FLUXUS (Alfred ist uns Wurscht)


  • Ich sehe bis heute nicht ganz die Abgrenzung FLUXUS - DADA.
    Wenn der Ober-Dada (resp. der Vorsitzende der Menschheit) Johannes Baader 1917 (oder wann das war) im Kölner Dom am Beginn der Predigt aufstand und rief:
    "Jesus Christus ist Euch Wurst!"
    war das
    1) an einem öffentlichen Ort
    2) politisch
    3) entgrenzt und
    4) Anti-Kunst


    Dieser Thread soll ungeordnet verlaufen.

  • Ganz schön mutig, KSM! :D


    Ist die Abgrenzung zwischen Dada und Fluxus nicht in der mehr politisch und gesellschaftlich zweckgebundenen Funktion des Dadaismus zu sehen während die Fluxus-Bewegung, um es mal platt zu formulieren, mittels anarchischer Elemente, das Individuum in uns ansprechen und wecken will?? Meine Kenntnisse sind da sehr rudimentär, muß mal wieder einen Blick in mein Kunstlexikon wagen, aber so hatte zumindest ich den Unterschied verstanden :rolleyes:


    :hello:
    Wulf

  • Zitat

    Original von Wulf
    Ist die Abgrenzung zwischen Dada und Fluxus nicht in der mehr politisch und gesellschaftlich zweckgebundenen Funktion des Dadaismus zu sehen während die Fluxus-Bewegung, um es mal platt zu formulieren, mittels anarchischer Elemente, das Individuum in uns ansprechen und wecken will??


    Ich weiß jetzt nicht, ob die Wiener Aktionisten zum Fluxus gezählt werden, aber deren Aktion in der Wiener Universität dürfte doch nicht so viel weniger gesellschaftlich gemeint gewesen sein, als DADA.



    Aber zurück zum musikalischen FLUXUS.
    Zwielichts Lieblingsstück auf dieser CD

    51pF90BW2SL.jpg



    ist
    One
    von Paik, der später mit Videoinstallationen viel Geld verdient hat.
    One besteht darin, dass auf der Bühne ein Tisch steht, auf dem eine Geige liegt. Der Musiker tritt auf, faßt die Geige mit beiden Händen am Griffbrett und hebt sie auf. Dann hält er kurz inne und zerschlägt die Geige anschließend.


    Paik sagte mal dazu (ungefähr aus dem Gedächtnis): die Dadaisten machten Anti-Kunst, Cage machte Anti-Komposition, ich mache Anti-Musik.


    (Habe ich das jetzt richtig zitiert?)
    ?(



  • Wenn man sich fragt, was FLUXUS gegenüber DADA Neues entwickelt hat, muss die Antwort tatsächlich lauten: relativ wenig. Es ist ja schon öfter pointiert behauptet worden, dass die "Ursuppe" der Moderne zwischen 1910 und 1920 gekocht wurde und später (auch bei den radikalsten Ausformungen) nur aufgewärmt und unterschiedlich gewürzt worden ist.


    Ein wichtiger Punkt bei FLUXUS, der bei DADA kaum auftaucht, ist tatsächlich die zentrale Rolle der Musik. Außerdem ist die Entgrenzung der Künste bei FLUXUS noch etwas stärker vorangetrieben worden. Und drittens werden die Grenzen zwischen Künstler und Publikum noch mehr verwischt (was aber für viele Spielarten der Performancekunst seit den 50ern gilt, insb. bei Marina Abramovic).


    Ansonsten ist FLUXUS nicht unbedingt was Neues, sondern nur etwas anderes. Obwohl: Neu ist vielleicht die "Organisationsform" selbst, die ja als eine Art sehr loses weltweites Netzwerk gedacht war.


    Der Wiener Aktionismus wird eher nicht FLUXUS zugerechnet, jedenfalls wenn man der Selbsteinschätzung der Beteiligten und dem Lehrbuch folgt.




    Zitat

    Dieser Thread soll ungeordnet verlaufen.



    Das war leider eine verdammt ordentliche Antwort... :D



    Viele Grüße


    Bernd



  • Der vollständige Titel ist "One for Violin Solo". ;)


    In einem Thread über Misshandelte Instrumente ist schon einmal kurz über diese Aktion diskutiert worden. Aus Bequemlichkeitsgründen zitiere ich hier meinen Beitrag nochmal:




    Es gab im anderen Thread noch einen Verweis auf Pete Townshend von "The Who", der ja auch bei Konzerten regelmäßig seine Gitarre zerdepperte. Außerdem eine Kritik an solchen Aktionen:



    Zitat

    Original von Zwielicht


    Solche als Kunst deklarierten Gewaltakte sind immer prekär (und sollen es auch sein). Ich würde aber doch meinen, dass es einen Unterschied gibt zwischen einer immer auch auf Ächtung des Autors abzielenden Bücherverbrennung und einem künstlerischen Akt, der sich erstmal nur als besonders extreme Form der Erzeugung von (Geräusch-)Musik versteht (oder - wie bei Pete Townshend - als ekstatischer Höhepunkt des Gitarrenspiels).


    Die Grenzen sind natürlich fließend und niemand ist gezwungen, solche Kunstformen zu bejahen.



    Das mit den "fließenden Grenzen" ist mir neulich nochmal klar geworden, als sich eine mir bekannte Geigerin über die "Bartók-Pizzicati" beschwerte, bei denen die Saite aufs Holz knallt - dies würde auf die Dauer das Instrument schwer schädigen.


    Eine Entwicklungslinie von Bartók hin zu Nam June Paik ist in dieser Hinsicht gar nicht mal so abwegig.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Kurzstückmeister,


    Zunächst mal Danke für diesen Thread - der ja aus unerfindlichen Gründen bis jetzt sehr kurz geblieben ist.


    Diesem Beitrag ist höchste Anerkennung zu zollen, weil er auch dem absoluten Laien dank der Klangbeispiele auf der oben abgebildeten RCA-CD zumindest einen groben Überblick über einen interessanten Teilbereich klassischer Musik nach 1950 gibt.
    Längere musiktheoretische Erklärungen sind hier nicht wirklich vonnöten (wenngleich sicher hochinteressant) - die Musikbeispiele sprechen für sich.


    Sicher wird nicht jedem ALLES gefallen - die Begeisterung muß teilweise erarbeitet werden - unter Umständen war Begeisterung aber auch nicht angestrebt.


    Daher möchte ich auf die IMO beeindruckendsten Tracks dieser CD hinweisen - es empfiehlt sich allerdings in die Werke erst hineinzuhören BEVOR man investiert - aber das ist wohl bei jedem akustischen Kunstwerk so.........


    Die Werke sind getragen von einer gehörigen Portion Mut und Selbstvertrauen - und das ist es ja was vielen so abgeht. Manch einer dudelt jahrelang im Orchester die alten Werke von Mozart und Haydn herunter - statt daß er SELBST kreativ wird.
    Hier bekommt man vor Augen (Ohren) geführt, daß es auch anders geht: Kreativität und Mut - und schon entsteht ein Kunstwerk (von Meisterwerk wollen wir nur in ausgewählten Fällen sprechen) welches die Zeiten überdauert und welches , wer es EINMAL gehört hat NIE wieder vergessen wird.


    Meine persönlichen Favoriten möchte ich jenen Musikfreunden welche aus Zeimangel nur selektiv in die Proben hineinhören können natürlich nicht vorenthalten:


    566 for Henry Flynt (1960)


    Was mich hier beeindruckt ist die KONSEQUENZ mit der das Thema durchgezogen wird - sehr überzeugend...........



    ONE


    Hier sehe ich Chancen erstmals selbst als ausführender Virtuose das Podium zu betreten. Der Auftritt ist kurz - aber beeindruckend.
    Ich würde selbstverständlich nur mit einer Guarneri oder (noch lieber) Stradivari arbeiten, der einzigartige Klang dieser Instrumente lässt diese Forderung nur recht und billig erscheinen....



    Der Rest: Einfach überraschen lassen.


    Leider ist kann die Tontechnik mit dem hohen künstlerischen Anspruch dieser Werke nicht ganz mithalten, Impulse werden einfach verwischt, Feinheiten verschluckt, und ich glaube die Aufnahmen sind teilweise sogar MONO.
    Aber: Wo viel Licht ist - da ist auch viel Schatten


    Liebe Grüße aus Wien


    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Eine Abgrenzung ist immer schwierig . muss man die haben ?
    Zumindest spielt da auch die Generationenfrage eine Rolle.
    Und Zwielicht hat es ja schon geschrieben, die modernste Zeit, waren ganz klar die 20er Jahre.
    Fluxus ist z.B. an unserer Akademie und wohl an vielen anderen, wichtiger Lehrstoff, aber es gibt kaum eine „Bewegung in der Kunst“ die so dermaßen out ist und von der jetzigen Generation geflohen wird, wie es gerade der Fall ist.
    Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass es eine Totgeburt war.


    Im Übrigen ist die Dokumentation eines „Fluxus-Happenings“ oder einer „Fluxus-Aktion“ schon ein ziemlicher Wiederspruch in sich, es schiebt ja gewissermaßen die Philosophie dahinter sofort ins Absurde.


    Meist sind die Professoren die wir Heute haben, Schüler der Generation, die den Fluxus mitgestaltet haben. Dies führte zu einigen Problemen, da viele eben in ihrer Zeit, den 60er Jahren hängen geblieben sind und damit – obwohl sie da noch dran beteiligt waren, dieser Bewegung auf groteske Weise wiedersprechen.


    Fluxus ist aber, wie viele andere Strömungen auch, eben nicht nur Musik, sondern auch bildende Kunst.
    Im Grunde ist die Musik meiner Meinung nach schon immer ein Teil der bildenden Kunst gewesen.
    Und das ist auch das Schöne daran, weil eine Schubladisierung nicht möglich ist.


    Wir Studenten sehen allerdings den Fluxus Heute sehr kritisch, überhaupt wird ständig alles in Frage gestellt, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist.
    Und ja, es gibt auch viele, die immer noch versuchen Fluxus Kunst zu machen.
    Trotz der mehrheitlichen Ablehnung gibt es doch immer wieder Erkenntnisse dieser Bewegungen, die wir nutzen.


    Leider hatte diese Bewegung aber auch sehr viel negatives mit sich gebracht.
    Beuys vertrat ja die Meinung jeder Mensch sei ein Künstler...
    Nun ich lehne mich mal etwas aus dem Fenster, wenn ich behaupte, das Beuys das doch etwas anders meinte. In dem Sinne, dass jeder Mensch kreativ ZU HAUSE in seinem Leben tätig sein kann.
    Aber das führte dazu, dass auf einmal jede Hausfrau, die Aquarelle malte, jeder Sprayer etc. die Akademien bestürmte.
    Denn dieses Credo „jeder ist ein Künstler“ wiederspricht seiner eisernen Regel für seine Kunstklasse: „wer nicht denkt, fliegt raus!“ - dieses Credo ist etwas, an das wir uns stets halten - immer noch, denn darum geht es letzlich ja.
    Weshalb sich auch (besonders eben im Westen der Republik) eine gewisse Verachtung für die neue Leipziger Schule etabliert hat.


    Denn sehr leicht geht es in die Richtung, dass auf einmal alles Kunst ist, was wiederum dazu führt dass man keine Kunst mehr machen braucht.
    Anti Kunst ist keine Erfindung des Fluxus, das Pissbecken von Duchamp von 1917 „Fountain“ hat das Thema schon lange vor dem Fluxux behandelt.


    Ich bewundere jedenfalls die tiefe Philosophie, die hinter manchen Aktionen steckt, aber es gibt eben auch sehr viel Mist.
    Fluxus hat sicher auch heute noch einen mehr oder weniger starken Einfluss, aber im Moment bewegt sich die Kunst in eine Richtung die mehr dem Populärgeschmack entspricht.


    Das wohl am stärksten diskutierte Machwerk der letzten Zeit ist Damien Hirsts „Totenschädel“ ("For the Love of God") der vollkommen mit Diamanten besetzt ist. Und als das teuerste Zeitgenössische Kunstwerk bezeichnet wird (75 Millionen Dollar).


    Unser Professor regte sich sehr darüber auf, da dies seiner Meinung nach das platteste ist. Was er seit langem gesehen hatte und zudem noch ein Armutszeugnis für die derzeitige Kunst ist, da man anscheinend nicht mehr die Avantgarde vertritt sondern der Mode hinterher hinkt.



    Aber das zeigt eben wieder wie sich die jetzige Kunstszene von der Philosophie und dem Fluxus der 60er Jahre entfernt hat.


    Kunst dollte eigentlich das Ausdrucksmittel für die Seele sein. Eigentlich wenig fassbar. Und Heute nur sehr selten anzutreffen.



    :hello:

  • Zitat

    Original von der Lullist
    Eine Abgrenzung ist immer schwierig . muss man die haben ?
    Zumindest spielt da auch die Generationenfrage eine Rolle.
    Und Zwielicht hat es ja schon geschrieben, die modernste Zeit, waren ganz klar die 20er Jahre.


    Ich dachte, die Jahre 1910-1920. (Kandinsky, Malewitsch und Mondrian werden spätestens 1915 ziemlich gegenstandslos, DADA ist ab 1916 voll im Gange)

    Zitat

    Fluxus ist z.B. an unserer Akademie und wohl an vielen anderen, wichtiger Lehrstoff, aber es gibt kaum eine „Bewegung in der Kunst“ die so dermaßen out ist und von der jetzigen Generation geflohen wird, wie es gerade der Fall ist.
    Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass es eine Totgeburt war.


    Hä? Wieso? Vor allem La Monte Young zeigt, dass FLUXUS eine Keimzelle für die Minimal Music ist (die Du ja offenbar nicht für eine Totgeburt hältst) und Alvin Lucier macht noch heute (?) sehr reduzierte konzeptionelle Werke, die ohne FLUXUS-Erfahrung wohl nicht denkbar sind, verglichen mit allen FLUXUS-Sachen, die ich kenne, aber viel mehr aus dem Klang heraus entwickelt sind resp. aus dem Klang eines bestimmten Objektes, sodass mir hier (im Gegensatz zu FLUXUS) die Zugehörigkeit zur Musik viel deutlicher zu sein scheint. Auch wenn man FLUXUS nicht mag: Es hatte musikalische Folgen.

    Zitat

    Im Übrigen ist die Dokumentation eines „Fluxus-Happenings“ oder einer „Fluxus-Aktion“ schon ein ziemlicher Wiederspruch in sich, es schiebt ja gewissermaßen die Philosophie dahinter sofort ins Absurde.


    Ich nehme mal an, dass die Fluxisten selbst das nicht so eng gesehen haben. Ich müßte aber nachlesen, ob Vostell die Hörspielfassung seines Radio-Happenings selbst gemacht hat.

    Zitat

    Leider hatte diese Bewegung aber auch sehr viel negatives mit sich gebracht.
    Beuys vertrat ja die Meinung jeder Mensch sei ein Künstler...


    So was ähnliches habe ich doch auch mal bei Schwitters gelesen ...
    Aber nur was ähnliches, gebe ich zu.

    Zitat

    Aber das führte dazu, dass auf einmal jede Hausfrau, die Aquarelle malte, jeder Sprayer etc. die Akademien bestürmte.


    Naja, die armen Akademien werden sich schon zu wehren gewußt haben ...

    Zitat

    Denn dieses Credo „jeder ist ein Künstler“ wiederspricht seiner eisernen Regel für seine Kunstklasse: „wer nicht denkt, fliegt raus!“ - dieses Credo ist etwas, an das wir uns stets halten - immer noch, denn darum geht es letzlich ja.
    Weshalb sich auch (besonders eben im Westen der Republik) eine gewisse Verachtung für die neue Leipziger Schule etabliert hat.


    Hauptsache, die Akademien haben wieder eine Regel, an der sie sich festhalten können ...
    :rolleyes:

    Zitat

    Denn sehr leicht geht es in die Richtung, dass auf einmal alles Kunst ist, was wiederum dazu führt dass man keine Kunst mehr machen braucht.
    Anti Kunst ist keine Erfindung des Fluxus, das Pissbecken von Duchamp von 1917 „Fountain“ hat das Thema schon lange vor dem Fluxux behandelt.


    Wenn Du all die dadaistischen Manifeste wörtlich nimmst, dann gibt es schon sehr lange keine Kunst mehr. Das spricht natürlich nicht gegen die dadaistischen Manifeste, sondern gegen das wörtlich-Nehmen.

    Zitat

    Ich bewundere jedenfalls die tiefe Philosophie, die hinter manchen Aktionen steckt, aber es gibt eben auch sehr viel Mist.
    Fluxus hat sicher auch heute noch einen mehr oder weniger starken Einfluss, aber im Moment bewegt sich die Kunst in eine Richtung die mehr dem Populärgeschmack entspricht.


    Wie verträgt sich das denn mit "FLUXUS ist eine Totgeburt"? Mist gibts überall.


    :hello:

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister


    Ich dachte, die Jahre 1910-1920. (Kandinsky, Malewitsch und Mondrian werden spätestens 1915 ziemlich gegenstandslos, DADA ist ab 1916 voll im Gange)



    Genau: 1910-1920 gilt zu Recht als der Zeitraum, in dem in der sog. bildenden Kunst die grundlegenden Konzepte der Moderne entstanden: nicht nur Abstraktion und DADA (einschl. der Aktionskunst und der Entgrenzung der Künste), sondern auch Ready-Made, Collage, Agitprop-Kunst, moderner Kunstbetrieb etc.



    Zitat


    Hä? Wieso? Vor allem La Monte Young zeigt, dass FLUXUS eine Keimzelle für die Minimal Music ist (die Du ja offenbar nicht für eine Totgeburt hältst) und Alvin Lucier macht noch heute (?) sehr reduzierte konzeptionelle Werke, die ohne FLUXUS-Erfahrung wohl nicht denkbar sind, verglichen mit allen FLUXUS-Sachen, die ich kenne, aber viel mehr aus dem Klang heraus entwickelt sind resp. aus dem Klang eines bestimmten Objektes, sodass mir hier (im Gegensatz zu FLUXUS) die Zugehörigkeit zur Musik viel deutlicher zu sein scheint. Auch wenn man FLUXUS nicht mag: Es hatte musikalische Folgen.



    Über die musikalischen Folgen kann KSM kompetenter als ich Auskunft geben. Ansonsten ist FLUXUS aber auch keineswegs folgenlos geblieben. FLUXUS ist Teil (nicht mehr, aber auch nicht weniger) eines grundlegenden kulturgeschichtlichen Paradigmenwechsels seit den 60er Jahren, der gerne als "performative Wende" bezeichnet wird. Sehr empfehlenswert hierzu ist das Buch der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen (Frankfurt 2004). Ein kurzer Auszug:


    Die seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Künstlern, Kunstkritikern, Kunstwissenschaftlern und Philosophen immer wieder proklamierte bzw. beobachtete Entgrenzung der Künste läßt sich [...] als performative Wende beschreiben. Ob bildende Kunst, Musik, Literatur oder Theater - alle tendieren dazu, sich in und als Aufführungen zu realisieren. Statt Werke zu schaffen, bringen die Künstler zunehmend Ereignisse hervor, in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind. Damit haben sich die Bedingungen für Kunstproduktion und -rezeption in einem entscheidenden Aspekt geändert. Als Dreh- und Angelpunkt dieser Prozesse fungiert nicht mehr das von seinem Produzenten wie von seinen Rezipienten losgelöste und unabhängig existierende Kunstwerk, das als Objekt aus der kreativen Tätigkeit des Künstlersubjektes hervorgegangen und der Wahrnehmung und Deutung des Rezipientensubjektes anheimgegeben ist. Statt dessen haben wir es mit einem Ereignis zu tun, das durch die Aktion verschiedener Subjekte - der Künstler und der Zuhörer/Zuschauer - gestiftet, in Gang gehalten und beendet wird.


    Ich verzichte hier mal auf weitere Kommentare - glaube aber, dass die Tendenz zur Verschmelzung der Kunstformen noch weiter gehen wird. Das erkennt man möglicherweise im zeitgenössischen Theater am besten - bei Aufführungen, die gleichzeitig Lesung, Konzert, Performance, tableau vivant etc. sind. Wie gesagt: das ist nicht primär ein Verdienst von FLUXUS - aber FLUXUS ist Teil dieser Entwicklung (gewesen). (@Lullist: Und Du gehörst mit Deinen Aktionen doch auch dazu - unabhängig davon, dass "Inhalt" und "Zielrichtung" sich bei Dir schwer von FLUXUS unterscheiden :D).


    Natürlich gibt's auch Gegenbewegungen, z.B. die schon oft proklamierte Rückehr zur Malerei (in den 80ern waren's in Deutschland die "Neuen Wilden", heute ist's die Leipziger Schule). Es wird weiterhin ganz traditionell bildende Kunst gemacht werden, schon aus Gründen des Geldverdienens (manche FLUXUS-Künstler haben immer an der Armutsgrenze gelebt, weil sie sich geweigert haben, etwas "Bleibendes", sprich: Verkäufliches, zu schaffen).



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Ich verzichte hier mal auf weitere Kommentare - glaube aber, dass die Tendenz zur Verschmelzung der Kunstformen noch weiter gehen wird.


    Was meinst Du denn mit "weitergehen"?


    andauern?
    populärer werden?
    sich intensivieren?


    Ich tippe vor allem auf 2.


    Ob seit "Sieg über die Sonne" und den Dada-Abenden die Verschmelzung sich intensivieren konnte, kann ich gar nicht beurteilen, ich kenn mich zu wenig aus, was da genau alles stattgefunden hat.
    :hello:

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  • Ich tippe auch auf 2 und dann konsequent auf 1. "Sich intensivieren" wird evtl. schwierig sein - bereits gegenüber "Sieg über die Sonne" ist eine Steigerung ja kaum noch denkbar. Dagegen ist "Popularität" ein wichtiger Faktor, den ich nur schwer einschätzen kann: Es gibt aber einige Anknüpfungspunkte/Parallelen zwischen den neuen performativen Formen und "populären" Formen, etwa Rollenspiele oder so manches in den neuen Medien/Massenmedien. Man denke nur mal (willkürlich herausgegriffenes Beispiel) an Schlingensiefs Asylanten-Container in Wien. Gerade beim Thema Musik/Theater drängt sich abseits der Gattung Oper doch auch immer stärker der U-Bereich ins Bild (die ganzen Rock- oder Was-auch-immer-für-Musikrichtungen-das-sein-mögen-Bands in vielen Theateraufführungen - hier muss ich allerdings meine totale Inkompetenz eingestehen :D).


    Die Gabe zur kulturellen Prophetie ist mir nicht gegeben - es sind schon viele "turns" ausgerufen worden, und möglicherweise kommt alles anders, als man denkt. Die alten Institutionen Museum/Theater/Konzertsaal etc. erweisen sich ja als fast so widerstandsfähig wie die katholische Kirche. Vielleicht kommt doch ein Rollback zurück zu den alten Kunstformen und Gattungen. Schwer zu sagen - ich weiß noch nicht mal, was ich selbst will.


    Es gibt ja parallele Prozesse in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Während früher (z.B. 50er/60er Jahre) avancierte Interdisziplinarität eine rare Ausnahme war und es zig Forscher gab, die nie über den Horizont ihres eigenen Fachs hinausgesehen haben, existiert heute oft eine verordnete Interdisziplinarität, die viele Schattenseiten hat.


    Das ist in Bezug auf FLUXUS schon ziemlich OT, andererseits gibt's im Prozess der Entgrenzung natürlich kein OT mehr... :D



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Längere musiktheoretische Erklärungen sind hier nicht wirklich vonnöten (wenngleich sicher hochinteressant) - die Musikbeispiele sprechen für sich.


    Naja, ich sehe das etwas anders, aber natürlich sagen auch die Musikbeispiele etwas aus.

    Zitat

    Sicher wird nicht jedem ALLES gefallen - die Begeisteruing muß teilweise erarbeitet werden - unter Umständen war Begeisterung aber auch nicht angestrebt.


    Ja, ich habe echt ein paar Jahre dran arbeiten müssen, aber jetzt bin ich schon recht begeistert.

    Zitat

    Hier bekommt man vor Augen (Ohren) geführt, daß es auch anders geht: Kreativität und Mut - und schon entsteht ein Kunstwerk (von Meisterwerk wollen wir nur in ausgewählten Fällen sprechen) welches die Zeiten überdauert und welches, wer es EINMAL gehört hat NIE wieder vergessen wird.


    Du triffst den Nagel ziemlich gut.
    (frei nach: "Dies ist der Nagel, den Bismarck stets auf den Kopf getroffen hat")

    Zitat

    Meine persönlichen Favoriten möchte ich jenen Musikfreunden welche aus Zeimangel nur selektiv in die Proben hineinhören können natürlich nicht vorenthalten:


    566 for Henry Flynt (1960)


    Was mich hier beeindruckt ist die KONSEQUENZ mit der das Thema durchgezogen wird - sehr überzeugend...........


    Du sprichst mir aus der Seele.

    Zitat

    ONE


    Hier sehe ich Chancen erstmals selbst als ausführender Virtuose das Podium zu betreten. Der Auftritt ist kurz - aber beeindruckend.


    Du kannst aber auch [beliebige Zahl] for Henry Flynt jederzeit überall aufführen.
    Du mußt Dir nur zuerst eine recht hohe Zahl aussuchen und dann entsprechend oft ein BELIEBIGES Geräusch wiederholen (z.B. Zuklappen des Klodeckels).
    :hello:

  • Weil es mich selbst interessiert, werde ich jetzt etwas Halbwissen aus dem Internet zusammengoogeln.


    Vielleicht kriege ich ja die ganze "composition"-Serie von La Monte Young aus dem Jahr 1960 zusammen.


    [google anwerfen]


    #2: ein Feuer machen


    #3: Beginn und Dauer des Stückes wird dem Publikum mitgeteilt, das währenddessen tun kann, was es will.


    #5: einen oder mehrere Schmetterlinge freilassen


    #6: Die Ausführenden sollen das Publikum anhören und ansehen, dabei genauso sitzen/stehen etc. wie das Publikum - nur eben auf der Bühne


    #7: kleines h und eingestrichenes fis soll lange ausgehalten werden


    #9: Partitur: ein gerader Strich auf dem Papier


    #15: kleine Strudel mitten im Ozean


    [keine Lust mehr haben]


    Ich glaube, ich habe irgendwo in einem Zettelberg aus Studienzeiten alle "Partituren" beisammen, aber diese Beispiele sollten reichen, eine Vorstellung von der Bandbreite zu bekommen. Ich erinnere mich noch an eine Vase "on the piano".
    :hello:

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Du mußt Dir nur zuerst eine recht hohe Zahl aussuchen und dann entsprechend oft ein BELIEBIGES Geräusch wiederholen (z.B. Zuklappen des Klodeckels).


    Das erinnert mich an eine Performance der "Crash-Künstler" Stefan Gwildis und Christian von Richthofen. Im Mittelpunkt der musiklastigen Show steht ein Opel Kadett, der "Steinwway und den Konzert Autos.


    Zitat:

    Zitat

    http://www.burg-wilhelmstein.de/single.php?cid=68
    Die Show beginnt ganz harmlos, wie eine Liebesgeschichte, mit Samba-Streicheleinheiten für den Lack, Türschlag-Bossa und allerlei bisher ungehörten und für manche sicher unerhörten Geräuschen und Tönen. Crescendo. Die Auto-Blech-Liebhaber graust es - schließlich hat noch keiner gewagt, mit den Fäusten den Kofferraumdeckel eines Autos zu bearbeiten dass es nur so kracht wie bei einem Parademarsch - und das in einem Land, wo die samstagnachmittägliche Lackpflege heiliges Ritual ist und man ohne Bewährung ins Gefängnis wandern kann, wenn man eifersüchtig des Rivalen Gefährt(en) zerkratzt.


    Nach und nach wird das Auto zum Allround-Instrument, dem in einer gefühlvollen Orgie der Zerstörung Musik von Johann Sebastian Bach über Trini Lopez bis zum Fortissimo mit Tschaikowski entlockt wird. Parallel dazu werden in kabarettistischen Bezügen verschiedenste Aspekte der Auto-Haltung deutlich – in diesem sehr schrägen, aber hoch musikalischen Spektakel, das letztlich ein so noch nicht gehörtes Konzert mit Comedy-Einschlag ist, eine opulente Opelette, eine schlagkräftige Liebeserklärung an des Automobilisten liebstes Kind, Schrott sei Dank!


    Der Beweis, dass solche musikalischen Zweckentfremdungen nicht zwingend zu hochgeistigen, publikumsfernen Experimenten führen muss..


    Weitere Informationen gibt es hier:
    http://www1.ndr.de/kultur/musik/ni24.html


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:



  • bei nicht permanenter beobachtung der welt entgeht einem so manche offenbarung, und sei es um den preis einer ernüchternden entzauberung.


    hier entlarvt sich der sonst so standfest allen modernistischen stürmen (und seien es nur anwehungen) trotzende fels bürgerlicher bildungskanons als verräter an der sache "rettung des abendlandes" und zeigt seine tolerante fratze!
    oh, an welch busen habe ich mich genährt! welch vorträge über die feste funktion der kunst und funktionalität der künstler habe ich in mich hineingesogen, auf dass mein weltbild rund und stark wurde.
    und jetzt das!
    alfred als anhänger angekränkelter kopfkunst, der in feinklingiger liberalität jeglicher kampfrhetorik entsagt.
    wohin wird das führen?


    -werden bald in sinistren untergeschoßgängen großer bundesmuseen entmenschte museumswärter harmlose säuglinge, die von kulturbeflissenen müttern gutgläubig an den garderoben abgegeben worden sind, an antiken spießen braten, und das dann als kunst deklarieren?
    -reißen bald selbsternannte konceptperformer ehrwürdige gemälde alter meister aus den rahmen um sich dortselbst einspannen und auspeitschen zu lassen?
    weil anything goes?
    oder flows?
    wehret den anfängen, schützet die kunst vor solchen wächtern!


    :baeh01: :beatnik:

  • Ich stiess auf die Stilrichtung FLUXUS in einem Interview, das mit György Ligeti geführt wurde.


    Im Forum habe ich diesen Thread gefunden.


    In Beitrag 3 von kurzstueckmeister FLUXUS (Alfred ist uns Wurscht) sind eine CD sowie eine CD-Box erwähnt.

    Auf Scheibe Nr. 6 sind einige Stücke unter Fluxus-Happening-Performance.


    Ben Patterson (1934-2016) Variations For Double Bass 1961


    Es gibt davon zwei Fassungen.


    Der Komponist schreibt: „Tonhöhen, Dynamik, Dauer und Anzahl der zu erzeugenden Klänge in einer Variation dieser Komposition werden nicht notiert. (Bei der Uraufführung des Komponisten wurde eine aus Tintenklecksen abgeleitete grafische Partitur als Leitfaden verwendet; es gibt davon jedoch viele andere zufriedenstellende Lösungen.)“


    Damon Smith ist der Solist. Allerdings die Aufführung ist unvollständig. Die Rose wurde vergessen. (vgl. Seite vier, Teil XVI., hier: https://www.moma.org/collection/works/127519




    Michael Francis Duch ist der Kontrabassist. Mit der Ausbreitung der dänischen Flagge weicht er von der 2. Fassung ab.


    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • György Ligeti


    Drei Bagatellen (1961)


    Der Begriff der Bagatelle erhält eine wörtlich genommene Bedeutung.


    Hier der Notentext mit Spielanweisungen.




    Im Konzert - selbstverständlich mit Zugabe


    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • György Ligeti


    Drei Bagatellen (1961)


    Großartig! ^^ Obwohl ich ein ausgesprochener Ligeti-Verehrer bin, kannte ich das Stück bisher noch nicht. Es ist sozusagen 4'33'' mit deutlich mehr Noten. ^^


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Großartig! ^^ Obwohl ich ein ausgesprochener Ligeti-Verehrer bin, kannte ich das Stück bisher noch nicht. Es ist sozusagen 4'33'' mit deutlich mehr Noten. ^^


    LG :hello:

    Pierre Laurent Aimard hat im Sommer bei seinem Klavierabend beim Klavierfestival Ruhr nach den 18 Ligeti-Etüden zwei der drei Bagatellen als Zugabe "gespielt" und dann angesagt, dass er für die dritte jetzt doch zu müde sei ^^.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • ich muss gestehen, dass ich von dieser Epoche der Musik bisher kein fundiertes Wissen besass. Die Bezeichnung kannte ich, was genau darunter subsumiert wird, davon hatte ich keine Kenntnis.


    Als Beitrag zur Horizonterweiterung: Ein weiteres FLUXUS-Werk aus der in Beitrag 3 von kurzstueckmeister vorgestellten CD


    Wolfgang Heisig (*1952)


    Le Marteau sans Maître avec le Maître sans le Marteau


    übersetzt: Der Hammer ohne Meister mit dem Meister ohne Hammer


    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



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  • Pierre Laurent Aimard hat im Sommer bei seinem Klavierabend beim Klavierfestival Ruhr nach den 18 Ligeti-Etüden zwei der drei Bagatellen als Zugabe "gespielt" und dann angesagt, dass er für die dritte jetzt doch zu müde sei ^^.

    Es gibt von Ligeti noch eine vierte Bagatelle, die als Zugabe gespielt werden kann, wenn es die pianistische Kraft noch zulässt. Schleiermacher spielt sie auf seiner CD ein. ;)



    Hier findet sich auch ein Stück von Yoko Ono drauf ...

  • Stichwort Yoko Ono: Ich finde die Aktion des Tontechnikers die beste Art von Performance sowie jeglicher Art der Reaktion auf "Geräuschsachen":


    Yoko Ono hat Geburtstag. Zur Feier des Tages gibt es die Künstlerin dabei zu sehen, wie sie ein ziemlich legendäres Duett mit ihren Schreien begleitet.

    Das ‘Video der Woche’ ist heute Yoko Ono gewidmet, schließlich feiert die Künstlerin und ehemalige Gattin von Beatle John Lennon heute ihren 85. Geburtstag.

    Der ausgewählte Clip zeigt eine legendäre Performance von John Lennon und Chuck Berry, wie sie 1976 gemeinsam in der “The Michael Douglas Show” die Hits ›Memphis, Tennessee‹ und ›Johnny B. Goode‹ performen.

    Im Hintergrund reißt sich Yoko Ono das eigentlich zum Abnehmen ihres Bongospiels gedachte Mikrofon unter den Nagel und “untermalt” die Songs mit deplatziert wirkenden Schreien. Ganz zur Überraschung von Chuck Berry, wie es seinem Gesichtsausdruck z.B. bei Minute 1:56 abzulesen ist.

    Beim zweiten Song des Auftritts stellte der Techniker dann Yokos Mikrofon ab. Man sieht sie zwar singen, hört jedoch nichts.


    https://classicrock.net/video-…n-performen-yoko-schreit/

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."