ORPHEUS UND EURYDIKE in Paris

  • Als Pina Bausch 1975 "Orpheus und Eurydike" im Tanztheater Wuppertal schuf, verwies sie deutlich auf die in der Tradition des Barock liegenden Wurzeln dieser Oper - Musik, Tanz und Gesang als gleichberechtigtes Gesamtkunstwerk. An der Pariser Oper wurde diese Produktion erstmals 1993 gezeigt, 2005 mit dem hauseigenen Ballett einstudiert und jetzt unter der Leitung von Pina Bausch mit vier Wochen Probenzeit wieder aufgenommen.
    Zur Umsetzung des Konzeptes bedarf es starker Personen. Nicht nur, weil die Szene beinahe ohne Dekorationen und im letzten Bild ganz ohne auskommt. Sondern vor allem auch, weil die Saengerinnen neben den Tanzern nicht untergehen sollen.
    Das gelingt im Palais Garnier, der alten Oper im Zentrum von Paris, nur bedingt. Zwar gibt es, weil beinahe jeden Tag gespielt wird, zwei Besetzungen in jeder Rolle (und bei den Taenzern sogar drei), die konnten aber unterschiedlicher nicht sein. Und zwar nicht nur in stimmlicher Hinsicht, sondern vor allem auch was die Persoenlichkeiten betrifft.
    Dieser "Orpheus" wird in Paris als Ballett angesetyt und scheint auch im eigentlichen Opernspielplan nicht auf. Fuer einen Grossteil der Besucher steht daher auch der Tanz im Mittelpunkt des Intereses und die Taenzer sind die eigentlichen Stars des Abends. Das ergibt aber auch Rahmenbedingungen, mit denen Opernsaenger erst vertraut werden muessen. Der Chor - ausgezeichnet der von Detlef Bratschke einstudierte Balthasar Neumann Chor - ist in den Orchestergraben verbannt, den Solistinnen bleibt in dem von Pina Bausch verpassten Korsett kein Rahmen fuer eigene darstellerische Entfaltung. Ware nicht ab und zu ein Gang quer von rechts nach links und umgekehrt, man koennte beinahe von einem szenischen Oratorium sprechen. Und doch - bei Saengerinnen mit Charisma und Persoenlichkeit geht dieses Konzept auch auf.
    Maria Riccarda Wesseling, Orpheus in der Premiere am 4. Februar, erfuellkt diese Ansprueche nur bedingt. Weder stimmlich noch von der Persoenlichkeit ist sie in dieser Produktion eine Idealbesetzung. Natuerlich kann man auch ueber die subjektiv empfundene Schoenheit von Stimmen trefflich streiten, aber Schoenheit und Ebenmass im Vikalen habe ich bei ihr vermisst. Sie singt jeden Ton richtig, jedoch die Hoehe naehert sich enger Schrille und die Tiefe klingt immer wieder unschoen. Yann Bridard, der als einziger Tanzsolist auch am folgenden Tag das alter ego zum Gesangssolisten tanzt, hat neben ihr leichtes Spiel. Ganz anders Elisabeth Kulman in der zweiten Auffuehrung am 5. Februar. Mit ihrer Buehnenpraesenz reduziert sie die Taenzer - und unter denen finden sich einige, die sonst solistisch auftreten - beinahe zu Nebendarstellern. Und auch stimmlich werden die Wuensche und Erwartungen erfuellt. Ihre in allen Lagen volle und wohlklingende Stimme ist die ideale Ergaenzung zur Figur. Man muss den Text nicht verstehen - es wird deutsch gesungen; eine Sprache, die eine deutliche Mehrheit im Publikum nicht spricht - um Trauer (um den Tod der geliebten Gattin), Freude (ueber das von Amor versprochene Wiedersehen) oder Leid (weil Eurydike fuer immer verloren ist) allein aus der Stimmfarbe zu verstehen. Die Goetter wissen, warum ihr die Premiere vorenthalten worden ist.
    Julia Kleiter und Svetlana Doneva alternierren als Eurydike. Beide sind absolut rollendeckend stimmlich wie darstellerisch. Und Obwohl Frau Doneva bereits mehrmals mit Thomas Hengelbrock gearbeitet hat und seine Art des Musizierens daher kennt, hat Julias Kleiter als Saengerin der Premiere auf mich einen besseren Eindruck hinterlassen. "Begleitet" wurden die beiden von Marie-Agnes Gillot (Kleiter) bzw. Eleonora Abbagnato (Doneva).
    Sunhae Im, in der Serie von 2005 die Eurydike, singt jetyt den Amor mit fuer mich zu voller Stimme. Helene Guilmette in der zweiten Auffuehrung ist da vokal doch rollenentsprechender. Als Person ist es dagegen genau umgekehrt. - hier profitiert Im von ihrer Kenntnis der Inszenierung und ihrer beinahe zerbrechlichen Figur. Miteki Kudo und Muriel Zusperrguy sind die Taenzerinnen.
    Als Orchester wurde wie schon 2005 das Balthasar Neumann Ensemble engagiert, ein auf "alte Musik" spezialisierter Klangkoerper. Dass zum Teil auf Originalinstrumenten gespielt wird, ist im grossen Haus zwar nicht unproblematisch, aber es wird ein idealer Klangteppich ausgebreitet. Ein besonderes Lob gilt dabei dem Floetensoli im 3. Bild. Dass dieser "Orpheus" zu einem trotz aller kritikasterischen Einwaende zu einem musikalischen Ereignis wurde, liegt nicht zuletyt an der Leitung von Thomas Hengelbrock. Einmal mehr zeigt sich, dass er bei entsprechenden Bedingungen (Saenger und Musiker) auch ein guter Operndirigent und aufmerksamer Begleiter ist.


    Nachsatz: Die Produktion wird am 16. Februar in ARTE direkt gesendet.



    Michael 2

  • Zitat

    Original von brunello
    Als Pina Bausch 1975 "Orpheus und Eurydike" im Tanztheater Wuppertal schuf, verwies sie deutlich auf die in der Tradition des Barock liegenden Wurzeln dieser Oper - Musik, Tanz und Gesang als gleichberechtigtes Gesamtkunstwerk.


    Lieber Brunello,


    vielen Dank für Deinen schönen Bericht, der bei mir dennoch einige Fragen offenlässt, bzw. zu (in diesem Rahmen kurzgefasste) Bemerkungen veranlasst.


    Dass ausgerechnet der Glucksche "Orpheus" mit seiner Gleichberechtigung von Chor, Tanz und Gesang (so müsste es eigentlich heißen) die Barocktradition fortsetzt, scheint mir allem zu widersprechen, was ich über die Oper weiß. Es hat im Barock diese Elemente gegeben, aber hier sind sie zu einer neuen Einheit mit neuen Funktionen verschmolzen worden. Das Ballett etwa ist kein "Ausstattungsballett" mehr, es ist ein ballet d'action, das in die Handlung integriert ist. Der Orfeo zeigt schon deutlich die Integration mehrerer Musikstücke (Chor und Arie etwa bei der Eingangsszene) zu einer Opernszene. Die Weiterentwicklung von der Nummernoper ist nicht zuletzt durch den Verzicht auf die Secco-Rezitative zu bemerken. Wo bei der Barockoper der Fortgang der Handlung im Rezitativ geschah, haben bei Gluck alle Teile der Oper an der Handlung unmittelbar teil. Anti-barocker kann keine Oper wie der Orfeo sein.


    Zitat

    Man muss den Text nicht verstehen - es wird deutsch gesungen; eine Sprache, die eine deutliche Mehrheit im Publikum nicht spricht


    Da es keine einzige Fassung von Gluck gibt, in der deutsch gesungen wird - welche hat man denn der Produktion zugrunde gelegt? Der Einsatz einer Sängerin spricht für die Wiener Fassung, aber die wäre dann italienisch.


    Wenn man - etwa für Deutschland - dem Ballett eine deutsch gesungene Aufführung des Orfeo zugrunde legt, wäre es da nicht sinnvoll gewesen, man hätte für eine Pariser Aufführung die Pariser Fassung benutzt - am Ballett selbst hätte sich doch da nichts zu ändern brauchen ...



    Zitat

    Als Orchester wurde wie schon 2005 das Balthasar Neumann Ensemble engagiert, ein auf "alte Musik" spezialisierter Klangkoerper. Dass zum Teil auf Originalinstrumenten gespielt wird, ist im grossen Haus zwar nicht unproblematisch, aber es wird ein idealer Klangteppich ausgebreitet.


    Wenn man die Musik "authentisch" macht, warum nicht den Gesang?


    Zitat

    Nachsatz: Die Produktion wird am 16. Februar in ARTE direkt gesendet.


    Vielen Dank für den Hinweis!


    Liebe Grüße nach Paris


    Peter

  • Morgen feiert der deutsch-französische Kultursender ARTE seinen "Tag der Oper". Höhepunkt bildet die Live-Übertragung - Brunello hat es schon erwähnt - der Pina-Bausch-Oper aus Paris:



    Samstag, 16. Februar 2008 um 19.30 Uhr


    Orpheus und Eurydike
    (Frankreich, 2008, 80mn)
    ARTE F


    Choeographie: Pina Bausch
    Dirigent: Thomas Hengelbrock
    Komponist: Christoph W. Gluck
    Tänzer: Marie-Agnès Gillot, Yann Bridard, Wilfried Romoli, Emilie Cozette, Miteki Kudo
    Ausstattung: Rolf Borzik
    Libretto: Pierre-Louis Moline
    Orchester: Balthasar-Neumann-Ensemble
    Moderation: Annette Gerlach
    Solist: Maria Riccarda Wesseling, Julia Kleiter, Sunhae Im



    Live aus dem Pariser Palais Garnier: Erstmals gestattet Pina Bausch die Live-Übertragung einer ihrer Aufführungen: Glucks "Orpheus und Eurydike".


    Zitat

    Die Uraufführung von Pina Bauschs Choreografie nach Glucks "Orpheus und Eurydike" fand 1975 in Wuppertal statt. Ein Jahr nach "Iphigenie auf Tauris" (1974) schuf die Choreografin damit ein zweites Mal eine Gluck-Adaption in Modern-Dance-Manier. In der Spielzeit 2004/05 zeigte Pina Bausch diese legendäre Tanzoper aus den 70er Jahren erneut an der Opéra Garnier, in einer Bearbeitung für die Tänzer des berühmten Opernhauses. Seitdem gehört das Stück zum Repertoire. Im Februar 2008 ist diese Fassung im Palais Garnier jetzt wieder zu sehen, und zum ersten Mal überhaupt gestattet die Choreografin die Live-Übertragung einer ihrer Aufführungen.
    Zur Handlung: Der begabte Sänger, Leierspieler und Dichter Orpheus zieht mit seiner Kunst Menschen und Tiere in Bann. Er verliebt sich in die Nymphe Eurydike, die, kaum, dass sie ihm angetraut ist, an einem Schlangenbiss stirbt. Der untröstliche Orpheus steigt in den Hades, um sie zu suchen. Die Götter, von Orpheus Spiel und Gesang betört, gewähren dem Unglücklichen eine Gunst: Er darf Eurydike ins Leben zurückholen, vorausgesetzt er dreht sich erst nach ihr um, wenn sie das Tageslicht erreicht haben. Doch kurz vor dem Ziel erliegt Orpheus seinem Verlangen und dreht sich nach Eurydike um. Verzweifelt über den endgültigen Verlust seiner Geliebten, zieht sich Orpheus ins Gebirge zurückt. Die Thrakerinnen, die sich von ihm verschmäht fühlen, reißen ihn in Stücke und zerstreuen seine Glieder. Orpheus' Kopf und die Leier werden an die Gestade der Insel Lesbos gespült, der Heimat der Dichtung. Orpheus' Seele wandert in die Unterwelt zu der Eurydikes und der Glückseligen.
    Willibald Glucks (1714 - 1787) Oper gehört zu den wichtigsten künstlerischen Verarbeitungen des Orpheus-Mythos. In seiner ersten Fassung dienten die italienischen Verse von Ranieri de Calzabigi (1714 - 1795) als Libretto; die Uraufführung fand 1762 in Wien statt. Für das französische Publikum legte Gluck seiner Oper das Libretto von Pierre-Louis Moline zugrunde.
    Das ist auch die von Pina Bausch verwendete Fassung. Sie folgt der Erzählung im Wesentlichen, aber den Schluss übernimmt sie aus der italienischen Version: Orpheus stirbt an der Seite von Eurydike. Die Texte werden in der vorliegenden Inszenierung allerdings auf Deutsch gesungen.
    Ihre Aufführung unterteilt Pina Bauch in vier Bilder, denen sie jeweils einen symbolischen Titel gegeben hat: Trauer, Gewalt, Friede, Tod. Das Bühnenbild von Rolf Borzik ist schlicht, das Dekor eines jeden Bildes in den Farben Schwarz, Grau oder Weiß gehalten. Auch die Kostüme nehmen dieses Prinzip der Einfachheit auf: Die Männer tanzen beinahe nackt, die Frauen tragen lange, fließende Gewänder aus durchsichtigem Stoff oder Musselin.
    Es spielt das Balthasar-Neumann-Ensemble unter der musikalischen Leitung von Thomas Hengelbrock. Als Solisten sind Elisabeth Kulman, Svetlana Doneva und Hélène Guilmette zu erleben, es tanzen Marie-Agnès Gillot und Yann Bridard.


    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)


  • So weit, so gut - was nun folgt, ist einer der seltsamsten Versuche, Stoff & Oper zu beschreiben:


    Zitat

    Zur Handlung: Der begabte Sänger, Leierspieler und Dichter Orpheus zieht mit seiner Kunst Menschen und Tiere in Bann.


    Was hiermit beginnt, ist nicht die Handlung der Oper, sondern eine nicht ganz zuverlässige Darstellung des Mythos. Dass Orpheus ein begabter Sänger war, finde ich eine der schönsten Stilblüten, die ich in letzter Zeit zu Gesicht bekam. Bei Gluck - wie bei vielen anderen, die den Mythos benutzten - ist er der göttliche Sänger. Ich werde die krude Darstellung des Mythos hier nicht weiter verfolgen - das tue ich lieber im Orfeo-Thread. Nun zur Oper:


    Zitat

    Willibald Glucks (1714 - 1787) Oper gehört zu den wichtigsten künstlerischen Verarbeitungen des Orpheus-Mythos. In seiner ersten Fassung dienten die italienischen Verse von Ranieri de Calzabigi (1714 - 1795) als Libretto; die Uraufführung fand 1762 in Wien statt. Für das französische Publikum legte Gluck seiner Oper das Libretto von Pierre-Louis Moline zugrunde.


    Die hier unterstellte Unterschiedlichkeit der Libretti von Calzabigi und Moline lässt mich schon düstere Vermutungen hegen. Das Libretto Molines ist weitgehend die Übersetzung dessen von Calzabigi mit Ergänzungen für die französische Fassung.


    Zitat

    Das ist auch die von Pina Bausch verwendete Fassung.


    Brunello hat die - mE richtige - Vermutung geäußert, dass es sich bei dem deutschen um eine der üblichen Mischfassungen der Wiener und der Pariser Fassung handelt. Da auf Deutsch gesungen wird, ist es wohl nicht die französische Fassung ...


    Zitat

    Sie folgt der Erzählung im Wesentlichen, aber den Schluss übernimmt sie aus der italienischen Version: Orpheus stirbt an der Seite von Eurydike.


    Der Erzählung oder der italienischen Fassung? Welcher Erzählung? Die italienische "Version" endet übrigens wie die französiosche mit der Wiederbelebung Eurydikes und dem Dankeschor an Amor. Aber vielleicht meint der anonyme Schreiber ja mit der "italienischen Version" die von Monteverdi ...


    Liebe Grüße Peter