ZitatAlles anzeigenIvo Pogorelich im Großen Konzerthaussaal in Wien, 31.10.2008
Ich empfehle, ein Konzert wie dieses als Zuhörer folgendermaßen zu beginnen: In dem Moment wo der Pianist auf die Bühne kommt, vergesse man alles – die musikalische Vorbildung, das eventuelle Wissen um einzelne Werke, die großen Interpretationen, die man von dieser Person oder von anderen kennt. Man streife in diesem Moment also alles ab und gebe sich der Kunst hin, unbefangen, ohne Vorurteile, ohne Erwartungshaltung. Die Seele der Musik entfaltet sich oder sie tut es nicht, das soll das Abenteuer des Abends werden.
Ivo Pogorelich erzählt eine Geschichte am Klavier, eine von zweitausend individuellen Geschichten für jeden Menschen im Saal, wie aus dem Augenblick heraus, mit Herz und Seele. Es ist Frédéric Chopins Nocturne Es-Dur op. 55/2, aber es ist auch viel mehr, es ist Musik, die in diesen Augenblicken kommt und geht, das erste und letzte Mal, es ist das Sein im Jetzt – indem ein genialer nachschöpferischer Künstler eine Welt aufbaut, nimmt er uns in diese mit, und wir hören unsere Geschichte dieser Momente.
Die Äußerlichkeiten verblassen zum Nebensächlichen – Pogorelich spielt mit den Noten vor sich, und eine junge Dame blättert für ihn um. Und doch erinnern uns gerade diese Äußerlichkeiten daran, dass es eigentlich auch noch ein Hier und Jetzt gibt, in dem wir den Konzertsaal betreten haben und ein zu manchen Zeiten absagegefährdetes einmaliges Klaviertalent mittlerweile dem Publikum geradezu demonstrativ vorführt, wie wenig ihm Applaus bedeutet, indem er in den beginnenden hinein lieber mit der jungen Dame zusammen die neuen Noten heraussucht.
Es geht ihm nur um die Musik, der Applaus und die Verbeugungen sind zu absolvierendes Pflichtprogramm, eigentlich entbehrlich, es geht darum, jetzt in Chopins Sonate h-Moll op. 58 einzutauchen, sich in dieses komplexe Werk vollends hineinzubegeben, in die Räusche und Meditationen. Mittendrin, in der Traumwelt des 3. Satzes, holt den Hörer sein anderes Ich ein, Pogorelich spielt den Satz kompakter, weniger am Zerfall als vor ein paar Jahren in München, aber was sagt das aus, er spielt die Musik nicht, er lebt sie, er ist die Musik, er zwingt uns (unglaublich beseelt!) durchzuhalten, mitzugehen, mitzuträumen, mitzusein in dieser Welt, in der Wahrheit dieser Welt. Die Welt „stimmt“ in diesen großen Momenten, weit über technische Meisterschaft und in jahrzehntelanger Erfahrung als Konzertpianist erworbener Routine der großen Kunst hinaus weisend.
„Der Tanz in der Dorfschenke“ (Mephisto-Walzer Nr. 1) S 514 von Franz Liszt erklingt völlig jenseits äußerlicher Virtuosität, vielmehr vergeistigt im höheren Sinn. Ein langsamer Teil nimmt sich bis zum Stillstand zurück, er kommt mehrmals wieder, und das andere Ich des Zuhörers merkt auf, jetzt könne sich dieses Genie am Podium wohl gar nicht mehr aus seinen Ewigkeiten lösen. Aber sie sind stark, entfalten weiter ihren Sog, sie fordern zwar mehr, jedoch nicht weniger intensiv und aus dem unbedingten Jetzt kommend wie die Chopin-Musik davor. Das Diabolische, pianistisch gern Schelmische entfaltet Pogorelich eher zurückhaltend, suchend, niemals zum rein technischen Selbstzweck.
Ebenso vergeistigt, als meditativ aufgebaute Erzählung, hören wir Valse triste op. 44/1 (Kuolema) von Jean Sibelius unmittelbar nach der Pause. Weiter nimmt Ivo Pogorelich uns mit in eine ganz starke eigene Welt.
Ins Zentrum dieses zweiten Teils stellt Pogorelich nach der auch schon zu den schwersten Werken der Klavierliteratur zählenden dritten Chopin-Sonate den Gipfelpunkt „Gaspard de la nuit“ von Maurice Ravel. Nicht äußerlich denken – weiter drin bleiben in der Welt, aus der wir gerade Sibelius hören konnten. Nicht denken, dass erster wie zweiter Teil mit einer Erzählung beginnen und pianistisch wie thematisch irrwitzig virtuos wie diabolisch enden, nicht achten auf den wenigen Pedalgebrauch, der eine Direktheit des Spiels schafft, die völlig jenseits möglicher Beobachtung technischer Feinheiten der Brillanz angesiedelt ist (darum geht es eben nicht an diesem Abend!), nicht darauf aufpassen, ob der Steinway Flügel nach der Pause auch so seltsam blechern klingt wie zuvor, sondern weiter durch die Welten, die hier aufgebaut werden, wandern, staunen, sich verzaubern lassen, eintauchen, vom Quell großer Kunst kosten, das eiskalt hoffnungslose Pulsieren des Galgens bis zum Ersterben mtifrieren, im Gnom des Scarbo den Mephisto von vor der Pause dann doch wieder finden – einfach „ganz“ sein in der Musik, im Moment sein, „jetzt“ sein.
Die Abrundung folgt als Zugabe, eine weitere große vergeistigte Erzählung, eine unendliche Geschichte mehr, sie kommt auch aus dieser Welt, aus der Welt dieses nachschöpferischen Genies Ivo Pogorelich: Johannes Brahms, Intermezzo A-Dur op. 118/2.
Ivo Pogorelich hat damit einen großen Bogen zu Ende gespannt. Die Welt dieses Bogens schwingt weiter in die Nacht hinein. Es war ein Bogen jenseits pianistisch meisterhaft gespielter Musik im singulären Ereignis Konzertabend – es war gelebte Wahrheit in Musik, so vieldeutig und unfassbar wie alles, was beseelt genannt werden darf.
Ja, was für ein Konzert! Sehr schön beschrieben.
Ein Freund von mir in der Pausel:"Jedes Wort wäre zu banal die Leiden dieses Mannes zu beschreiben."
Naja....
Über den Sibelius wollen wir mal den Mantel des Schweigens breiten. Diese Stück hätte ich nicht wiedererkannt ohne Programmheft. Zerstücklung pur. Ebenso erging es mir bei der Chopin Nocturne, aber hier habe ich es mir nicht anders erwartet. Ich frage mich, wie so etwas auf Zuhörer wirkt, die die Werke nicht kennen. Er bietet in der Wiedergabe langsamer Stücke keine rhythmischen Fixpunkte. Somit auch keinen "drive". Für unbeleckte muss das dann immer a la Skriabin/Debussy/ etc. klingen....
Am besten hat mit die Interpretation des Mephisto-Walzers gefallen: Extrem im Tempo zurückgenommen, hat er das Diabolische dieses Stückes mit dem Seziermesser aufgezeigt. Extrem elastisches, variables (v.a. in der Dynamik) Spiel. Den Mittelteil läßt er fast zum Stillstand kommen. :faint:
Den "Gaspard" fand ich im Vergleich fast ein bißchen "konventionell", v.a. was das Tempo betrifft, aber nicht minder eindrucksvoll. Man hatte das Gefühl von weniger Freiheiten, die er sich ja gerne zu nehmen scheint; "Le gibet" war übrigens "senza rubato" gespielt.
Was würde ich für eine Liszt-CD (mit dessen Spätwerken) dieses Pianisten geben!!!!
Alles in allem eine Sternstunde für Klavierfreaks. Und im Dezember kommt Sokolow!