Ich möchte erinnern an einen hochinteressanten Sänger, den ich sehr gern höre und von dem ich hoffe, dass er noch nicht ganz so vergessen ist, wie ich befürchte: Giacinto Prandelli. Geboren wurde Prandelli am 08.02.1914 in der Lombardei und ist, soweit ich ermitteln konnte, noch am Leben. Der Tenor debütierte im Jahr 1942 als Rodolfo in Puccinis La Bohème, seine Karriere beendete er um das Jahr 1970.
Die Stimme ist schön, aber wohl nicht ganz erstklassig, die Technik gut, wenn auch nicht außergewöhnlich – aber was für ein persönliches charaktervolles Singen!
Prandelli verfügte über eine angenehm warme, weiche Stimme mit kaum Metall, sie scheint relativ weit hinten zu sitzen, zuweilen klingt er ein wenig kehlig. Der gesungene Text ist aber immer sehr gut verständlich. Von der Anlage war Prandelli eigentlich ein ein relativ dunkel gefärbter lyrischer Tenor und Rollen wie Don Ottavio, der Rigoletto-Duca oder Werther blieben stets in seinem Repertoire. Die Stimme wurde später etwas robuster, allerdings blieb Prandelli in Sachen Stimmkraft stets weit von dem etwa gleichaltrigen Mario del Monaco entfernt. Erst in seinen späteren Jahren fällt ein zunehmendes Vibrato auf, wovon insbesondere die Mittellage negativ betroffen war.
Bei Prandelli kann man noch den Einfluss der Gesangsschule des traditionellen Belcanto erleben. Die mezza voce setzt er relativ oft ein. Auch oberhalb des Passaggio vermeidet er es, bei einigen Spitzentönen Druck auf die Stimme zu geben und greift stattdessen zur Beimischung von Kopfstimme. Auch seine in seinen Aufnahmen häufig zu beobachtende Fähigkeit, Schwelltöne zu bilden, erinnert an die alte Schule. Gerade seine Fähigkeit zur dynamischen Differenzierung macht Prandellis Aufnahmen aus meiner Sicht besonders reizvoll.
Und, jawohl, Prandelli war ein expressiver Sänger, der, was bei einem Blick auf sein Geburtsdatum wenig verwundert, stilistisch vor allem vom Verismo beeinflusst wurde. Allerdings auch einer der nicht allzu häufigen Tenöre dieser Epoche, die bei ihrem Bemühen um Emotionen nicht ganz ihren Verstand ausschalten. Seine Aufnahmen von Verdis Traviata und Boitos Mefistofele zeigen, dass er auch auf Verismen verzichten konnte, wo sie nicht am Platz waren. Auch einzelne Arien aus Werken wie Lucia di Lammermoor, Manon und Werther sind sehr geschmackvoll gestaltet. Ich bewundere seine große Musikalität, stets scheint er mir zugleich engagiert, glaubwürdig und dabei ganz bestimmt nicht oberflächlich. Vielleicht so etwas, was man mit dem unergiebigen Begriff des „Charaktertenors“ bezeichnet.
Prandelli war ein ungewöhnlich vielseitiger Tenor, der sich auch abseits der ausgetretenen Pfade bewegte. Er beschäftigte sich mit dem italienischen Gesang in Renaissance und Barock und auch die zeitgenössische Oper war eines seiner bevorzugten Betätigungsfelder. Er sang in vielen Uraufführungen der 1940er Jahre; die Werke von Komponisten wie Alfano, Nabokov oder Napoli sind heute allerdings größtenteils vergessen. Gerade in dieser Zeit war Prandelli ein ungemein gefragter Tenor. Auf ausdrücklichen Wunsch Arturo Toscaninis sang er 1946 bei der Wiedereröffnungsfeier der Mailänder Scala. In der italienischen Erstaufführung von Brittens Oper trat er als Peter Grimes auf. Die Aufführung war ein so großer Erfolg, dass Prandelli eingeladen wurde, die Rolle am Royal Opera House Covent Garden zu singen. Prandelli lehnte allerdings ab, da er seine Englischkenntnisse für nicht ausreichend hielt und die Rolle nicht phonetisch lernen wollte.
Giacinto Prandellis Aufnahmen sind ein Spiegel seines vielfältigen Schaffens:
Im Jahr 1953 hat Prandelli ein Album mit klavierbegleiteten altitalienischen Arien aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert aufgenommen. Unter anderem enthalten sind Arien von Komponisten wie Giovanni Legrenzi, Antonio Caldara oder Francesco Durante – alles Namen, die mir wenig bis überhaupt nichts sagen und wohl in den 1950er Jahren erst recht nur absoluten Insidern bekannt gewesen sein dürften. HIP-Spezialisten werden sicherlich beim Hören die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Prandelli singt diese Stücke wie große italienische Oper, allerdings ist es schon faszierend, welche Myriaden an Ausdrucksnuancen er für diese kleinen Arien findet. Preiser hat das Album unter dem Titel „Giacinto Prandelli II“ wieder aufgelegt.
Auch in seltenen (damals) modernen Opern ist Prandelli konserviert. Sehr schön ist die Aufnahme der wirklich reizenden Menotti-Oper Amelia al Ballo, in der er die kleine Rolle des Liebabers singt (Sanzogno, 1954). Prandelli hatte schon in der Uraufführung dieser Oper in der italienischen Originalsprache gesungen. Mit Prandelli erhältlich (aber mir bislang nicht bekannt) ist auch die Oper La Fiamma von Ottorino Respighi. Angeblich soll es auch Aufnahmen mit ihm geben, die Bühnenwerken gewidmet sind, von denen ich noch nie gehört habe, zum Beispiel von einer Oper César Francks („Hulda“) oder von „La Guerra“ eines Renzo Rossellini.
Allerdings ist es zum Glück nicht so, dass Prandelli lediglich ein sonderbarer Kuriositätensammler war. Er hat auch einige Gesamtaufnahmen des (erweiterten) Standardrepertoires hinterlassen:
Vielleicht am bekanntesten ist seine Aufnahme des Rodolfo in Puccinis La Bohème an der Seite von Renata Tebaldi (Erede, 1951). Andere Tenöre mögen die glanzvollere Stimme haben, aber man höre, wie Prandelli diese Rolle beseelt. Gerade im so oft abgenudelten Schluss des ersten Akts setzt Prandelli starke Akzente, insbesondere bei dem Geplänkel zwischen Mimì und Rodolfo, das den beiden Arien vorausgeht. Die musikalische Phantasie, mit der Prandelli jeder einzelnen Phrase eine neue Abstufung gibt, ist einmalig unter den mir bekannten Aufnahmen.
Nicht genug Lob kann man auch seinem Faust in Arrigo Boitos Mefistofele zollen (Gui, 1955). Die sängerische Qualität ist bei Prandelli erneut außerordentlich hoch. Schon allein die Szene im Studierzimmer kann man kaum besser gestalten: Neugier, Unsicherheit – alles ist bei Prandelli da. Auch besitzt er genug Kraft für den anspruchsvollen Epilog der Oper. Würde man mich vor die Wahl stellen, wäre dies die Prandelli-Aufnahme meiner Wahl. Bei dieser Einspielung fehlt allerdings der vierte Akt der Oper.
Und dann gibt es immer wieder Verismo. Zum Beispiel wäre da sein Luigi neben dem Michele von Tito Gobbi in Puccinis Tabarro (Bellezza, 1955) oder die Radioaufnahme von Adriana Lecouvreur mit Carla Gavazzi (Simonetto, 1951). Der Komponist Francesco Cilea selbst hatte Prandelli als den besten Maurizio bezeichnet. Die Gesamtaufnahme lässt dieses Urteil zumindest als nachvollziehbar erscheinen. Erhältlich ist auch noch eine Aufnahme von La Wally mit Renata Tebaldi (Basile, 1960). Prandelli scheint mir nicht gerade in Bestform zu sein, kann es allerdings immer noch besser als der abgesungene Mario del Monaco in Tebaldis Decca-Aufnahme.
Wer sich zunächst einen Überblick verschaffen möchte, dem sei die in der Reihe „Lebendige Vergangenheit“ erschienene Ariensammlung empfohlen, die Prandellis Oeuvre mit Auszügen aus Werken wie Don Pasquale und Werther über Resurrezione (Franco Alfano) bis hin zum Lohengrin abbildet. Diese Arien belegen insbesondere seine bemerkenswerten Diminuendi und die Kunst der voix mixte.