so alles andere als "logisch" verläuft.
    Am Anfang der Musikgeschichte hätte doch eigtl. aus naheliegenden Gründen John Cages 4'33" stehen müssen. Dann hätten die ersten Menschen Klänge produziert und sie Ewigkeiten wiederholt - vielleicht mit leichten Veränderungen, vielleicht auch ohne. Also Minimalismus. Doch beides kam erst im 20. Jhd!! Schon komisch, oder? Andererseits können wir aufgrund der rudimentären Quellenlage auch nicht mit Sicherheit ausschließen, daß Cage und Reich nicht Kopisten prähistorischer Kompositionen sind, die entstanden, bevor man auf die Idee kam, Musik graphisch festzuhalten. Na ja.


    :hello:
    Wulf

  • Meine Lieben
    Nur so ein Gedanke: Hat der schnelle Kitschverdacht bei tonalitäts-gebundener, zeitgenössischer Musik nicht dort seinen Ursprung, wo experimentelle Musik mit den horriblen Begriffen „entartet“ und „volkszersetzend“ abqualifiziert wurde? Im Dritten Reich und in der ehemaligen Sowjetunion war ja nur harmonische, „volksaufbauende“ Musik geduldet.


    Die „entartete“ Musik wurde aus dem Würgegriff des Diktatorischen befreit.
    Seither besteht aber die Gefahr, dass umgekehrt allem Tonalen die Fratze des Totalitären übergestülpt wird. (Simpel ausgedrückt: Wer traut sich schon, harmonische Musik zu schreiben, wenn diese damals den Schergen von Ost und West gefallen hätte).
    Andrerseits kann aber auch das Diktat zu experimenteller Atonalität (wenn es das überhaupt gibt) zu einer einengenden Ideologie werden.


    Nieder mit allen Ideologien!
    Es lebe das „Anything goes“! (Das soll keine neue Ideologie sein ... :D)


    Mit liebem Gruss aus Bern von Walter

  • Lieber Walter,

    Zitat

    Hat der schnelle Kitschverdacht bei tonalitäts-gebundener, zeitgenössischer Musik nicht dort seinen Ursprung, wo experimentelle Musik mit den horriblen Begriffen „entartet“ und „volkszersetzend“ abqualifiziert wurde?


    Ja, es hängt damit zusammen. Wenn man es überspitzt formulieren will, hat die Musik im deutschsprachigen Raum einen zweimaligen Traditionsverlust erlitten. Den ersten durch die Nationalsozialisten, den zweiten durch die Gegenbewegung, die jedes Augenmaß verloren hat und nur das gelten ließ, was nach den wirren und verbrecherischen Ansichten der Nationaloszialisten "entartet" war.


    Uns muß dabei klar sein, daß die Wiedergutmachungsbestrebungen nämlich keineswegs allen jüdischen Komponisten zugute kamen, sondern selektiv nur jenen, die sich eng an Schönberg anlehnten. Und auch jenen, die sich an Schönberg anlehnten, ohne daß sie Juden gewesen wären.
    Konservative jüdische Komponisten hingegen wurden von den Wiedergutmachungsbestrebungen weitgehend ausgeschlossen. Ich nenne nur ein paar, damit man sich ein Bild machen kann: Hans Gal, Erich Wolfgang Korngold, Ernst Toch, Berthold Goldschmidt, Karol Rathaus, Jaromir Weinberger etc. etc.


    Einige Komponisten, die unter den Nationalsozialisten (teilweise sogar ganz ansehnliche) "tonale" Musik komponiert hatten, wechselten zu Reihentechniken (wie Wolfgang Fortner), manche dünnten den Satz aus, um zwar nicht atonal, so wenigstens spröde zu wirken (wie Hermann Reutter) oder suchten nach Möglichkeiten, mit zwölftönigen Feldern zu arbeiten, ohne ihren eigenen Stil ganz aufzugeben (wie Werner Egk).


    Das Problem waren aber weniger die Komponisten selbst - die großen Talente gab es ja sowohl bei den Avantgardisten als auch bei den Traditionalisten, sondern die Musikvermittler (inklusive der Kulturjournalisten), die meinten, mit der konservativen Ausrichtung automatisch an den Nationalsozialismus anzustreifen. Sogar Hindemith, immerhin ein "Entarteter", galt in Avantgardistenkreisen nichts mehr - man orientierte sich eindeutig an Schönberg und (unter stillschweigendem Ausschluß seiner Meinung zum Nationalsozialismus) an Webern.


    Sehr viel hervorragende Musik auf konservativer Basis verlor dadurch beträchtlich an Boden - ich denke etwa an Boris Blacher, Gottfried von Einem (der in Wirklichkeit nie über die - überragende - lokale Bedeutung hinauskam), Alfred Uhl, Karl Höller, Peter Jona Korn, Mark Lothar, Heimo Erbse - um nur ein paar zu nennen. Der einzige wesentliche Veranstalter, der einen stilistischen Pluralismus gelten ließ, war Karl Amadeus Hartmanns "Musica Viva". (Es ist unglaublich, wie oft man in Fragen des untadeligen Charakters und noblen Verhaltens auf Hartmann kommt!)


    Nun darf man aber nicht, wie Melichar und Korn, in den Fehler verfallen zu glauben, nur die Propagandisten der Avantgarde seien daran schuld, daß sich diese Richtung mit ihren Weiterentwicklungen etablieren konnte. Tatsache ist, daß im Bereich der früheren und späteren Nachkriegs-Avantgarde ungeheure Talente am Werk waren: Nono, Boulez, Berio, Henze, Zimmermann, dann kamen Ligeti, Cerha und Penderecki, dann, in Großbritannien, Birtwistle und Maxwell Davies (der erst später konservativer wurde) - und es setzten harsche Reaktionen ein, etwa bei Kurt Schwertsik, HK Gruber und Ivan Eröd. Auch deren vorweggenommene Postmoderne wäre ohne avantgardistische Wurzeln sicherlich anders ausgefallen.


    Meiner Meinung nach konnten die Veranstalter und Publizisten den stilistischen Pluralismus im deutschsprachigen Raum nur verzögern, aber nicht aufhalten.


    Wenn man sich Nationen anschaut, die mit den Nationalsozialisten nicht kollaboriert haben, sieht die Sache ganz anders aus: In den USA und in Großbritannien etwa wurde niemals ein konservativer Komponist von vorneherein unter Kitschverdacht gestellt. Ein Werk wie Menottis "Konsul" wäre in Deutschland oder Österreich in den 50-er Jahren schlicht zum Un-Werk erklärt worden, und auch bei Britten rümpfte man die nase, wenn man nicht so sensibel war wie Henze, der Brittens Eigenart sehr genau spürte und ihn in einigen Facetten sogar zu imitieren begann.


    Seien wir also froh, daß wir heute unseren Pluralismus der neuen Musik haben, der der schönste beweis dafür ist, daß nichts weniger eine Sackgasse ist als die zeitgenössische Musik.


    :hello:

    ...

  • Dieser Thread hat sich ja zu einem regelrechten Nachschlagewerk entwickelt und ist sozusagen ein Schnellkurs in "Moderne" geworden!
    Mein Dank besonders an Edwin, der hier Aufklärungsarbeit(jedenfalls für mich) mit viel didaktischem Talent leistet. Das letzte Posting finde ich ganz besonders lehrreich. :jubel:


    F.Q.

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Ja, es hängt damit zusammen. Wenn man es überspitzt formulieren will, hat die Musik im deutschsprachigen Raum einen zweimaligen Traditionsverlust erlitten. Den ersten durch die Nationalsozialisten, den zweiten durch die Gegenbewegung, die jedes Augenmaß verloren hat und nur das gelten ließ, was nach den wirren und verbrecherischen Ansichten der Nationaloszialisten "entartet" war.
    [..]


    Lieber Edwin,


    vielen Dank für die Darstellung dieser sehr interessanten (und mir völlig neuen) Zusammenhänge! Der Thread hat sich, nach anfänglichen emotionalen Ausbrüchen, tatsächlich dahin entwickelt, dass wichtigen Fragen ernsthaft auf den Grund gegangen wird. Schön! :yes:


    (Anmerkung: Dies habe ich mir in diesem Forum auch erwartet, und ich freue mich, nicht enttäuscht worden zu sein. Es zeigt mir wieder einmal, wie gut ich hier aufgehoben bin.. :yes:)


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Zitat

    Original von Mela
    Als Mathematikerin finde ich tatsächlich auch manche Beweise schön :pfeif:


    Melanie


    Auch


    Gerade Mathematik ist Schönheit pur (bin Nichtmathematiker... aber als Schüler war ich geradezu ergriffen von dem Beweis, daß die Ableitung von sinus cosinus ist). Und Zahlentheorie (Fermatsche Vermutung, habe mir den Beweis angesehen, natürlich nichts verstanden, aber war angesichts der 300 Jahre dauernden Suche trotzdem ziemlich magisch) ist gigantisch, wer hätte vor nur 30 Jahren so etwas Großartiges wie asymmetrische Kryptographie für möglich gehalten ?


    Ansonsten kann ich nur Rideamus beipflichten: Beauty is in the eyes of the spectator... ist natürlich ziemlich untheoretisch und einer wissenschaftlichen (intersubjektiv überprüfbaren) Theoriebildung reichlich abhold, aber what shalls... Kunst der Fuge ist reine, strahlende Schönheit, Stockhausen, Schönberg und Henze eben nicht. Selbstverständlich ist das eine pur subjektive Sicht ohne irgendeinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit - aber den sehe ich in der Musik ohnehin nirgends... im Grunde ist die Musik damit eines der letzten Felder des völligen Anarchismus, weil niemand sagen kann, daß seine Sicht besser oder gültiger sei als eine andere. Es gibt keine allgemeinverbindlichen Götter !! Wie großartig !!

  • Zitat

    Original von m-mueller
    [
    Gerade Mathematik ist Schönheit pur (bin Nichtmathematiker... aber als Schüler war ich geradezu ergriffen von dem Beweis, daß die Ableitung von sinus cosinus ist). Und Zahlentheorie (Fermatsche Vermutung, habe mir den Beweis angesehen, natürlich nichts verstanden, aber war angesichts der 300 Jahre dauernden Suche trotzdem ziemlich magisch) ist gigantisch, wer hätte vor nur 30 Jahren so etwas Großartiges wie asymmetrische Kryptographie für möglich gehalten ?


    Hallo m-mueller,


    auch wenn das jetzt off-topic ist, muss ich jetzt antworten: Als Wiles den Beweis veröffentlicht hat, gab es an unserer Universität eine Vorlesungsreihe von einem der angehesehensten deutschen Mathematiker zu diesem Beweis (Faltings). Ich bin irgendwo beim 3. Vortrag (im Beweis irgendwo um Seite 20, wenn ich mich richtig erinnere) ausgestiegen und konnte nur noch oberflächlich folgen, obwohl ich auch in diesem Gebiet gearbeitet habe. Das war schon Hardcore - aber natürlich trotzdem höchst faszinierend.


    Aber schön, dass es noch andere Leute gibt, die offen sind für die Schönheit in der Mathematik. Man kommt sich ja manchmal etwas komisch vor: Findet Boulez, Nono und Mathematik schön...


    Aber Bach, Mozart, Schubert, Wagner oder Mahler u.v.a. finde ich auch auf ihre Weise schön. Es gibt für mich viele verschiedene Motivationen Musik zu hören, verschiedene Komponisten oder Werke erfüllen diese auf verschiedene Weise. Aber die ungeheure Vielfalt, die die europäische Musik von 800 - 2008 ausmacht, möchte ich um nichts in der Welt missen (hier soll jetzt nicht gesagt sein, dass aussereuropäische Musik weniger vielfältig ist, aber da kenne ich mich nur wenig aus).


    Viele Grüße,


    Melanie

  • Tag,


    aus der Distanz kommt mir nach den Namen Schönberg, Stockhausen, uam doch in den Sinn zu sagen, dass auch deren Kompositionen sich offensichtlich mit tauglichen Mitteln begreifen lassen. - Die überkommene Musikwissenschaft hat sich unlängst zur Kognitiven Musikwissenschaft fortentwickelt, die überkommene Harmonielehre ist nichts als Fantasie ihrer Autoren, der nagenden Kritik der Mäuse zu überlassen - so der Chor der Spezialisten, damit ist die Bearbeitung auch der Musik der Moderne mit den Mitteln der auf die Gestalttheorie (Gestaltpsychologie) sich besinnenden Möglichkeiten frei. In Marc Leman (Hrsg.), Musik, Gestalt and Computing, Springer Verlag 1997, werden Analysen mit den modernen Mitteln der Kognitiven Musikwissenschaft präsentiert von Stücken von Webern (für Streichquartett), Stockhausen (Gesang der Jünglinge), Schönberg. Stockhausen war von den Möglichkeiten der Komposition mit statistischen Massen als Gestalten fasziniert (wie man lesen und nachvollziehen kann).


    Freundlich
    Albus

  • Zitat

    Ja, es hängt damit zusammen. Wenn man es überspitzt formulieren will, hat die Musik im deutschsprachigen Raum einen zweimaligen Traditionsverlust erlitten. Den ersten durch die Nationalsozialisten.....


    An denen kommt man offenbar auch in DIESEM Forum nicht vorbei - obwohl ich mir bei Gründung des Forums fest vorgenommen hatte, das Thema hier zu verbieten - aber scheinbar ist der Drang dieses Thema zur Sprache zu bringen über alle Maßen groß - mir persönlich zwar schwer verständlich - aber von mir aus.


    Aber dann muß natürlich auch ALLES gesagt werden dürfen (das ist IMO das Problem (weshalb ich das Thema eigentlich ablehne, weil es sich einer vorurteilsfreien Betrachtung scheinbar entzieht)


    Ich stelle mal die kühne These auf, daß es NICHT die Nationalsozialisten waren, die die "entartete" Moderne ablehnten sondern eine ganz andere Gruppe.


    Bevor ein Aufschrei in der Klassikwelt stattfindet will ich kurz erläutern wie ich zu dieser Ansicht komme (die natürlich keineswegs Anspruch auf absolute Richtigkeit erhebt)


    Es war das konservative Bürgertum, welches dies Musik immer schon ablehnte - und weitgehend noch heute ablehnt. (übrigens mehr oder weniger weltweit)
    Der Nationalsozialismus - hier federführend der erzkonservative Klassikkenner Dr Goebbels hat diese Ablehnung erkannt und sie zu seinen Gunsten ausgenutzt- als PR -Kampagne für eine Klientel deren Sympathien man brauchte.
    Man macht sozusagen die Konzertsäle wieder frei von "unerwünschter Musik".- mit freundlicher Billigung der Mehrheit des Publikums.....
    Der strategische Doppeleffekt ist klar erkennbar: Man verbannte eine unerwünschte Gruppe aus den Konzertsälen (und aus dem Land) - und gewann dabei noch Sympathien....


    Diese These steht - so wie ich sie formuliert habe auf wackligen Beinen, wären da nicht ein paar weitere Parameter....


    1) war die (weitgehende) Inakzeptanz dieser Musik (und des JAZZ !!) auch in Ländern vorhanden - wo es keinen Nationalsozalismus gab.


    2) gab es auch nach dem Ende des Regimes keinen ECHTEN Durchbruch dieser Musik - sie war "erlaubt", teilweise sogar "gefördert" - geliebt war sie indes (von Ausnahmen abgesehen) nie. Und das ist in gewisser Weise bis heute so. Veranstaltungsreihen wie "Wien modern" können darüber nicht hinwegtäuschen. Die Kataloge der Tonträgerfirmen sprechen da eine deutliche Sprache.


    Dieses Forum ist in dieser Frage IMO nicht besonders repräsentativ - es hat sich geradezu zur Speerspitze der Moderne entwickelt. Über das WARUM habe ich eine bestimmte These - aber die ist noch nicht gefestigt.


    3) Die in der NS Zeit führenden Dirigenten (heute - Jahrzehnte nach ihrem Tod stehen sie im Kreuzfeuer der Kritik) wurden bei Kriegsende nicht nur wieder in hochrangige Ämter eingesetzt - nein ihre Sympathiewerte waren ungebrochen - und das in aller Welt. Daraus schließe ich auf ein stillschweigendes Einverständnis des Publikums mit deren Programmpoltilk - die sich (von Ausnahmen mal abgesehen) auch nach dem Krieg nicht wesentlich änderte...


    Ich wäre generell überhaupt dafür, das Kapitel "Klassische Musik" (nun im weitesten Sinne des Wortes als abgeschlossen zu betrachten.


    Das Publikum hat sich dem Chanson, dem Musical, der Rockmusik etc zugewandt - eini winziger Teil davon der "experimentellen Musik"


    Aber das ist eine andere Welt, die mir "meiner" nichts mehr zu tun hat.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Unfassbar, der Schoß ist fruchtbar noch...


    Zitat

    Es war das konservative Bürgertum, welches dies Musik immer schon ablehnte - und weitgehend noch heute ablehnt. (übrigens mehr oder weniger weltweit)


    Und es war der Soziologe Theodor Geiger, der 1932 in seiner Analyse "Die Mittelstände im Zeichen des Nationalsozialismus" herausgearbeitet hatte, wie anfällig gerade die Mittelstände für radikale Ideologien sind, weil sie sich selbst nicht in einer gefestigten Klassenlage befinden. Für Feindbilder - so scheint es mir - ist man offensichtlich immer dankbar.



    Zitat

    und weitgehend noch heute ablehnt. (übrigens mehr oder weniger weltweit)


    Für diese Aussage dürftest Du wohl keine validen Studien beibringen können, oder täusche ich mich?



    Zitat

    Der strategische Doppeleffekt ist klar erkennbar: Man verbannte eine unerwünschte Gruppe aus den Konzertsälen (und aus dem Land) - und gewann dabei noch Sympathien....


    Ich will jetz einmal nicht annehmen, daß Du das in dem von Dir bemühten Zusammenhang begrüßt.



    Zitat

    Die in der NS Zeit führenden Dirigenten (heute - Jahrzehnte nach ihrem Tod stehen sie im Kreuzfeuer der Kritik) wurden bei Kriegsende nicht nur wieder in hochrangige Ämter eingesetzt - nein ihre Sympathiewerte waren ungebrochen - und das in aller Welt. Daraus schließe ich auf ein stillschweigendes Einverständnis des Publikums mit deren Programmpoltilk - die sich (von Ausnahmen mal abgesehen) auch nach dem Krieg nicht wesentlich änderte...


    Da kannst Du aber bestenfalls diejenigen meinen, die im Reich verblieben sind. Namentlich könntest Du Furtwängler, Böhm und Karajan anführen. Schuricht hingegen hat sich sehr wohl der Moderne zugewandt, von dem nichttdeutschen Raum rede ich jetzt gar nicht.


    Und daß - dies als spezifisch bundesdeutsches Phänomen - die BRD in Politik, Wirtschaft, Medien und Justiz nach wie vor in der Wolle braun gestrickt war erleichter vielleicht die Erkenntnis, warum bestimmte Künstler nach dem Kriege weiter aufgetreten sind (und auch weiter in Amt und Würden waren). Daß ein Berufsverbot freilich schwachsinnig gewesen wäre steht auf einem anderen Blatt.



    Zitat

    war die (weitgehende) Inakzeptanz dieser Musik (und des JAZZ !!) auch in Ländern vorhanden - wo es keinen Nationalsozalismus gab.


    Ja, entschuldige bitte, was bringt Menschen auf die Idee, daß alles um sie herum ihre Akzeptanz finden muss? Ich verstehe das nicht. Welch ein Unfung. Wenn derart phobisch auf Dinge reagiert wird, die man nicht verstehen kann, will oder mag, dann sollte man vielleicht zunächst seine eigene Selbstverortung überprüfen.


    Aber wahrscheinlich habe ich mal wieder alles einfach nicht richtig verstanden.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Tag,


    das überkommene Zeremoniell des kulturellen Mißvergnügens im deutschsprachigen Raum gehört aber doch als unterschieden erkannt von der Agitprop-Organisation des Hasses. - Die Echolosigkeit von Kunstfraktionen ist eine Banalität des Lebens, unzerstörbar wie eine Plastikflasche. Nur ist die Echolosigkeit keine Propaganda gegen Musik, von der man in böser Zuspitzung sagt, es sei "Entartete Musik", Düsseldorf 1938.


    Wenn etwa Theodor W. Adorno in seiner Kennerschaft des Alten und des Modernen aber vom Jazz ahnungslos und abfällig spricht, dann ist das ohne Wert.


    Die Musik bleibt, als Klassische wie auch als je Moderne.


    Freundlich
    Albus

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Ich stelle mal die kühne These auf, daß es NICHT die Nationalsozialisten waren, die die "entartete" Moderne ablehnten sondern eine ganz andere Gruppe.


    Das stimmt.
    Die Nationalsozialisten verstanden sich nämlich als Vorreiter einer Alternativen Moderne, nicht der dekadenten Entarteten Kunst und Musik. Aber selbstverständlich hatten sie ein großes Interesse an neuer Kunst und Musik, die zum einen ihre pompösen Inszenierungen begleiten sollte, die Massen mitreißen und insgesamt die kulturelle und kreative Überlegenheit der "Nordischen Rasse" demonstrieren sollte. Riefenstahl ist nur die heute noch bekannteste Gestalt. Ich müßte das jetzt nachschlagen, aber etliche junge Komponisten wurden von den Nazis gefördert. Es gab eine Musikpreis bei den Olympischen Spielen 1936 usw. Keineswegs alle Strömungen der Moderne wurden prinzipiell abgelehnt. Bartok, insofern er sich als "urtümlich ungarisch" deuten ließ z.B. nicht. Sibelius' Musik (nicht gerade modern, aber damals ziemlich neu) wurde aufgrund ihres "nordischen" Charakters begrüßt (und weil man ein Violinkonzert als "Ersatz" für Mendelssohns brauchte). Ich meine Edwin hätte irgendwo schonmal Kundiges zu Komponisten im 3. Reich geschrieben.
    Alos: Die NS lehnten die Moderne nicht ab. Einen Teil davon zwar radikal, einen anderen hofften sie sich anzueignen und zu prägen


    Zitat


    Es war das konservative Bürgertum, welches dies Musik immer schon ablehnte - und weitgehend noch heute ablehnt. (übrigens mehr oder weniger weltweit)
    Der Nationalsozialismus - hier federführend der erzkonservative Klassikkenner Dr Goebbels hat diese Ablehnung erkannt und sie zu seinen Gunsten ausgenutzt- als PR -Kampagne für eine Klientel deren Sympathien man brauchte.


    Das konservative Bürgertum versucht ja in den letzten Jahren deutlich zu machen, sie hätten nicht so viel mit den Nazis zu tun haben wollen (wie das historisch war, ist eine Frage, die wir hier weder beantworten können noch müssen). Ein großer Teil von ihnen war jedenfalls bereits nationalkonservativ, da war nicht mehr viel Überzeugungsarbeit notwendig. Aber allein aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl war es ganz sicher wichtiger, möglichst große Teile der Arbeiter und (vor allem) Kleinbürger hinter sich zu bringen und dann das wirklich einflußreiche Großkapital. Das ist bekanntlich gelungen.


    Der eigentliche Punkt ist aber ein anderer: Aus welcher Schicht stammen Deiner Ansicht nach die Befürworter Moderner Musik und Kunst, wenn nicht aus dem Bildungsbürgertum? Es glaubt doch kein Mensch, dass das hauptsächlich verkrachte Adlige oder rote Arbeiterführer waren oder sind. ;) Sondern selbstverständlich aus *derselben* "kulturtragenden" Schicht.
    (Einige Mäzene wie Paul Sacher natürlich aus dem sehr wohlhabenden Besitzbürgertum)
    Wenn ich recht sehe hatten z.B. Bartok, Berg und Schönberg kleinbürgerlichen, Webern großbürgerlich-adligen Hintergrund. Fast alle Komponisten der Moderne (wie auch früherer Zeiten) stammten aus Musikerfamilien, also dem mittleren oder Kleinbürgertum.


    Zitat


    1) war die (weitgehende) Inakzeptanz dieser Musik (und des JAZZ !!) auch in Ländern vorhanden - wo es keinen Nationalsozalismus gab.


    Häh? Der Jazz wurde aber doch ungeheuer populär? SEHR VIEL populärer als irgendwas von Haydn oder Schönberg?
    Die Mehrheit, die jungen Leute (waren damals noch die Mehrheit) liebten Jazz usw. Natürlich wurde er von Konservativen abgelehnt (aber auch von einigen Vorkämpfern der Avantgarde wie Adorno!) Also der Jazz hilft hier gar nicht weiter.


    Übrigens verwischt der Vergleich mit anderen Länder nur das, was erklärt werden soll, nämlich die besondere Situation im deutschsprachigen Raum, und wofür einmal das Nazi-Regime und dann die Reaktion auf deren Kulturpolitik in der Nachkriegszeit von Edwin angeführt wurden. Das ist nämlich spezifisch für Deutschland (und Östereich und evtl. Italien)


    Zitat


    2) gab es auch nach dem Ende des Regimes keinen ECHTEN Durchbruch dieser Musik - sie war "erlaubt", teilweise sogar "gefördert" - geliebt war sie indes (von Ausnahmen abgesehen) nie. Und das ist in gewisser Weise bis heute so. Veranstaltungsreihen wie "Wien modern" können darüber nicht hinwegtäuschen. Die Kataloge der Tonträgerfirmen sprechen da eine deutliche Sprache.


    Das muß man nicht wiederholen. Du schließt aus deinen Vorlieben und denen deiner unmittelbaren Umgebung. Dass dutzende von seinerzeit als entartet geltenden (oder anderswie bei Konservativen unbeliebten) Werken heute ebenso zum Repertoire gehören wie Beethoven oder Schumann, ignorierst Du einfach. Es gibt z.B. ziemlich sicher mehr Aufnahmen (und Aufführungen) von Strawinsky Le Sacre, Messiaens Turangalila oder Bergs Violinkonzert als von Haydns Sinfonie Nr. 90. Daraus folgert aber keiner, dass man Haydns 90. nicht spielen sollte, "weil sie eh keiner hören mag."
    Keines der vielen Stücke von z.B. Kraus, Gyrowetz, Ries, Raff, Wetz usw. die hier als willkommene Ausgrabungen gefeiert werden, hatte jemals einen echten Durchbruch. Fast alle davon werden seltener aufgeführt und eingespielt als Klassische Moderne oder Zeitgenössisches. Damit kann man also kaum argumentieren.


    Zum x-ten Mal: Warum ist anscheinend völlig irrelevant, dass sich nur 5-10% der Bevölkerung überhaupt für Klassik interessieren, aber ein "Todesurteil" für die "Moderne", dass sich nur 0,5% für sie interessieren? Warum soll als positiv, nämlich als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer elitären Gruppe, gewertet werden, wenn man zu den 5% gehört, aber nicht als noch besser, wenn man zu den noch auserleseneren 0,5% gehört (und wenn es nur 0,05% sind, noch exklusiver = besser!) :D


    Zitat


    3) Die in der NS Zeit führenden Dirigenten (heute - Jahrzehnte nach ihrem Tod stehen sie im Kreuzfeuer der Kritik) wurden bei Kriegsende nicht nur wieder in hochrangige Ämter eingesetzt - nein ihre Sympathiewerte waren ungebrochen - und das in aller Welt. Daraus schließe ich auf ein stillschweigendes Einverständnis des Publikums mit deren Programmpoltilk - die sich (von Ausnahmen mal abgesehen) auch nach dem Krieg nicht wesentlich änderte...


    So simpel ist es nicht. Des Teufels Musikmeister, Furtwängler, war keineswegs ein Feind der Moderne, sondern dirigierte Bartok, 2. Wiener Schule usw. Rosbaud, einer der Dirigenten, die sich nach dem Krieg entschieden für die Avantgarde einsetzte, profitierte vom Nazi-Regime und erhielt Posten im besetzten Frankreich. Und es wird weitere Beispiele geben.


    Abgesehen davon wurden auf praktisch allen Gebieten viele NS-Chargen nach kurzer und oberflächlicher Entnazifierung wieder eingesetzt. Darunter z.B. Juristen, Wissenschaftler und KZ-Ärzte, die tiefer im System drinhingen als irgendein bekannter Musiker. Daraus läßt sich also gar nichts schließen. Im Gegenteil ist im Falle der Künstler noch viel eher nachvollziehbar, dass sie teils aus Weltfremdheit zu spät merkten, was Sache war, während das ein Nazi-Jurist oder Offizier wohl kaum geltend machen kann. Und das internationale Publikum dürfte ähnliche Überlegungen angestellt haben. (Das deutsche und österreichische war selbst fast immer ebensotief ins Regime verstrickt gewesen wie die Musiker und wird sich gehütet haben, schlafende Hunde zu wecken)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Meine Lieben


    Uff, da hat sich ja ein Konvolut von Meinungen und Interpretationen aufgebaut, das unbedingt einer Aufdröselung bedarf! Ich zweifle, ob ich das schaffe, aber versuchen will ich es.


    Zuerst einmal möchte ich die Ausführungen des verehrten Edwin zum doppelten Tradtionsverlust der Musik durch den Nationalsozialismus und durch dessen Gegenbewegung (als quasi lexikalische Klarstellung) hochachtungsvoll verdanken. Seine Bemerkungen sind so was von erhellend und klarstellend, dass jegliche Reaktion darauf obsolet ist.


    Zur Replik von Alfred möchte ich anfügen, dass ich überhaupt nicht den Eindruck habe, dass irgend jemand in unstatthafter Weise das nationalsozialistische Anti-Modernitäts-Gedankengut thematisieren will.
    Er hat natürlich recht mit der Bemerkung, dass die Nazis ein bereits in der Bevölkerung vorhandenes Unbehagen gegenüber der damaligen zeitgenössischen Musik für ihre Zwecke usurpiert haben. (Machtmenschen sind keine Musikliebhaber und –kenner!)


    Wenn die Kulturbanausen eine neue kulturelle Strömung verurteilen, verleiht gerade dieser Umstand dieser Entwicklung aber einen besonderen, positiv konnotierten Wert. Deshalb zögere ich nicht, der sogenannten Serialität einen kulturerprogressiven Wert zuzusprechen, auch wenn ich persönlich diese Musiksprache nicht verstehe.
    Aber was ich verstehe, ist, dass sie in der damaligen Zeit essenziell notwendig war! Die „Harmonie“ war nicht mehr auf die „Reihe“ zu kriegen!


    Ich gestehe, dass ich die poetischen Beiträge von Albus noch nicht ganz verstehe, meine aber zu spüren, dass er die sogenannt moderne Musik als Spiegel der kulturellen Entwicklung versteht und wertschätzt. Das tue ich auch, ohne sie deswegen zu lieben.


    Ich verstehe, dass der werte Thomas Pape etwas ungehalten auf Alfreds Posting reagiert.
    Allerdings tut er dies aufgrund der „Oberfläche“ von Alfreds durchaus bedenkenswerten Einschätzungen und achtet weniger auf die stimmigen Töne aus der Tiefe:
    Es gab und gibt dieses stillschweigende Einverständnis der breiten Bevölkerungsschicht mit der nazionalsozialistischen Säuberung der Musik,
    und diese war geradezu eine opportunistisch usurpierte Konsequenz jener „plebejischen“ Ignoranz.


    Ich habe jetzt aber ein Problem:
    Ich verstehe die serielle Musik auch nicht, noch weniger liebe ich sie, ich möchte aber auch nicht als potentiell nazionalsozialistisch usurpierbarer Plebejer gelten...
    Ich mutmasse, dem werten Alfred geht es gleich wie mir.


    Deshalb plädiere ich für eine radikale Trennung der musikalischen Parameter von jeglicher politischer Begrifflichkeit:
    Wenn man die Moderne Musik ablehnt, darf das NICHTS mit politischer Konnotation zu tun haben.


    Es ist völlig unstatthaft, die Gegner und die Verteidiger der Tonalität mit Begriffen von politischer links-rechts Geographie zu definieren!


    Das war aber auch in keinster Weise Edwins Absicht in seinem sensationellen Plädoyer, bei dem ich auch mitnichten einen modernitätslastenden Touch feststellen kann: es ist einfach die Wahrheit. Und gerade wegen solchen Postings bin ich stolz, bescheidenes Mitglied der Taminogemeinde sein zu dürfen.


    Mit liebem Gruss aus Bern von Walter

  • Lieber Alfred,
    in Deiner Argumentation geht's leider etwas durcheinander - ich vermute wie Johannes, daß Du Deine persönliche Abneigung argumentierst. Nur sollte man gerade in diesem Zusammenhang die Sache doch differenzierter angehen.


    Du übersiehst einen mir wichtig erscheinenden Punkt: Es gab in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts drei antidemokratische Bewegungen: Den Kommunismus, den Nationalsozialismus und den Faschismus. Wenn das stimmt, was Du behauptest, nämlich, daß die Diktatoren mit dem Verbot der Neuen Musik bei der breiten Masse punkten wollten, dann müßten doch auch die Kommunisten und die Faschisten die Neue Musik verboten haben.


    Das Gegenteil war der Fall: Unter Lenin wurde die Neue Musik sogar stark gefördert (die Ergebnisse kann man etwa beim jungen Schostakowitsch, aber auch bei Mossolow nachhören) - erst unter Stalin kam die Kehrtwendung. Und Mussolini stand ebenfalls für die Neue Musik. Zu den geförderten Komponisten gehörte etwa Luigi Russolo mit seiner aus Geräuschen aufgebauten Musik, aber auch Luigi Dallapiccola, der bereits ein Zwölftöner war. (Daß Dallapiccola mit den Faschisten später brach, hatte mit persönlichen Aversionen zu tun, nicht mit künstlerischen Vorgaben.)


    Bleiben also die Nationalsozialisten.


    Und hier ist die Ursache meiner Meinung nach schlicht und einfach darin zu sehen, daß Hitler einen bestimmten nicht-avantgardistischen Geschmack hatte und diesen Geschmack zur Richtlinie erklärte. Am besten sieht man das an der Hindemith-Affäre: Hindemith wäre brauchbar gewesen, der "Mathis"-Text liest sich teilweise sogar wie ein Kniefall, seine Musik war längst entschärft, es hätte alles gepaßt. Wenn nicht...
    ...ja, wenn nicht Hitler Hindemiths Oper "Neues vom Tage" gesehen hätte, wegen einer in der Badewanne gesungenen Koloraturarie einen Wutanfall gekriegt hätte und Hindemith aufgrund dieses einen einzigen Werks zum entarteten Komponisten erklärt hätte - während sklavische Hindemith-Nachahmer als Ideale einer nationalsozialistischen Musik gepriesen wurden.
    Hier versagt jeder Versuch einer Argumentation, daß hinter der nationalsozialistischen Kunstpolitik in Sachen Musik etwas wie ein Konzept gesteckt wäre.


    Es wird teilweise sogar noch absurder: Der Däne Paul von Klenau, ein meiner Meinung nach ziemlich interessanter Komponist, schrieb auf zwölftöniger Basis Opern, die im nationalsozialistischen Kulturbetrieb gefördert wurden. Aber Berg, dessen "Rettung" in diversen Opernführern von etwa 1935 noch versucht wurde und der eindeutig Klenaus Vorbild ist, galt als "entartet". Berg war offenbar dem Juden Arnold Schönberg zu nahe gekommen. Klenau hingegen berief sich clever auf ein wirres Geflecht mit viel germanischer Tradition, auf eine Zwölftonmusik, die nichts mit Schönberg zu tun hat, sondern mit dem Deutschtum - und wurde gespielt.


    Werner Egk wiederum kopiert im "Peer Gynt" über weite Strecken schamlos Krenek und Weill. Der Führer höchstpersönlich gratulierte Egk zu dieser hervorragenden Oper. Der "entartete" Nicht-Jude Krenek saß im Exil in den USA...


    Es ist also keineswegs ganz so einfach.


    Tatsache ist allerdings, daß die Nationalsozialisten eine Tradition abschnitten: Es geht ja nicht nur um die Dir, lieber Alfred, mißliebige Zwölftonmusik bzw. anders strukturierte Avantgarde. Es geht auch um eine Weiterentwicklung auf der Basis von Mahler und Schreker sowie einiger neuer Entwicklungen, für die ich stellvertretend Kurt Weill nenne.


    Daß Werke dieser Richtungen beim breiten Publikum Erfolg hatten, kannst Du nicht wegdiskutieren: Korngold, Weill, Hindemith, Rathaus, Krenek, Schreker, Goldschmidt etc. etc. erzielten Sensationserfolge. Auch dieser Tradition wurde die Musik im deutsch-österreichischen Raum beraubt.


    Es ist dabei schon möglich, daß sich die Schönberg-Richtung ohnedies nicht hätte halten können - aber die Neue Musik bestand ja nicht aus der Schönberg-Richtung allein.
    Ich halte es sogar für möglich, daß erst der Umgang der Nationalsozialisten mit der nicht-tonalen Avantgarde dieser nach 1945 zum Durchbruch verholfen hat. Auf die nationalsozialistische Aktion folgte die Reaktion in Form von Neugier darauf, was man nicht hatte hören bzw. komponieren dürfen.


    :hello:

    ...

  • Eigentlich ist in den Beiträgen von Thomas Pape, Albus, Walter Heggendorn und insbesondere JR und Edwin alles gesagt.


    Dennoch eine kurze Anmerkung:


    Zitat

    Original von Walter Heggendorn
    Machtmenschen sind keine Musikliebhaber und –kenner!


    Ich glaube, lieber Walter, hier ist der Wunsch Vater des Gedankens. Es wäre wünschenwert, doch sind »Machtstreben« und »Kunstliebhabertum« resp. »-kennerschaft« leider keineswegs diskret voneinander geschieden. Der Beispiele sind sicherlich Legionen, aber Friedrich II. etwa ist ein hübsches Beispiel dafür, wie Machtstreben und Militarismus einerseits und Kunstliebhabertum und Mäzenatentum andererseits recht gut zu verbinden sind. Hitler (den ich jetzt nicht mit dem alten Fritz gleichsetzen mag) war vielleicht kein tiefer »Kenner« der Künste, aber ein Liebhaber war er allemal. Goebbels war fraglos auch ein Kenner.


    Daß auch Künstlertum nicht vor der Faszination des Totalitären schützt, dürfte ebenfalls fraglos sein. Der gute Gottfried Benn etwa hat sich ja nicht einfach blind dem NS angedient, sondern (zumindest anfangs) mit der Bewegung sein Ideal einer anderen Moderne heraufdämmern sehen und mit »Züchtung I« einen (übrigens hochinteressanten) Text geschrieben, der lupenrein ein faschistisches Programm verfolgt (was dann schließlich – Edwin hat zurecht darauf hingewiesen – eben nicht mit dem ästhetischen Programm des NS konvergierte).


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Lieber Medard


    Du hast grundsätzlich recht, mit Deinem Einwand. Meine Bemerkung war etwas zu pauschal und Deine Beispiele sind absolut plausibel.
    Aber ich meine halt dennoch, dass der Machtmensch zu der Musik keinen neutralen Zugang hat, sondern sie missbraucht als Valium, oder als Ego-Verstärkung.
    Oder aber er bekämpft sie, wenn sie eine Eigendynamik entwickelt, die nicht in sein Weltbild passt.


    Grüsse aus Bern von Walter

  • Zitat

    Original von Klawirr
    Ich glaube, lieber Walter, hier ist der Wunsch Vater des Gedankens. Es wäre wünschenwert, doch sind »Machtstreben« und »Kunstliebhabertum« resp. »-kennerschaft« leider keineswegs diskret voneinander geschieden. Der Beispiele sind sicherlich Legionen, aber Friedrich II. etwa ist ein hübsches Beispiel dafür, wie Machtstreben und Militarismus einerseits und Kunstliebhabertum und Mäzenatentum andererseits recht gut zu verbinden sind. Hitler (den ich jetzt nicht mit dem alten Fritz gleichsetzen mag) war vielleicht kein tiefer »Kenner« der Künste, aber ein Liebhaber war er allemal. Goebbels war fraglos auch ein Kenner.


    Daß auch Künstlertum nicht vor der Faszination des Totalitären schützt, dürfte ebenfalls fraglos sein.


    Ganz herzlich,
    Medard


    Absolut Deiner Meinung, Medard. Der als Sonnenkönig gefeierte Monarch war ebenfalls kein machtferner Mensch und Liebe zur Musik kann man ihm wohl wirklich kaum abstreiten.


    "Der Wunsch Vater des Gedankens" ist ein gutes Stichwort. Ich halte es für nachvollziehbar und menschlich aber ebenfalls für falsch psychologisch derart einfach zu kategorisieren. Solcherart hat der Pädagoge und Philosoph Kerschensteiner Menschen in Typen kategorisiert: der soziale Mensch, der Machtmensch, der religiöse Mensch etc. - jedoch mit dem Hinweis verbunden, daß wohl kein Mensch nur einen Typen verkörpert!
    Es hilft, den Überblick zu bewahren und seinen eigenen Standpunkt (meist in selbsterbaulicherweise zu definieren), wenn wir uns selbst von anderen Menschen abgrenzen, in dem wir Begriffe wie Machtmenschen einerseits nutzen, andererseits sie auch noch mit Attributen versehen, die uns in unserer abweichenden Position bestärken.
    Genauso - und man verzeihe mir die kurze Abschweifung - muß man einfach begreifen, daß die größten Menschheitsverbrecher keine Dämonen waren sondern Menschen. Verletzte und v.a.verletzende Menschen. Das rechtfertigt in keinster Weise ihr Tun, aber es zeigt, wie sehr Potenziale in uns angelegt sind,und wie fragil unsere psychische Struktur sein kann.


    In Wirklichkeit glaube ich, sind nur ganz wenige Menschen derart gefestigt, daß sie Macht ablehnten. Böte man von einer Sekunde zu anderen absolute Macht, die meisten Menschen würden fast alles dafür geben. Jede Wette. Es ist einfach das aus einer durch Familie und Freunde gefesitgten Position zu verneinen, da absolut hypothetisch. Wäre die Macht zum Greifen nahe, wer würde widerstehen? (s. Politik, aber auch in Comics, bspw. Superman - wer hat sich nicht einmal selbst vorgestellt, derart große Macht zu besitzen?)
    Da aber die meisten Menschen mit Musik zu tun haben und gerne Musik hören hat das eine herzlich wenig mit dem anderen zu tun. "Nur" insofern, daß ihre Geisteshaltung in ihre Interpretation und Auffassung von Musik einflöße.
    Und dort so, daß ich nicht der Meinung bin, daß man den Menschen xy vom Musiker xy trennen kann, wie das vielleicht beim Physiker (Bsp. Lenard) ist.

    :hello:
    Wulf


    P.S. Es gibt einen wundervollen Satz aus Hardys: The Return of the Native über den Menschen. Werde mal nachschauen und ihn hier dann - auch wenn es ein wenig OT ist (sorry) posten.

  • Auch Du hast recht, lieber Wulf, und ich bin der Letzte, der die Menschen katalogisieren wollte und der Erste, der weiss, wie vielschichtig der Mensch ist.


    Aber wie Du ja selbst anführst, ist es manchmal angebracht, in der Diskussion ein schwarz-weiss-Klischee zu bemühen um die Argumentation zu pointieren (ob zur selbsterbaulichen Abgrenzung sei jetzt mal dahingestellt).


    Noch ein Wort zum „Machtmenschen“:
    Ich würde mit diesem Begriff den Menschen skizzieren wollen, der primär auf die „Haben“-Seite fixiert ist (vgl. Erich Fromm: Haben oder Sein).

    Da man der Musik nicht haptisch habhaft werden kann, wird dieser Mensch sich um Einfluss bemühen rund um das Entstehen und Geschehen der Musik (Komposition, Exekution, Produktion).
    Das ist eine gute Jacke für den reaktionären Musikfunktionär, der die Musik benutzt und manipuliert.
    Das Neue (die Moderne) kann man noch nicht manipulieren. Man kann höchstens versuchen, es zu unterbinden, aber dieser Versuch wird letzlich immer scheitern, weil die Musik eben grundsätzlich zum Seins-Aspekt gehört.


    Mit liebem Gruss
    Walter

  • Zitat

    Keines der vielen Stücke von z.B. Kraus, Gyrowetz, Ries, Raff, Wetz usw. die hier als willkommene Ausgrabungen gefeiert werden, hatte jemals einen echten Durchbruch.


    Das sehe ich allerdings nicht so.
    Richtig ist, daß diese Werke NACH ihrer Ausgrabung nur von auf das Interesse einer kleinen Minderheit stießen - Zu Lebzeiten waren all diese Komponisten anerkannt - mit ausnahme von Wetz vielleicht....


    Zitat

    Fast alle davon werden seltener aufgeführt und eingespielt als Klassische Moderne oder Zeitgenössisches. Damit kann man also kaum argumentieren.


    Im Fallle der Klassischen Moderne stimme ich überein, im Falle des Zeitgenössichen würde ich widersprechen - wenn ich mich auf AUFNNAHMEN beziehe.


    Zitat

    Zum x-ten Mal: Warum ist anscheinend völlig irrelevant, dass sich nur 5-10% der Bevölkerung überhaupt für Klassik interessieren, aber ein "Todesurteil" für die "Moderne", dass sich nur 0,5% für sie interessieren?


    Es ist BEIDES nicht irrelevant. Wenn es uns nicht gelingt den "Klassikanteil" von 5 % zu halten, dann wird diese Musikrichtung untergehen, weil dann Sindonieorchester unbezahlbar bzw nicht rentable sein werden und der (heute noch) vorhanden "Prestigeeffekt für Wirtschaftsbonzen" einfach nicht mehr zum Tragen kommt. Kein Sponsoring - wenig Publikum - wenig - Tonaufnahmen - keine gesellschaftliche Relevanz.
    Letztlich kämpft auch Tamino mit seinen (noch) bescheidenen Mitteln gegen diese Tendenz.


    Ein letztes noch: Meine persönliche Abneigung gegen zeitgenössiche Musik (nicht gegen die klassische Moderne) hat keinerlei Einfluß auf von mir gemachte Analysen (egal ob die letztlich richtig oder falsch sind) Es gibt also kein "Wunschdenken" in irgendeine Richtung, denn man sollte sich (durch absichtich falsche) Analysen nicht selbst betrügen.


    Edwin pflichtet mir übrigens indirekt bei, wenn er sagt, der Nationalsozialismus habe nichts Grundlegendes gegen die Moderne einzuwenden gehabt. Diese von einer breiten Schicht getragene Ablehnung
    war lediglich ein idealer Boden sich mißliebiger Leute zu entledigen.


    Das alles fand einige Jahre vor meiner Geburt statt. Mir dabei eine gwewisse Schadenfreude zu unterstellen, das halte ich für unangebracht. Ich behaupte lediglich, daß die Entwicklung der Musik auch OHNE politischen Einfluß ein ähnlicher gewesen wäre wie jene die in der Tat stattgefunden hat.
    Edwin hat etliche Namen aufgezählt, welche NICHT verfolgt waren - Die meisten sind heute vergessen, die anderen werden kaum aufgenommen - mir fällt hir beispielsweise Egk ein.....


    Machtstreben und Musikalität ist aus meiner Sicht übrigens KEIN Gegensatz - schließlich waren die Kirche und Hochadel, bzw Herrsche stets Auftraggeber......



    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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