Wenn die Mittsommernacht lächelt - Stephen Sondheims A LITTLE NIGHT MUSIC

  • Dies ist der erste einer geplanten Reihe von Beiträgen zum Komponisten, der Entstehungsgeschichte, der Einflüsse bzw. Vorlagen sowie Text und Musik von Sondheims Musical. Ich hoffe, diese in absehbarer Zeit fertig stellen zu können, bitte aber schon jetzt um Entschuldigung, wenn das wegen anderer Aufgaben nicht gelingen sollte. Den unmittelbaren Anlass dazu findet Ihr in detwa der Mitte dieser Seite: Hier wird es licht - Der Lösungsthread zum umnachteten Rätsel


    Das wichtigste vorab: ich halte Stephen Sondheim für einen der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit, von einem der überragenden Librettisten aller Zeiten ganz zu schweigen. Sein Musical A LITTLE NIGHT MUSIC zähle ich in seiner genialen Synthese von Mozart, da Ponte, Bernstein, Ingmar Bergman und dessen Einflüssen aus den Spitzenwerken der Theatergeschichte von Marivaux und Beaumarchias bis hin zu Strindberg und Ibsen zu den zehn größten Werken des Musiktheaters mindestens der letzten fünfzig Jahre. Um so bemerkenswerter ist es, das Sondheim auch an dessen ernsthaftesten Konkurrenten im gleichen Zeitraum und Genre beteiligt war: Leonard Bernsteins WEST SIDE STORY und CANDIDE sowie natürlich seine eigenen Werke, das Musical COMPANY und die Semi-Oper SWEENEY TODD (s. Zum Glück richtig schauderhaft - Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street )


    Um so erstaunlicher, eigentlich sogar erschütternder, finde ich es, dass er hier so wenig bekannt, geschweige denn gewürdigt wird oder höchstens ausnahmsweise mal als Textdichter. Eine flüchtige Suche ergab jedenfalls, dass sich hier, außer meinen eigenen wiederholten Reklamespots, fast nur Eponine und Edwin mit eigenen Texten als Kenner Sondheims erwiesen haben. Dies zu ändern und auch die bisherigen Skeptiker zu veranlassen, sich einmal näher mit diesem überragenden Künstler unserer Zeit zu befassen, ist die Absicht dieses Threads, dem hoffentlich auch andere folgen können.


    Ich beginne bewusst mit seinem am leichtesten zugänglichen Werk, dem auch sein bislang erfolgreichster Song, „Send in the Clowns“, entstammt, und das eigentlich Anhängern aller Musikstile außer den extrem progressiven mindestens teilweise gefallen müsste. Statt einer kurzen Einführung mit anschließend aufflackernder Diskussion möchte ich deshalb auch etwas ausführlicher als sonst in Sondheims Biographie und eine Analyse dieses Werkes einsteigen, hoffe allerdings, dass Ihr mich damit nicht ganz allein lasst.


    Zunächst das Biographische zu Sondheim selbst:
    Geboren wurde er als Sohn eines erfolgreichen Textilfabrikanten am 22. März 1930 in New York, wo er auch, meist im Privatunterricht, seine musikalischen Studien absolvierte, die er als Privatschüler des Komponisten Milton Babbitt (*1916) abschloss, der sich vor allem als Pionier der serieller und elektronischer Musik einen Namen gemacht hatte. Während seiner Jugend verkehrte er oft im Hause Oscar Hammersteins II, der uns heute vor allem als Librettist von Jerome Kerns SHOW BOAT und der legendären Erfolgsmusicals Richard Rodgers’ von OKLAHOMA! bis THE SOUND OF MUSIC bekannt ist, und dessen häufige Ratschläge und didaktischen Aufgabenstellungen zur Konstruktion des Musicals ihn zu einem frühen Mentor Sondheims machten, der dies stets zu würdigen wusste. Während seiner Studienzeit schrieb er seine ersten, übrigens erstaunlich raffinierten, Songs und ein erstes satirische Musical nach Aristophanes’ DIE FRÖSCHE, das an der Yale Universität uraufgeführt wurde.


    Diese Aktivitäten machten den Buchautor der WEST SIDE STORY, Arthur Laurents, auf Sondheim aufmerksam, und er stellte ihn Leonard Bernstein als möglichen Songtexter vor. Bernstein erkannte Sondheims Talent und war von dessen Arbeit dermaßen begeistert, dass er ihn später bat, ihm bei der Überarbeitung seines zunächst erfolglos gebliebenen CANDIDE zu helfen, was Sondheim gerne und mit Erfolg tat. Allerdings war er überhaupt nicht glücklich damit, dass er nach dem überragenden Erfolg der WEST SIDE STORY nur noch als Textdichter gefragt war, sah er sich doch als (noch verhinderten) eigenständiger Musicalkomponist. Dennoch arbeitete er noch an einem weiteren überragenden Musicalerfolg mit, nämlich Jule Stynes GYPSY (1959). Eine ähnliche Gefälligkeit gegenüber Richard Rodgers, dem Komponisten seines verstorbenen Mentors Oscar Hammerstein, brachte ihn aber endgültig von solchen Kooperationen ab, denn die Zusammenarbeit mit dem sehr hoffärtigen Rodgers war alles andere als ein Vergnügen, und das Resultat, DO I HEAR A WALTZ? ein Misserfolg. Immerhin könnte ihn dieses Projekt darin bestärkt haben, später ein eigenes Walzermusical, eben A LITTLE NIGHT MUSIC, zu schaffen.


    Nach seinem zweiten überragenden Erfolg mit GYPSY hatte Sondheim endlich das nötige Gewicht am Broadway, so dass man ihm sein erstes Broadwaymusical anvertraute. A FUNNY THING HAPPENED ON THE WAY TO THE FORUM (TOLL TRIEBEN ES DIE ALTEN RÖMER; 1962) erwies sich als enorm wirkungssichere theatralische Farce, von der uns die seinerzeit recht populäre Verfilmung durch den Beatles-Regisseur Richard Lester leider nur einen blassen Eindruck vermittelte. Zwar verhalf sie einigen der Songs (etwa „Comedy Tonight“ und „Everybody Ought to Have a Maid“) zu weltweiter Popularität, trieb aber in bewährter Hollywood-Tradition ansonsten mit Sondheims Musik ziemlich Schindluder und bestätigte ihn in seiner Skepsis gegenüber Filmmusicals. Dieser Erfahrung folgte sein erster großer Misserfolg, der unterschätzte ANYONE CAN WHISTLE (1964), dem allerdings in späteren Wiederaufnahmen eine Ehrenrettung vorbehalten blieb, und dann sein erstes Musical von überragender Bedeutung, COMPANY (1964), das mit seiner Konfrontation von fünf oberflächlichen Yuppie-Paaren und einem unglücklichen Junggesellen in ganz anderer Weise als das, drei Jahre später uraufgeführte, Hippie-Musical HAIR zum zeitlos gültigen Ausdruck einer beziehungslosen Generation wurde und bis heute zu den Marksteinen des Musiktheaters zu zählen ist. Hier eine Aufnahme des Londoner Revivals von 1996



    Damit nicht genug, ließ er dem gleich ein Jahr später mit dem Revue-Musical FOLLIES ein weiteres Werk von überragender Bedeutung folgen, in dem sich mehrere Generationen von (einstigen) Showgrößen anlässlich des Abrisses eines Revuetheaters mit ihrem eigenen Schicksal auseinandersetzen müssen. Zwar war es beim Publikum ein Misserfolg, aber die Nachwirkung des Werkes und sein Erfolg bei jedem - meist semikonzertant aufgeführten - Revival sind enorm. Beide Werke, die übrigens auch mit einem Tony-Award (der OSCAR des Broadway) für das beste Musical bzw. die beste Musik ausgezeichnet wurden, sind einen eigenen Thread wert, der bei genügender Nachfrage vielleicht einmal kommt. Hier ist erst einmal nur wichtig, dass sie sich weitaus deutlicher als noch FORUM um das Thema drehen, das Sondheim immer wieder beschäftigen sollte: die Egozentrik des Einzelnen, der sich mit Sex oder vermeintlicher Liebe über seine ureigene Isolation hinweg zu täuschen versucht, dabei aber mehr oder minder tragisch scheitert, weil er nie über den eigenen Schatten springen kann. In seinem nächsten Werk und bis größten Publikumserfolg überhaupt sollte dieses Thema wieder dominieren, aber um zwei Auswegmöglichkeiten erweitert werden: den Optimismus naiver Jugend und die Einsicht der Geläuterten, sich mit dem Möglichen zu begnügen.


    Ich spreche natürlich von A LITTLE NIGHT MUSIC, mit dessen Entstehungs- und Erfolgsgeschichte sich mein nächster Beitrag beschäftigen soll, und weshalb ich die Sondheim – Chronologie an dieser Stelle unterbreche, nicht ohne noch eine Anekdote zu wiederzugeben, die für das Verständnis von Sondheims Musik hilfreich und kennzeichnend ist: gegen Ende seines Studiums bei Milton Babbitt fragte er diesen, ob er sich jetzt an atonale Musik wagen könne. Babbitt verneinte mit der Bemerkung, dass Sondheim noch lange nicht mit seiner tonalen Musik fertig sei. Wenn sich Sondheim auch nie scheute, mit der Tonalität frei umzugehen, wenn das Sujet dies erforderte, so hat er diesen Hinweis doch zeitlebens beherzigt.


    Dennoch trug sein progressiver Kompositionsstil, dessen Emanzipation vom Nummerncharakter des Broadway erst mit A LITTLE NIGHT MUSIC einsetzt, und der sich fortan der Effekthascherei einschmeichelnder Melodien und deren permanenter Einhämmerei à la Lloyd Webber immer konsequenter selbst dort verweigerte, wo sich Sondheim als begabter Melodiker erwies, dazu bei, dass sich das Gros des Musicalpublikums den Hitschmieden zuwandte, während Sondheim fast nur noch vonl denen, die das Musiktheater mit allen seinen Möglichkeiten schätzen, bewundert, ja nachgerade zum Kult wurde, der sich schon jetzt als nachhaltiger erweist als die Werke vieler seiner populäreren Zeitgenossen.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Zitat

    Original von Jacques Rideamus
    Gegen Ende seines Studiums bei Milton Babbitt fragte er diesen, ob er sich jetzt an atonale Musik wagen könne. Babbitt verneinte mit der Bemerkung, dass Sondheim noch lange nicht mit seiner tonalen Musik fertig sei. [...] Sondheim [...] hat [...] diesen Hinweis [...] zeitlebens beherzigt.


    Eine sehr merkwürdige Anekdote. Erinnert mich von ferne an das Versprechen, das Schönberg von Cage einforderte, dass letzterer sein Leben der Musik weihen solle (oder so ähnlich).


    Jedenfalls fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass ein Komponist am Ende seines Studiums seinen Lehrer, der eine anerkannte Größe in einem modernen Stil ist, letzteren (schon wieder letzteren) fragt, ob er jetzt auch so modern komponieren dürfe. Man müßte jetzt den Verlauf des Studiums besser kennen, um mit dieser seltsamen Frage etwas anfangen zu können. Vielleicht drückt sie aber nur ein mangelndes Selbstbewußtsein des Schülers aus? Denn wenn er ohnehin weiß, was er will (und dass er nicht atonal schreiben will) wozu fragt er dann, ob er sich daran wagen soll?


    Im Gegensatz zu Babbitt kenne ich übrigens Sondheim nicht (kann man auf zwei Arten verstehen, die beide richtig sind) und kann mich daher hier nicht wirklich beteiligen.
    :hello:

  • Anekdoten haben die ebenso angenehme wie unangenehme Eigenschaft, zu verkürzen. Ich kenne sie nur in dieser Form und Pointiertheit, so dass ich, der ich wiederum Babbitt kaum kenne, auch nur über deren Hintergrund oder Wahrheitsgehalt spekulieren kann. Dass sich aber immer wieder berühmte Lehrer und Schüler auseinander entwickeln, ist eher schon der Normalfall.


    Was übrigens das Kennenlernen Sondheims und Deine mögliche Beteiligung an diesem Thread betrifft: genau um beides zu ändern, habe ich ihn ja ins Leben gerufen. Versuche es mal mit SWEENEY TODD, allerdings mit der Gesamtaufnahme und keineswegs dem Film bzw. dessen Soundtrack. Es würde mich wundern, wenn Dir das Werk nichts sagen oder Dich gar abschrecken würde, selbst wenn Du dem Musiktheater ansonsten skeptisch gegenüber stehen solltest.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Zitat

    Original von Jacques Rideamus
    Es würde mich wundern, wenn Dir das Werk nichts sagen oder Dich gar abschrecken würde, selbst wenn Du dem Musiktheater ansonsten skeptisch gegenüber stehen solltest.


    Ich sehe schon, ich muss mich hier mehr als Opernliebhaber profilieren ...
    Alfred schätzt mich auch nicht als Opernhörer ein. Was mach ich dagegen? Einen Thread über Holzbauers Günther von Schwarzburg?
    :untertauch:

  • Trotz seines etwas irreführenden Titels hat A LITTLE NIGHT MUSIC erst in zweiter oder dritter Linie etwas mit Mozart und dem apokryphen Titel seiner "Kleinen Nachtmusik" zu tun. Die unmittelbare Vorlage, der Hugh Wheelers Libretto erstaunlich getreu folgt, obwohl er ein paar Nebenhandlungen und Schauplatzwechsel kürzte und, wohl auf Sondheims Wunsch, einen fünfköpfigen Chor einführte, über dessen Funktion noch zu reden sein wird, ist der Film SOMMARNATTENS LEENDE von Ingmar Bergman, auf den hier zunächst einzugehen ist.


    Das Lächeln einer Sommernacht - Der Film von Ingmar Bergman
    Diese wunderbar konstruierte und mit einem sehr fein ziselierten, dennoch höchst wirkungsvollen Humor inszenierte Komödie brachte bei ihrem Debüt bei den Filmfestspielen in Cannes 1955 erstmals große internationale Aufmerksamkeit sowie eine Ehrenpalme für "den besten poetischen Humor" eines Films ein.


    Für diesen Film engagierte Bergman fast sein gesamtes reguläres Ensemble, darunter Harriet Andersson, Ulla Jacobsson, Gunnar Björnstrand, Jarl Kulle und in einer kleinen Rolle als Schauspielerin auch Bibi Andersson sowie in ihrer besten Rolle überhaupt Eva Dahlbeck. Hätte diese nur diese eine Rolle der Désirée Armfeldt gespielt, ein Ehrenplatz unter den bezauberndsten Frauen der Filmgeschichte wäre ihr schon deswegen sicher. Ich kenne wenige Ensemblefilme, die bis ins letzte Detail so hinreißend einfühlsam und zugleich wirkungssicher gespielt wurden.


    Das Erstaunlichste aber bleibt das Drehbuch, das effektvoll ist es gebaut und getimet ist, dass es überrascht zu erfahren, dass es wirklich nicht auf einem bewährten Klassiker beruht. Übrigens findet sich darin eine überraschende Parallele zu Hofmannsthals Libretto zu DER ROSENKAVALIER, die noch öfter auffallen wird, ohne dass man daraus einen Einfluss auf Sondheim konstruieren sollte. Bergman selbst hat Pierre de Marivaux (1688-1763) als eine seiner Quellen genannt, und tatsächlich erinnern die Konstellationen der Handlung sehr stark an Stücke dieses heute viel zu unbekannten, großen französischen Komödienautors zwischen Molière und Beaumarchais. Da die Stücke Marivaux außerhalb großer Bibliotheken, die ich nach Möglichkeit meide, gar nicht so leicht aufzutreiben sind, konnte ich bis heute keine konkrete Vorlage ausmachen, und das gilt auch für andere, die, Bergman ungeprüft nachplappernd, diesem sogar die Verfilmung einer Vorlage von Marivaux unterstellen. Wie auch immer, diese drei Größen des französischen Komödie kann man - neben Shakespeares SOMMERNACHTSTRAUM, mit dem Woody Allens A MIDSUMMER NIGHT'S COMEDY dessen Bergman-Hommage verknüpfte - als Inspirationen im weiteren Sinne benennen. Von Shakespeare stammt eindeutig die traumhafte Stimmung, Molière beeinflusste die ironisch präsentierte Menschenkenntnis, die aus dem Buch spricht, während Marivaux und Beaumarchais, dieser vor allem durch die Brille des Librettisten Da Ponte gesehen, für die wirkungssichere Konstellation der neun (!) Hauptpersonen stehen, deren amouröse Wechselspiele das Geschehen ausmachen.


    Natürlich hat Bergman auch schon damals seinen Mozart gekannt. Dafür steht nicht nur seine weit spätere, kongeniale Verfilmung der ZAUBERFLÖTE. Aber in diesem Film scheint mir der Bezug etwas weit hergeholt, zumal Erik Nordgrens Filmmusik zwar alte Kompositionen zu zitieren scheint, die ich allerdings bislang noch nicht identifizieren konnte, meines Wissens aber nichts von Mozart dabei ist. Diesen Bezug, der eher einer zu Da Ponte ist, hat wohl erst Sondheim erkannt und verstärkt.


    Das Wunder dieses Films ist es, dass Bergman all diesen Vorbildern gerecht wird und ein Werk auf der gleichen Höhe der Inspiration schuf. Da ist es schon eine außerordentliche Leistung, dass Sondheims Musical-Operette ihm keineswegs nachsteht und in dem außerordentlichen Witz seiner Texte sogar noch mehrere Nasenlängen voraus ist, wobei er natürlich auf Bergmans Vorleistung aufbauen konnte. So ist allein die Lektüre des Textbuches schon ein reines Vergnügen, selbst wenn man die Musik nicht kennt, und deswegen sei ausnahmsweise mal der englischsprachige Druck eines Librettos hier angepriesen:



    Die Entstehung des Musicals...


    ... lässt sich in aller Kürze schildern. Als Sondheim und sein Produzent Harold Prince nach den Revue-Musicals COMPANY und FOLLIES Sondheims altes Projekt eines Walzermusicals (s.o.) aufgreifen und dafür ein richtiges Buchmusical mit durchgehender Handlung kreieren wollten, schwebte ihnen zunächst eine Bearbeitung von Jean Anouilhs STück "L'invitation au chateau" vor, dessen Rechte sie aber nicht bekommen konnten. Daraufhin fiel Sondheim Bergmans Film ein, das sich in seinem zweiten Teil ebenfalls um eine Einladung auf ein Schloss dreht. Sondheim, Prince und Wheeler sahen sich den Film an und wussten sofort, dass sie den richtigen Stoff gefunden hatten. Zum Glück war Bergman mit der Adaption einverstanden, und keine zwei Jahre später konnte das Musical uraufgeführt werden.


    Wann und warum es den überraschenden und seither oft verwirrenden Titel "Eine kleine Nachtmusik" erhielt, und ob der Vorschlag wirklich auf Sondheim zurück geht, konnte ich noch nicht eruieren. Ich vermute es aber, denn wie noch zu sehen sein wird, hat Sondheim, ähnlich wie seinerzeit Strauss und Hofmannsthal, die Verbindung ihres DER ROSENKAVALIER zur HOCHZEIT DES FIGARO, die Verwandtschaft seines Stoffes mit Beaumarchais sehr wohl gesehen und sich gleich Strauss, wenn auch noch konsequenter, dafür entschieden, diese überwiegend in Walzerfolgen auszudrücken. Aber was für ein Unterschied besteht doch zwischen den Ergebnissen dieser Inspiration. In mehr als einem Sinne unterscheiden sich beide Werke voneinander wie Tag und Nacht, nur nicht in ihrer Qualität und in einer, für Sondheim ebenso überraschenden Wendung wie seinerzeit für Strauss, nostalgischen, aber keineswegs unkritischen und durchaus zeitgemäßen Betrachtung.


    Mehr dazu und dann endlich auch zu dem Stück selbst beim nächsten Mal.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Nun also, mit der Bitte um Nachsicht für die Verzögerung, die sich leider wiederholen dürfte, zur Kommentierung des Werks selbst. Dabei möchte ich gerne auf die einzelnen Nummern eingehen. Ich stütze mich dabei im Wesentlichen auf dien Originalsoundtrack der Broadway-Aufführung, ziehe aber auch eine TV-Ausstrahlung einer autorisierten Aufführung der New York City Opera heran, die man aus dem Internet herunter laden kann. Zu deren Einordnung empfiehlt es sich, den Inhalt des Musicals parat zu haben. Ihr findet ihn hier: Sondheim, Stephen: A LITTLE NIGHT MUSIC


    Wie bereits gesagt, planten Sondheim und sein Regisseur Harold Prince ein "Walzermusical", und tatsächlich gibt es in diesem Musical nur wenige Nummern, die nicht auf einem Dreivierteltakt basieren, der allerdings zum Glück nicht immer wieder in Walzer mündet, vielmehr einen unauffällig überzeugenden Eindruck von den vielfältigen Möglichkeiten dieses Tanzrhythmus vermittelt.


    Overture and Night Waltz


    Schon die "Ouvertüre" ist ein erlesener Einfall, wird sie doch nicht allein durch das Orchester bestritten, sondern geht von einem sich einsingenden Quintett aus, das in der Partitur zwar Namen trägt, aber keinen direkten Einfluss auf die Handlung hat. Vielmehr fungiert es ähnlich wie der Chor des antiken griechischen Theaters, indem es die Gedankenwelt der Handelnden repräsentiert und kommentiert - und nebenbei ganz praktisch notwendige Stimmungs- und Gedankensprünge überbrückt. Das oft wiederholte Schlüsselwort ihrer Funktion, das unseren Abstand zur Handlungszeit betont, ist "Remember", das im Orchesterpart bereits kurz anklingt, von dem wir aber erst später viel mehr hören werden. Zunächst erklingt nämlich der sehr schöne "Night Waltz" in Moll, der den nostalgischen Ton des Nachfolgenden grundiert, in seinem milde dissonanten Ausklang aber auch die Brüche der verklärenden Nostalgie charakterisiert. Harold Prince ließ diesen Walzer sowohl in der Broadway-Aufführung als auch in der missglückten Filmversion von den Protagonisten des Stückes tanzen und betonte so ein wesentliches Element der Handlung, in der sich alle Beteiligten beständig um sich selbst drehen, jedoch nie wirklich sich selbst sehen und allenfalls im Spiegel der Reaktionen ihrer jeweiligen Partner erkennen.


    Couplets und Terzett: Now - Later - Soon


    Die vielleicht größte und schwerste Kunst des Musiktheaters ist die Konzentration, d. h. die - zudem möglichst unauffällige - Bündelung möglichst vieler Informationen auf einem möglichst geringen Raum. Mit diesem Eröffnungsterzett erweist sich Sondheim sofort als ein Meister dieser Kunst. Er setzt ein mit einem gesungenen Monolog seines Helden, des Rechtsanwalts Frederick Egermann, während seine jugendliche Ehefrau Anne unbeachtete Überlegungen vor sich hin plappert, was sie zu dem bevorstehenden Theaterbesuch anziehen könne, welcher Schmuck dazu passt, etc.. Das greift Egermann mit dem ersten Stichwort auf und entwickelt es zu einem typischen Anwaltsplädoyer weiter:


    Now, as the sweet imbecilities
    Tumble so lavishly
    Onto her lap
    (Nun, da das dumme Geschwätz
    Haltlos aus ihrem Mund hetzt, als
    Wär' sie ein Schaf) *
    * Alle Übersetzungen sind von mir. Sie versuchen nicht, sangbar zu sein, sondern, notfalls auf Kosten der identischen Wortbedeutung, den Sinn und Rhythmus des Originals einzufangen


    Now, there are two possibilities:
    A: I could ravish her,
    B: I could nap
    (Nun gibt's die Möglichkeit
    A: ich nehm sie mit Gewalt oder
    B: Mittagsschlaf)


    Dem folgt, aus Copyrightgründen leider hier nicht so umfangreich wie wünschenswert zitierbar, eine lange Reihe von Argumenten für und gegen eine Entjungferung seiner jungen Ehefrau, die es seit elf Monaten geschafft hat, eine richtige Hochzeitsnacht hinaus zu zögern. Sie alle sind von betörender Logik, aber in ihrer zunehmenden Absurdität, die nicht einmal die Möglichkeit ausspart, dass er in seinem Alter lächerlich wirken könnte, wenn er sich nackt vor ihr aufstellt, von hinreißendem Witz und gipfeln in bester Amtssprache, wenn er bekennt, dass er sie gerne wirklich "begehren und/oder lieben" möchte. Wie offenbar immer, entschließt er sich zu einem Nickerchen.


    Dieses verteufelt schwer zu meisternde Stück Sprechgesang, das von seinem Darsteller kaum nennenswerten Stimmumfang, aber, wie übrigens das ganze Musical, einen sehr sattelfesten Sinn für Rhythmus und pointierte Diktion erfordert, ist ein Glanzstück sowohl musikalischer als auch sprachlicher Charakterisierung seines eher langweiligen Helden und dessen albern unrealistischen Sehnsucht nach einer zweiten Jugend. Dennoch denunziert Sondheim ihn nicht, sondern lässt ihm Intelligenz und Witz und daher alle Chancen, nicht einfach als ein Trottel nach dem Vorbild molièrscher Komödien da zu stehen. Damit ist schon in dieser Eröffnung der Tenor des ganzen Werkes angeschlagen: selbst wenn sie den größten Unsinn machen, verlieren seine Protagonisten nie ganz ihre Würde, auch wenn ihr Beharren darauf zuweilen sehr lachhaft wirkt.


    Gleich darauf droht das aggressive Cellospiel von Fredricks Sohn Henrik Fredricks Schlaf zu stören. Anne bittet ihn, etwas weniger Deprimierendes zu spielen, und das später und woanders. Der arme Henrik, der im Priesterseminar auf Keuschheit getrimmt wurde, wird wie ein kleiner, dummer Junge behandelt und von aller Welt weitgehend ignoriert, zunächst sogar von dem Hausmädchen Petra, das er gerne vernaschen würde, während er sich eigentlich nach seiner gleichaltrigen Stiefmutter verzehrt, und immer wieder auf "Later / Später" vertröstet. Seine Frustration bringt er in einem kurzen Solo zum Ausdruck. Danach erhält auch die junge Ehefrau Anne in einem dritten Solo Gelegenheit, sich als mitfühlende, aber reichlich überforderte, all zu junge Frau darzustellen, die Fredrick aus Mitleid geheiratet hatte, weil er so unglücklich wirkte. "Soon / Bald", verspricht sie, wird sie ihre Angst ablegen und ihrem Mann eine wirkliche Ehefrau sein können. Auch diese beiden Charakterisierungen erfolgen in denkbar konzentrierter, aber restlos überzeugender Form, die keine Fragen offen lässt. Innerhalb einer einzigen Nummer von wenigen Minuten haben wir so drei sehr verschiedene Menschen und die Art ihrer Schwierigkeiten mit dem Leben kennen gelernt.


    Der musikalische Höhepunkt des Stückes kommt, wenn diese drei rhythmisch und stimmungsmäßig stark divergierenden Charakterisierungen zu einem kontrapunktischen Terzett zusammen gefügt werden, das erneut an die rhythmische Disziplin der Darsteller - und des Dirigenten - höchste Ansprüche stellt. Dass dennoch - bei einer guten Aufführung - alles selbstverständlich und leicht zusammen klingt, ist ein Markenzeichen des Komponisten und Texters Sondheim, der sich - leider nur in diesem Stück - in einem Ausmaß an Ensembles gewagt und diese auch gemeistert hat, wie wir es aus kaum einem anderen Musical, eigentlich sogar aus irgendeinem Werk des 20. Jahrhunderts für die Musikbühne kennen.


    Genau da haben übrigens andere Sprachfassungen, denen Sondheim verständlicherweise nicht viel abgewinnen kann, erhebliche Probleme, denn bei Sondheim, der nach eigenem Bekunden stets Text und Musik gleichzeitig schreibt, damit er mit dem einen Element nicht das andere in eine Ecke treibt, aus dem er es nicht mehr herausführen kann, sind Musik und Text immer aus einem untrennbaren Guss, dessen Legierung allein wegen der Unterschiedlichkeit des jeweiligen Sprachduktus selbst in der genialsten Übersetzung zwangsläufig mindestens leichte Haarrisse aufweisen muss, meist aber nicht annähernd an die Kombination aus Eleganz und phänomenaler Charakterisierung seiner sprachlichen Lösungen heran reicht.


    Am Ende dieses Stückes, das von einem geplanten Theaterbesuch angeregt wurde, bei dem die bekannte Schauspielerin Désirée Armfeldt die Hauptrolle spielt, mit der Fredrick vor mehr als einem Jahrzehnt ein stürmisches Verhältnis hatte, folgt ein unerwarteter und deshalb stets besonders wirkungsvoller Topper (d.h. ein Gag, der alles Vorangegangene überbieten soll): nach dem ausklingenden letzten Ton des Terzetts, bei dem Fredrick bereits im Schlaf mitmacht, entweicht ihm im Schlaf der sehnsuchtsvolle Seufzer "Désirée". Allein mit diesem Wort können wir uns seinen lustvollen Traum vorstellen - und die Irritation Annes nachvollziehen, die keine Ahnung von der Beziehung ihres Mannes zu der berühmten Schauspielerin hat, aber instinktiv erfasst, das da mehr im Spiel sein muss als die Vorfreude auf einen harmlosen Theaterabend.


    :hello: Jacques Rideamus

  • The Glamorous Life


    Im nächsten Bild und Sondheims nächster Ensemblenummer lernen wir die zweite wichtige Familie des Stückes kennen. Sie besteht aus der - wegen beständiger Tourneen stets abwesenden - Schauspielerin Désirée Armfeldt, deren Mutter, Madame Armfeldt, einer ehemaligen Kurtisane, und Désirées unehelicher Tochter (von Frederick, wie wir später erfahren werden) Frederica. Diese lebt bei ihrer Großmutter, welche sie dem unsteten Leben ihrer Mutter entzogen hat und ihr die Manieren einer jungen Dame beibringt. Wer sich durch die Ähnlichkeit mit dem gleichen Motiv in Lerner/Loewes Musical GIGI erinnert fühlt, liegt nicht falsch, obwohl die Verwandtschaft mit deren Vorlage, der rund zehn Jahre früher entstandenen Novelle von Colette, eher auf den Zeitgeist zurück gehen als eine Übernahme dieses Motivs durch Ingmar Bergman darstellen dürfte.


    Die Nummer entsteht wie selbstverständlich aus einer Skalenübung der Tochter am Klavier. Dabei beklagt sie sich darüber, dass normale Mütter ein normales Leben führen, während ihre Mutter Theater spielt. Das "Mine acts" (Meine Mutter spielt Theater) gibt den Auftakt zu einem Intermezzo des Quintetts, das sich ironisch und in der Manier eines strophischen Kinderliedes über die nervtötend monotonen Routinen des vermeintlich glamourösen Lebens am Theater auslässt:


    "Unpack your luggage, la la la,
    Pack up your luggage, la, la la"
    (Koffer auspacken, la la la
    Koffer einpacken, la la la)


    Nach einem Blick auf die Briefe schreibende Désirée, die sich wieder einmal bei ihrer Tochter (nach dem zweiten Vers bei ihrer Mutter) für ihre Abwesenheit entschuldigt, hat Madame Armfeldt das Wort zur gleichen Klage: Normale Töchter respektierten und hofierten ihre Mutter, aber ihre tourt. Danach greift Deésiree das ironische Motiv des Quintetts auf, vergisst dabei aber nicht zu erwähnen, dass die vielen jugendlichen Verehrer durchaus auch ihre Vorzüge haben, was ihrer Familie sicher auch bewusst ist, aber von dieser diskret verschwiegen wird. Im Sinne einer optimalen Erzählökonomie bewährt sich hier die Einführung des Quintetts, die den Regisseur Harold Prince ursprünglich stark irritierte (in "seinem" Film hat er es prompt gestrichen), auf das beste, und dieses muntere Stück aus nur fünf Tönen und einem im Wortsinn mono-tonen Ostinato (la la la) gehört zu den eingängisten des ganzen Werks.


    Remember


    Die folgende Sequenz von dem Besuch im Theater, der ersten Wiederbegegnung Fredericks mit Désirée per Blickkontakt im Theater und dem Dämmern der Wahrnehmung und entsprechender Eifersucht bei Anne nimmt in Ingamer Bergmans Film einen relativ großen Raum ein, in dem er virtuos mit den Möglichkeiten von Schuss/Gegenschuss und Nahaufnahmen spielt, während Désiree und die übrigen Schauspielerinnen das frivole französische Stück geben, das auf dem Spielplan steht. Dies ist begreiflicherweise auf der Bühne schwer nachzuspielen, ohne dass das Momentum komplett verloren geht. Die Lösung Sondheims und seines Buchautors Hugh Wheeler ist genial: Während Frederick und seine Frau die Aufführung betrachten, zitiert das Quintett zu den Klängen eines flirrenden Walzers die Gedanken und Erinnerungen, die dem ehemaligen Liebespaar durch den Kopf gehen:


    "Remember, Darling
    ...
    What we did with your perfume,
    Remember, darling,
    The condition of the room
    When we were through.


    Our inventions were unique
    Remember, darling
    I was limping for a week,
    You caught the flu.
    I'm sure it was
    You


    (Denk daran, Liebling
    ...
    Was ich tat mit dem Flakon
    Denk dran, Liebling
    Alles war, selbst der Balkon,
    Durchwühlt wie wir.


    Was uns einfiel jeden Gang,
    Denk drank, Liebling,
    Danach hinkt' ich wochenlang
    Und das Fieber gleich danach
    Bestimmt kam's von
    Dir.)


    Riskanter, nur durch seinen Witz nicht zur Zote verkommender Humor und Nostalgie, Leidenschaft und Poesie werden hier in kurzen Gedankensplittern aufgeworfen und zu einem mitreißenden Ensemble verschmolzen, das auch musikalisch keineswegs anspruchslos ist, gibt doch das Quintett die Gelegenheit, professionelle Stimmen einzuführen. Diese Nummer ist nicht nur eine dramaturgisch, sondern auch musikalisch meisterhaft schillernde Vignette.


    You Must Meet My Wife


    Anne, die sich nicht ganz im Klaren ist, was zwischen den beiden lief, aber zurecht vermutet, dass sie allen Grund zur Eifersucht hat, fordert ihren Mann zum frühzeitigen Aufbruch auf. Zu Hause erwischen sie Henrik, der gerade mit Petra gesündigt hat, was beider erotische Fantasien anregt, aber Anne ist nach wie vor nicht imstande, sich ihrem Mann hinzugeben und so auch sexuell an sich zu binden. Deshalb schützt er einen Spaziergang an der frischen Luft vor um Désirée zu besuchen. Dabei kommt es zu einem herrlich komischen Duett, denn in seiner Verlegenheit fällt Fredrick nichts Besseres ein, als seiner alten und prospektiven Geliebten ausgerechnet von seiner jungen Frau vorzuschwärmen. Daraus entwickelt sich ein reizvoller musikalischer Dialog von erlesenem Wortwitz. Natürlich ist auch ein Sondheim nicht darüber erhaben, auch einmal einen billigen Gag einzuflechten, etwa wenn er Fredrick schwärmen und Désirée sarkastisch kommentieren lässt:


    Fredrick: She flutters
    Désirée: How charming
    F: She twitters
    D: My word
    F: She floats
    D: Isn't that alarming
    What is she? A bird?


    Fredrick: Sie flattert
    Désirée: Wie niedlich
    F: Sie zwitschert
    D: (komisch resigniert) Besiegt
    F: Sie schwebt
    D: Das klingt doch vorzüglich.
    Sag bloß noch: "sie fliegt"


    Dennoch: der Gag zündet unweigerlich. Sondheims guter Theaterinstinkt bewährt sich auch im weiteren Verlauf, wenn sich Désirée über das junge Monster aufregt, das Fredrick schon fast ein Jahr auf Sexualentzug hält und eher an Messer als angemessenen Respekt verdient. Dabei verliert das Ganze nie seine dominierende Komik, die daraus erwächst, dass ein ehemaliger Schwerenöter seiner wahrlich nicht tugendhaften Geliebten von den Vorzügen einer ungepflückten Blume vorschwärmt. Natürlich ist sie trotzdem nur zu bereit, Fredricks Nachholbedarf zu stillen. Wozu sind alte Freunde schließlich da?


    Liaisons


    Beider Rückzug ins Bett ist das ideale Stichwort für die alte Madame Armfeldt, sich in einem eindrucksvollen Solo ihrer eigenen Jugend als Kurtisane von Herzögen und Königen zu erinnern, die ihr ein luxuriöses Alter ermöglichten. In dem Wissen, dass diese Rolle, wie ursprünglich von Hermione Gingold, in der Regel von alten Diseusen von begrenztem Stimmumfang verkörpert werden würde, ist dieses Couplet von den muskalischen Ansprüchen her sehr einfach gehalten, bleibt aber ganz im melancholischen Umfeld, das einen idealen Nährboden für die Charakterisierung der Figur abgibt, die ebenfalls von Sondheims ungewöhnlich pointensicherem Witz profitiert und natürlich einer erfahrenen Darstellerin bedarf, die diese Pointen zu setzen weiß:


    At the palace of the Duke of Ferrara
    Who was prematurely deaf but a dear
    At the palace of the Duke of Ferrara
    I acquired some position
    Plus a tiny Titian


    (Im Palast des alten Duca Ferrara,
    Er war ziemlich dumm und taub, aber lieb,
    Im Palast des alten Duca Ferrara
    Kriegt ich einmal, mit nur Witz an,
    Einen kleinen Tizian)


    Bemerkenswert ist der etwas steife, eher künstlich als gekonnt vornehme Sprachduktus der alten Kurtisane, während sie betrauert, dass heutige Liaisons kaum noch das wert sind, was sie einbringen. Er stammt, wie sie, aus einer anderen Welt, nämlich der Welt derer, die schon zuviel mitgemacht und sich so das finale Lächeln der Mittsommernacht verdient haben.


    Zurück bei Désirée Armfeldt, werden die beiden von Désirées aktuellem Liebhaber, einem lediglich köperlich stattlichen Offizier überrascht, dem Grafen Carl-Magnus, dessen hohlköpfige Blasiertheit verstehen lässt, was Désirée an Fredrick findet, und warum sie fortan planen wird, ihn wieder für sich einzufangen.


    Fortsetzung folgt.

  • In Praise of Women


    Mit dem Auftritt des Grafen ist die vorletzte der neun Hauptfiguren des Stückes eingeführt und wird es höchste Zeit, auch die letzte kennen zu lernen, nämlich dessen Ehefrau Charlotte, die ihren Mann vollauf durchschaut, ihm aber dennoch hörig ist. So sind die beiden Solos, in denen sie sich vorstellen, trotz der verschiedenen Schauplätze änlich kontrapunktisch miteinander verbunden wie die Vorstellung der drei ersten Hauptpersonen zu Beginn.


    Nachdem Carl-Magnus seinen Rivalen Fredrick aus seinem Morgenmantel und im Nachthemd aus dem Haus seiner Geliebten vertrieben hat, überlegt er ernsthaft, ob ihn Désirée wirklich betrogen haben könnte. Trotz allem äußerlichen Anschein lässt sein eitler Stolz die Möglichkeit nicht zu. Sondheim fasst das in einen herrlich stammelnden Monolog, der die ausführlicheren Abwägungen Fredricks zum Auftakt in köstlicher Weise sowohl karikiert, und damit die begrenzte Intelligenz des Grafen unterstreicht, als ihnen auch entspricht und damit eine sehr männliche Gemeinsamkeit belegt:


    She wouldn't...
    Therefore they didn't...
    So then it wasn't...
    Not unless it...
    Would she?...
    She doesn't...
    God knows she needn't...
    Therefore it's not.


    (Sie wird nicht...
    Drum haben sie nicht...
    Und deshalb war nichts...
    Es sei denn, dass...
    Will sie?...
    Sie will nicht. ...
    Bei Gott, sie braucht's nicht...
    Drum kann's nicht sein.)


    Every Day a Little Death


    Dennoch nagt die Eifersucht weiter an Carl-Magnus, und er stachelt seine ebenfalls noch sehr junge Frau Charlotte auf, ihrer Studienfreundin Anne von den nächtlichen Abenteuern ihres Ehemannes zu berichten. Mit höchst weiblicher Tücke sucht sie also Anne auf und ventiliert ihr eigenes Leiden in das geheuchelte Mitleid mit einer Leidensgenossin. Beide beklagen schließlich gemeinsam, dass das Eheleben jeden Tag einen kleinen Tod bedeute:


    Every day a little death
    In the parlor, in the bed,
    In the curtains, in the silver,
    In the buttons. in the bread.


    (Jeden Tag ein kleiner Tod
    Im Geschäft, am Bügelbrett,
    Es beginnt beim Aufgebot,
    Setzt sich fort in Bad und Bett)


    Das kann auch die noch unerfahrene Ehefrau Anne nachvollziehen, und so erweitert sie, wie schon zu Beginn, einen Monolog zum Duett, das wiederum Teil eines heimlichen Eifersuchtsterzetts ist, und wird damit erneut zum dritten Rad am Wagen zweier eigentlich perfekt zusammen passender Paare. Ihr Text allerdings könnte ohne jede Veränderung schon in Sondheims sehr ernster Studie COMPANY vorkommen, denn der ironische Unterton der übrigen Lyrics fehlt auf einmal völlig. Anne entpuppt sich so unversehens als eine wahrhaft leidende Frau, was sich zum Ende ihres Beitrag auch in einer auffälligen Rhythmusverzögerung ausdrückt:


    Every day a little death
    In the lips and in the eyes
    In the murmurs, in the pauses
    In the gestures, in the sighs


    Every day a little dies,
    In the looks and in
    The lies.


    (Jeden Tag ein kleiner Tod
    Aus dem Mund, der Art des Blicks,
    Seinem Brummen, seinen Pausen,
    Und der Sturheit des Genicks.


    Täglich stirbt man Zug um Zug
    An der Worte Lug
    Und Trug.)


    Sondheim, der als Fan (und sogar Autor) von komplex entworfenen Kriminalstücken bekannt ist, liebt Puzzles und Strategiespiele, und in keinem seiner Werke wird dies deutlicher als zum Schluss des ersten Aktes von A LITTLE NIGHT MUSIC, der auf den ersten Blick wie die Lösung eines Puzzles von immensem Ausmaß erscheint, das für Normalmenschen nicht mehr zu bewältigen ist.


    A Weekend in the Country


    Mit diesem Ensemble hat Sondheim sein großes Vorbild, das Quintett TONIGHT aus WEST SIDE STORY, mindestens erreicht und in der Anzahl der beteiligten Stimmen sogar noch übertroffen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass der Tüftler Sondheim dabei auf die anspruchs- und höchst kunftvollen Formenstudien Bachs zurückgreift. Zwar vermeidet er die Durchführung einer neunfachen Fuge, diese aber ist immer wieder in Ansätzen heraus zu hören, und das noch am wenigsten in den überraschend eingeflochtenen Anklängen des Kirchenchorals, wenn Henrik einsteigt, was der geschickte Orchestrator Jonathan Tunick mit den passenden Glockentönen unterstreicht. Das Erstaunliche ist, dass dieses Ensemble dabei auch noch die Aufgabe erfüllt, die Spannungen der bisherigen Personenkonstellation auf den Höhepunkt zu bringen und die Handlung des zweiten Aktes rasch und in vollkommener Logik vorzubereiten.


    Zuächst übergibt das abenteuerlustige Dienstmädchen Petra Anne die Einladung der alten Madame Armfeldt zu einem Wochenende auf ihrem Landgut, das zufällig auf die Zeit der Sommersonnenwende fällt, und zu dem zu der Désirée ihre Mutter überredet hatte. Petra ist begeistert, und zunächst ist es auch Anne:


    "Your presence",
    Just think of it, Petra,
    "Is kindly..."
    - It's a chateau ! -
    "Requested..."
    Et cetra, et cetra,
    "...Madame Leonora Armf-"
    OH NO!


    A Weekend in the country...


    ("Über Ihr Kommen..."
    Ach denk doch nur, Petra
    "Würde sich freuen..."
    - Auf ein Schloss! -
    Et cetra, et cetra,
    "...Madame Leonora Armf-"
    OH NEIN!


    Ein Weekend auf dem Lande...)


    Natürlich will Anne jetzt doch ablehnen, fürchtet sie doch die Intrigen ihrer Rivalin, und auch Fredrick, der natürlich hinfahren will und deshalb Geschäfte mt Désirées Mutter vorschützt, kann sie nicht überreden. Damit setzt ein kontinuierlicher, mehrstimmiger Wechselgesang ein, in dessen Verlauf es Charlotte, die ihrem Mann die Information steckt, gelingt, alle Beteiligten, also auch die Nichtgeladenen, an diesem Wochenende zu versammeln. Graf Carl-Magnus will die Gelegenheit nutzen, seinen Rivalen zu einem Duell zu provozieren und schenkt seiner Frau dieses Wochenende zum Geburtstag. Charlotte überredet daraufhin Anne, die Chance nicht zu verpassen, als junge Schönheit neben der verwelkenden Désirée zu glänzen, und alle machen sich ans Packen.


    All das wird in kurzen Sätzen zu einer funkelnden Melodie und in einem mitreißenden Rhythmus vorgetragen und mit Kontrapunkt, kurz eingestreuten Dialogsätzen und sogar fugierten Teilen zu einem herrlichen Nonett entwickelt, zu dem sich am Schluss auch noch das bekannte Quintett hinzu gesellt. Vor allem aber begeistert, dass das Ganze, das in sich schon eine Mini-Oper darstellt, deren musikalischer Duktus nicht von ungefähr mit Liszts "Mephisto-Walzer" verglichen wurde, sich auch noch völlig natürlich anhört. Für mich ist dieses Ensemble eine der ganz großen Leistungen des Musiktheaters überhaupt und in seiner geschickten Verknüpfung von Text und Musik durchaus mit dem ersten Finale von Mozarts NOZZE DI FIGARO zu vergleichen. Mir ist durchaus bewusst, wie hoch dieser Anspruch greift, aber genau an diesem Punkt treffen sich die Komponisten der beiden "kleinen Nachtmusiken", die sonst kaum etwas miteinander zu tun haben, als dass sie zu den größten Komponisten ihrer Zeit gehören.


    Wer dieses Enemble in der vorzüglichen Aufführung der New York City Opera ansehen und -hören möchte, kann das in diesem - optisch leider sehr schwachen - Ausschnitt auf Youtube tun: http://de.youtube.com/watch?v=bZutBlUXUDI&feature=related


    Dort gibt es übrigens aus diesem Musical noch zahlreiche weitere Beispiele, die man notfalls als Bild- und Tonträger zu diesem virtuellen Beiheft nutzen kann.


    Damit unterbreche ich erst einmal die Vorstellung dieses meisterhaften Musicals um Euch Gelegenheit zu geben, es erst einmal kennen zu lernen und ggf. das Bisherige zu kommentieren. Ich hoffe, Euch meine Begeisterung vermittelt und zu einer eigenen Beschäftigung schon hinreichend Anlass gegeben zu haben. Die Vorstellung des zweiten Aktes, der eine sehr gute Abrundung, aber nur in einem Punkt noch eine Steigerung des Bisherigen bringen wird, nämlich der Popularität von Sondheims erfolgreichster Nummer, "Send in the Clowns", folgt (hoffentlich) in Kürze. Erst aber rufen andere Aufgaben.


    :hello: Jacques Rideamusical

  • In Vorbereitung zu der Diskussion des größten Hits der Show empfehle ich, sich einmal diese legendaär besetzten Versionen auf Youtube anzusehen und zu -hören, und zwar möglichst in dieser Rehenfolge (die katastrophal desinteressierte, langweilige Darbietung Elizabeth Taylors, die allenfalls illustriert, wie stark das Lied selbst ist, kann man übergehen):


    Als Grundlage natürlich die Fassung von Glynis Johns, die das Lied und das Schlussduett, in dem es aufgegriffen wird, zusammen mit dem brillianten Len Cariou als Erste am Broadway gesungen hat und dieser viel späteren Konzertaufnahme sowohl demonstriert, warum Sondheim mit einer so einfachen Melodie auskommen musste, als auch, wie ergreifend diese simple Klage sein kann, von der niemand, am wenigsten Sondheim selbst, erwartet hätte, dass ausgerechnet diese Ballade sein größter Hit werden würde.


    Cleo Laine, deren achtbare Darbietung durch eine süßlich streicherbetonte Orchestrierung ruiniert wird,
    Shirley Bassey, die daraus gutes Easy Listening ohne große Rücksicht auf den Text macht,
    Judy Collins, ebenfalls gutes Easy Listening, mit Rücksicht auf den Text, aber begrenzter Darstellung,
    Angela Lansbury, Sondheims vielleicht liebste Darstellerin der Désirée
    Glenn Close, die das Lied auf ihre Art fast so gut singt wie
    Barbra Streisand, die es rein gesangstechnisch und stimmlich am besten macht, deswegen aber auch um der Virtuosität willen immer wieder gegen Details des Textes ansingt, und dann:


    Ruthie Henshall, die das Lied wirklich singt und trotzdem auch überzeugend "spielt", und deshalb meine "Silbermedaille" bekommt. Die Goldmedaille aber gebührt meines Erachtens


    Dame Judy Dench, die eigentlich gar nicht erst vorab erklären müsste, worum es in diesem Lied geht, das ja der Reflex eines gebrochenen Herzens ist, aber selten so gesungen wird. Mag sie vielleicht sogar ein bisschen zu weit gehen, es ist eine fantastische Darbietung der Essenz des Liedes ohne nennenswerten Verlust seines musikalischen Wertes.


    Diese überschaubare Übung ist übrigens ein Lehrstück auch ganz ohne Bezug zu dem Musical, von dem wir hier reden, daher biete ich sie hier als Internezzo an. Man kann alle Stücke auf YouTube durch Eingabe des jeweiligen Namens in Verbindung mit "Clowns" abrufen - die meisten bekommt man sogar gleich als Alternativvorschläge geboten.


    Wer dann ein Gegengift zum Lachen benötigt, sehe sich diese herrliche Satire des Liedchens "16 going on 17" aus Richard Rodgers THE SOUND OF MUSIC, ebenfalls mit Judy Dench, an:
    http://de.youtube.com/watch?v=iAMxZulUMaU&feature=related


    Ganz nebenbei ist das auch eine hübsche Illustration der Welten, die zwischen Sondheim und den Musicals seines Mentors Oscar Hammerstein II liegen.


    :hello: Jacques Rideamusical

  • Hallo Jack,


    eine Darstellerin der Desiree möchte ich noch ergänzen:


    Jean Simmons (die ja schon mal eine andere Desiree gespielt hat)


    Es ist der Original London Cast von 1975 u.a. mit Joss Ackland und Hermione Gingold. Ich war überrascht, was für eine dunkle, sinnliche und bemerkenswerte Stimme sie hatte. Es war mehr Sprechgesang aber sehr, ich möchte schon sagen, charismatisch. Die konnte natürlich auch spielen und war bestimmt ein Ereignis auf der Bühne.


    Zum ersten Mal bin ich mit dem Song gesungen von Howard Keel in Berührung gekommen und das ist immer noch meine liebste Fassung.


    Schönen Gruß aus München


    Kristin

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Irgendwo auf Youtube schwirrt auch eine Sondheim-Masterclass herum, die moechte ich auch ganz dringend ans Herz legen, um zu verstehen, wie der Komponist selbst sich das Ganze vorstellt (uebrigens nicht nur Send in the Clowns, auch ein gutes Lehrstueck zu Sweeney Todd ;)).


    Ich bin selbst eine grosse Bewunderin von Ruthie Henshall, obwohl ihr Gesang manchmal etwas scharf und durch die Zaehne gesungen anmutet. Ich habe sie aber selbst schon zweimal live erleben duerfen und muss sagen, dass sie fuer mich der Prototyp einer Musicaldarstellerin ist, wie sie sein sollte, denn sie hat ein voellig gleichmaessiges Talent in den drei wesentlichen Sparten und ist immer ueberzeugend (fuer mich). Und obwohl sie als Desiree fast etwas zu jugendlich rueberkommt (Fluch der guten Gene, sie ist auch schon ueber 40 ;) ), wuerde ich sie selbst noch Judi Dench vorziehen. Aber das ist Geschmackssache ...

  • Liebe Kristin, liebe Eponine,


    schön, dass Ihr Euch hier beteiligt und ich diese große Nachtmusik nicht bis zu Ende monologisieren muss.


    Die Aufnahme mit Jean Simmons war sogar meine allererste, damals noch auf einer Musikkassette, die ich erst wieder ausgraben muss, bevor ich, was ich zum Schluss natürlich auch vorhabe, auf die einzelnen Einspielungen und Mitschnitte eingehe. Leider gibt es m. W. keine Bildaufzeichnung mit ihr, was ich auch unendlich schade finde, denn sie hat in der Tat nicht nur neben Marlon Brando als eine ganz andere Désirée brilliert, sondern auch ihre New Yorker Rivalin Glynis Johns, die ich dennoch wegen ihres humorigen Fundaments sehr schätze, ausgestochen. Die hatte allerdings mit Len Cariou den besseren Partner.


    Was den Vergleich zwischen Judy Dench und der von mir ebenfalls sehr geschätzten Ruthie Henshall angeht, liebe Eponine, der ja, wie wir anscheinend beide finden, auf höchstem Niveau anzustellen ist, so ist das in der Tat Geschmackssache, und ich bin ganz Deiner Meinung, dass Henshall das Stück deutlich besser singt. Judy Dench, die ja auch in anderen Musicals brillierte, etwa als Frl. Schneider in einer Londoner Inszenierung von CABARET, gebe ich deshalb den Vorzug, weil sie mehr als jede andere die erschütternde Dimension des Liedes heraus arbeitet, auch wenn sie dabei, zugegeben, zum Schluss etwas übertreibt, trotzdem aber grandios bleibt.


    Der Workshop mit Stephen Sondheim ist in der Tat noch leicht bei YouTube zu finden, und zwar, wenn man dort die Kombination "Sondheim" und "teaches" eingibt. Die verschiedenen Beispiele darin anzuklicken, sollte für jeden Pflichtaufgabe sein, der sich für Sondheim im allgemeinen und dieses Musical im Besonderen interessiert und des Englischen halbwegs mächtig ist. Es gibt kaum eine bessere Illustration dafür, wie sorgfältig und bewusst Sondheim seiner Worte wählt und diese interpretiert werden sollten. Bei YouTube findet man übrigens auch seine Erläuterungen zur Entstehung dieser Nummer, die er in einem Pauseninterview der Übertragung von der New York City Opera gab, von der bereits die Rede war.


    Ein Kapitel für sich sind in der Tat die Coverversionen des Liedes durch Sänger. Der erste, der mit seiner Version auch erheblich zu dessen Popularisierung beitrug, war m. W. Frank Sinatra. Die Version mit Howard Keel kenne ich nicht, könnte ich mir aber eher stimmprächtig gesungen als differenzierend vorgetragen vorstellen. Ich habe aber ohenhin einige Probleme damit, dieses Lied von einem Mann gesungen zu hören, denn die von Sondheim sehr sensibel erfasste Gefühlswelt, die ihm zugrunde liegt, ist eben doch sehr die einer Frau, genauer gesagt, einer in ihrem Selbstbewusstsein erschütterten Diva, und ist im Grunde das exakte Gegenstück zu dem auf einer ähnlich melancholischen Résüméstimmung basierenden "My Way" ("Comme d'habitude" ) von Claude Francois bzw. Paul Anka, das ich mir wiederum, ähnlich wie Kurt Weills ähnlich gelagerten SEPTEMBER SONG, kaum von einer Frau überzeugend vorstellen kann, auch wenn sie es noch so gut interpretiert.


    Das führt zwar jetzt OT, gäbe aber einen gut in das Musicalforum passenden Parallelthread zum Thema "Frauenlieder-Männerlieder". Vielleicht hat ja mal jemand Lust darauf, eine Vertiefung dieses Themas in einem eigenen Thread anzustoßen.


    :hello: Jack Rideamusical

  • Hallo Jack,


    also die Aufnahme des Liedes mit Judi Dench muß ich mir irgendwie besorgen, denn ich kann mir vorstellen, daß sie wohl auch einzigartig ist. Ich mag sie ja auch sehr als Schauspielerin.


    Habe heute mal wieder hineingehört in die Jean Simmons-Version, grandios kann ich nur sagen, wenn Du sie nur hören könntest.


    Was Howard Keel anbetrifft, hast Du den Nagel auf den Kopf getroffen, genauso ist sie, stimmprächtig, Aber es war auch das erste Mal, daß ich den Song hörte und mit dem ersten Mal ist es manchmal so eine Sache.


    Aber wie Du richtig meinst, in der Tat ist es eher kein Lied für einen Mann, es überzeugt mehr wenn es von einer Frau vorgetragen wird - ich sage bewußt vorgetragen, nicht gesungen. Denn eine große Singstimme brauche ich da nicht unbedingt. Bei vielen Songs kommt es gar nicht so auf die Schönheit der Stimme an, auf einem ganz anderen Gebiet kenne ich viele Lieder von Bob Dylan, die andere schöner singen, er kann es ja nicht richtig, finde ich. Aber wenn ich ihn höre, wow. (das war jetzt nur ein kleiner Schlenkerer)

  • Leider gibt es die Aufnahme des Royal National Theatres mit Judi Dench derzeit nur zu Wucherpreisen für Sammler, da sie nicht mehr auf dem Markt ist:



    Und das sogar nur auf cd. Ich fürchte, wir Normalsterbliche müssen uns also mit dem clip auf You Tube begnügen, bis irgendwann irgendjemand die offensichtlich existente DVD-Aufzeichnung der Aufführung der Öffentlichkeit zugänglich macht.


    Die Aufnahme mit Jean Simmons dagegen werde ich sicher demnächst wieder hören können. Ich muss halt nur die Kassette aus der Einlagerung fischen.


    Deinen Hinweis, dass es wichtiger ist, dass manche Musiken, zumal aus dem Musicalrepertoire, eher gut interpretiert als gut gesungen werden, kann ich nur unterstrechen. Das wird übrigens bei den YouTube-Clips mit Sondheim selbst besonders gut deutlich, und einer der Kommentare dazu trifft den Nagel auf den Kopf:

    "This is what jazz players mean when they say 'know the lyrics': understand them - find the fine shading."


    :hello: Jack Rideamusical

  • Zitat

    Original von Jacques Rideamus
    Deinen Hinweis, dass es wichtiger ist, dass manche Musiken, zumal aus dem Musicalrepertoire, eher gut interpretiert als gut gesungen werden, kann ich nur unterstrechen. Das wird übrigens bei den YouTube-Clips mit Sondheim selbst besonders gut deutlich, und einer der Kommentare dazu trifft den Nagel auf den Kopf:

    "This is what jazz players mean when they say 'know the lyrics': understand them - find the fine shading."


    ... und nicht umsonst fordert er ja sogar beispielsweise die Saengerin bei "(Not) Getting married today" auf, an Stellen zu atmen, die jedem klassisch ausgebildeten Saenger von der Phrasierung her voellig hinrissig vorkommen - mitten im Satz zu atmen muss man uns ja erst mal wieder muehsam beibringen ;)


    Es kommt eben wirklich nicht auf Schoengesang an, wobei es natuerlich schon eine Schmerzgrenze gibt :untertauch:

  • Hallo nochmals,


    jetzt hab ich mir gerade die Judi Dench angesehen und -gehört. Phantastisch, genauso gehört es vorgetragen.


    Trotzdem, über alles liebe ich die Jean Simmons-Version (neben dem Keel, aber das ist "außer Konkurrenz").


    Ich freue mich so, daß ich die London-Version von 1975 habe. Das sind so meine Musical-Schätze.


    LG


    Kristin

  • Zitat

    Original von Eponine
    ... und nicht umsonst fordert er ja sogar beispielsweise die Saengerin bei " (Not) Getting married today" auf, an Stellen zu atmen, die jedem klassisch ausgebildeten Saenger von der Phrasierung her voellig hinrissig vorkommen - mitten im Satz zu atmen muss man uns ja erst mal wieder muehsam beibringen ;)


    Es kommt eben wirklich nicht auf Schoengesang an, wobei es natuerlich schon eine Schmerzgrenze gibt


    Die Schmerzgrenzen werden in diesen Clips ja durchaus auch erreicht und überschritten. Gerade die von Dir angemerkte Passage ist aber auch extrem schwierig, und ich frage mich immer, wann die Amy überhaupt ans Atmen denken kann, wenn sie sich zugleich auf die bei aller Sprachrasanz zusätzlich geforderte, klare Aussprache konzentrieren müssen.


    Zu Deiner letzten, völlig richtigen Feststellung findet sich in den Kommentaren von YouTube ebenfalls ein interessanter Satz:


    "If you really know anything about Sondheim, you'll know he cares more about the lyric and the meanings. He thinks that if it sounds too nice, it distracts the audience from listening to the lyrics."


    Diesen Hinweis, dass Sondheim oft gar nicht zum Einlullen schön klingen will, sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man seine Stücke aufführt und sieht. Das heißt aber beileibe nicht, dass die Musik unwichtig oder gar anspruchslos wäre. Gerade in dem finalen Ensemble des ersten Akts von A LITTLE NIGHT MUSIC sind die Anforderungen an die Musikalität der Singschauspieler enorm. Dazu kommen noch die unbedingt erforderliche Textverständlichkeit und der pointierte Vortrag. Sie alle müssen sitzen, wenn die Nummer - und Sondheims Musik überhaupt - richtig ankommen sollen.


    Mehr dazu später, wenn es um die Einspielungen und Aufführungen geht, denn da haben wir in Deutschland offenbar größere Ausbildungsprobleme. Nicht von ungefähr ist es fast immer die alte Madame Armfeldt, die von Schauspielerinnen gegeben wird, die noch in einer anderen Tradition gereift sind, die bei uns besonders gut und verständlich über die Rampe kommt.


    :hello: Jack Rideamusical

  • Lieber Rideamus,


    ist "the weekend in the country" der derzeitigen unstabilen Witterung zum Opfer gefallen oder möchtest Du mit der Vorstellung bis zur Mittsommernacht warten? Ich warte sehnsüchtig auf die Fortsetzung und stehe mit diesem Wunsch bestimmt nicht alleine da. Deine Vorstellung des ersten Aktes benutze ich übrigens als Librettoersatz. Ich habe sie mir ausgedruckt. Es sind - man höre und staune - 7 DIN A 4 Seiten. Großes Kompliment !!!


    Ich besitze nur eine DVD der New York City Opera Produktion von 1990. Eine ganz bezaubernde Inszenierung.


    Zu Send in the Clowns kann ich nur sagen, dass ich - nachdem ich mir die Interpretinnen auf Youtube angehört habe - dies eigentlich nur noch von Judy Dench hören möchte. Einmalig ihr Vortrag.


    LG


    Emotione

  • Liebe Emotione,


    es freut mich, dass Dir meine Erläuterungen bisher gefallen haben, und natürlich werde ich auch noch den zweiten Akt vorstellen, und zwar noch vor der nächsten Sommersonnenwende - versprochen.


    Wie Du aber selbst sehr richtig ausführst, war das bisher schon sehr viel Text und entsprechend viel Arbeit. Deswegen wollte und musste ich, auch wegen anderer Arbeiten, und damit ich hier nicht nur mit einem Musical präsent bleibe, eine Pause machen.


    Zu "Send in the Clowns" solltest Du Dir aber gelegentlich schon auch die anderen Clips anschauen. Vor allem Ruthie Henshall, die das Lied wirklich singt UND gut darstellt, sollte man kennen. Ich finde sie sogar besser als Sallie Ann Howes in der - in der Tat vorzüglichen - Aufführung der New York City Opera.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Lieber Rideamus,


    dann bin ich ja beruhigt, dass die Fortsetzung noch folgt.


    Natürlich habe ich mir alle Interpretinnen auf Youtube angehört. Angefangen von der Fehlbesetzung Elisabeth Taylor über Barbra Streisand, die m.E. am Text vorbei singt. Die Interpretation von Sally Ann Howes fand ich bisher auch gut, bis ich eben Judy Dench hörte. Da konnte ich nur für mich persönlich die Schlussfolgerung ziehen, dass ich sie allen Anderen vorziehe.


    LG


    Emotione

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Eine auffällige Konstante (vor allem) des zweiaktigen Musiktheaters, egal welcher Gattung, ist das Phänomen, dass die letzten Akte musikalisch fast immer erheblich weniger zu bieten haben als der erste. Das muss nicht unbedngt daran liegen, dass der Komponist sein Pulver schon zu Beginn verschossen hat und ihm nichts Neues mehr einfiel. Oft hat es damit zu tun, dass die meisten Personen bereits ihre eigenen Vorstellungscouplets oder -arien hatten, dass man sich auf das zeitraubende Vorantreiben und Auflösen der Handlung konzentrieren muss oder, ganz banal, dass man Erfolgsnummern des ersten Teils wieder aufgreifen und im Gedächtnis des Zuschauers verankern möchte.


    A LITTLE NIGHT MUSIC macht da keine Ausnahme, aber gerade was das Aufgreifen einer Erfolgsnummer betrifft, leistet sich Sondheim auch hier eine seltene Eigenheit, wie wir noch sehen werden. Außerdem fehlt noch eine wichtige Person, deren Bedeutung wir bislang unterschätzt haben. Zunächst aber beginnt


    Der zweite Akt


    wieder mit einer Einstimmung durch das Quintett, das diesmal zu der bereits bekannten Melodie des "Night Waltz" die irritierend irisierenden Risiken und Nebenwirkungen der Mittsommernacht kommentiert, während die Gäste eintreffen und jeder, immer wieder unterbrochen durch Kommentare des Quintetts, die dem Wort Verfremdungseffekt eine völlig neue und höchst musikalische Bedeutung geben, auf seine Weise das überraschende Auftauchen von Carl-Magnus und Charlotte zu verarbeiten sucht. Die Ökonomie dieser Sequenz ist hinreißend.


    The Sun Won't Set / Die Sonne bleibt


    In den Auflösungen zu dem Rätsel, das den Anstoß zu dieser Analyse gab, habe ich ja schon diesen herrlichen Binnenreim zitiert:


    Perpetual sunset is
    Rather an unsettling thing"


    (Das Licht geht nicht schlafen,
    Da schwindet selbst Braven der Sinn)


    Nachdem Désirée Anne kennen gelernt hat und Fredrik daraufhin süffisant IHR Kind (und diesem damit erstmals und noch ohne dessen Wissen seine Tochter) vorgestellt hat und weitere spitze Bemerkungen ausgetauscht wurden, ist der Ablauf des allgemeinen Diners vorbestimmt und begründet. Henrik gesteht Frederica seine Liebe zu seiner Stiefmutter Anne, Charlotte macht sich an Fredrik heran, Carl-Magnus wird eifersüchtig. Beide Männer wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht oder stehen sollte. Das Resultat ist ein ergötzlich-besinnliches Duett:


    Fortsetzung folgt

  • It Would Have Been Wonderful


    Jeder für sich, überlegen beide Männer, wie schön das Wochenende und überhaupt das Leben sein könnte, wenn Désirée nur weniger perfekt wäre. Das Resultat ist eines der schrägsten Liebeslieder, das ich kenne, und sicher das einzige dieser Art, das je für zwei Männer geschrieben wurde. Sie beginnen mit je zwei Strophen, die sich dann ineinander flechten, so dass die Männer in voller Übereinstimmung ihre jeweiligen Sätze ergänzen.


    If she'd only been faded,
    If she'd only been fat
    If she'd only been jaded
    And bursting with chat.
    If she'd only been perfectly awful
    It would have been wonderful.
    If... If...
    ...
    But the woman was perfection
    To my deepest dismay
    Well, not quite perfection
    I'm sorry to say.
    If the woman were perfection
    She would go away
    And that would be wonderful.


    (Wär' sie bloß nur zu mager,
    Wär' sie wenigstens fett,
    Wär' sie hochnäsig, eitel
    Und schwätzte im Bett
    Wär' sie vollkommen schrecklich und dumm nur,
    Wie wäre das wundervoll.
    Wär... Wär...


    Doch die Frau war ganz vollkommen
    So leid es mir tat
    Nun, nicht ganz vollkommen,
    Nur in ihrer Art.
    Wär' sie wirklich vollkommen,
    Hätt' sie sich mir erspart!
    Und das wäre wundervoll.)


    Der anschließende Versuch beider Männer, Désirée dazu zu bewegen, sie später in ihr Schlafzimmer zu lassen, wird durch die Ankündigung des Abendessens unterbrochen. Dem folgt eine außergewöhnliche und ungewöhnlich kurze Nummer von fast höfischem Charakter, in dem das Quintett in einer Fuge die beständige Erwartung aller Anwesenden besingt: Perpetual Anticipation.


    Während des anschließenden Essens entwickelt sich, teilweise begleitet von Sondheims vergifteten Walzerklängen, eine Diskussion mit bissigen Wortgefechten auf höchstem Marivauxschem Niveau (man sollte den Buchautor eines Musicals, hier Hugh Wheeler, nie unterschätzen), bis schließlich Henrik der Kragen platzt und er nach einer Schimpftirade auf die verrotteten Erwachsenen aus dem Raum stürmt. Betroffen will Anne ihm hinterher laufen, aber zum letzten Mal gehorcht sie von ihrem Mann und lässt es. Sie ist aber wahrscheinlich die Einzige, die die Bedeutung ihrer Spontanreaktion nicht erkennt. Selbst Frederica ist da verständnisvoller und tut später das ihre um die beiden jungen Liebenden zusammen zu bringen.


    Damit ist die Szene für eine Variante über die konstanten Missverständnisse gegeben, wie wir sie schon aus Shakespeares Sommernachtstraum kennen, und wie dort die verschiedenen Stände verwirrt werden, so sind es hier die verschiedenen Generationen - weshalb es auch keinen Puck braucht, nur den besonderen Wein, der Madame Armfeldt aus den Beständen ihrer früheren Liebhaber kredenzt hat.


    Zunächst gibt das Fleisch dort nach, wo es den geringsten geistigen Widerstand zu überwinden hat, bei dem Butler Madame Armfeldts und dem Dienstmädchen Petra. Es folgen Fredrik und Désirée, die sich so ausgelassen ihrer früheren Abenteuer erinnern, dass Désirée es wagt, ihr eigentliches Anliegen vorzubringen, nämlich Fredrik zu fragen, ob er sich nach all dem, was sie schon zusammen mitgemacht haben, nicht doch ein gemeinsames Leben vorstellen kann. Damit ist der Moment erreicht, an dem das Musical - eher zufällig - seinen größten Erfolg hervor brachte.


    Fortsetzung folgt.

  • Send in the Clowns


    Nun kommt der Augenblick, an dem auch Désirée, wie zuvor schon die übrigen (ausgenommen Frederica und Madame Armfeld) ihren Status verkennt. Sie versucht Frederick davon zu überzeugen, sich von seiner viel zu jungen Frau zu trennen und mit ihr zusammen zu leben, aber dieser weist sie zurück. Er ist entgegen aller Vernunft noch immer von seiner jungen Frau bezaubert. Désirées künstliches Selbstbild von der unwiderstehlichen Frau von Welt bricht zusammen, und sie kann sich nur noch in die Theater- und Zirkuskonvention flüchten. Wenn es eine Panne gibt, schickt die Clowns auf die Bühne.


    Isn't it rich?
    Are we a pair?
    Me here at last on the ground
    You in mid-air.
    Send in the clowns
    Send in the clowns.
    ...


    Was sind wir nicht
    Doch für ein Paar?
    Ich bin im heute, und du
    Siehst nicht mal klar.
    Her mit den Clowns,
    Her mit den Clowns.


    Nur mühsam behält sie die Fassung und bricht dennoch mitten im Lied aus dem Rhythmus aus, weil das, was aus ihr herausdrängt, sich einfach nicht in das starre Korsett eines schlichten Liedes pressen lässt


    Just when I stopped
    Opening doors
    Finally knowing the one that I wanted was yours
    Making my entrance again
    With my usual flair
    Sure of my lines...
    No one was there


    Kaum weiß ich selbst:
    Nur eine Tür
    Will ich noch öffnen, denn ich weiß, sie führt mich zu dir.
    Ich trete auf wie gewohnt
    Mit viel Pomp und Trara,
    Sicher im Text...
    Niemand ist da.
    ...


    Hilflos entschuldigt sich Frederick und geht ab. Erst da verliert Désirée endgültig die Fassung und fängt sich nur mühsam wieder ein.


    Isn't it rich?
    Isn't it queer?
    Losing my timing this late
    In my career!
    And where are the clowns?
    There ought to be clowns!
    Well, may be next year.


    Was bin ich nicht?
    Sicher kein Star.
    Ist doch mein Timing so schlecht
    Wie es so niemals war.
    Wo sind denn die Clowns?
    Wann kommen die Clowns!
    Vielleicht... nächstes Jahr?


    Dieses populärste Lied Sondheims, zugleich eines der langsamsten, die er jemals schrieb, wird wegen seiner Melancholie und seiner schlichten Melodie gerne auf bloße Klangschönheit hin gesungen, auch von der sonst durchaus überzeugenden Sally Ann Howes in der Aufführung der New Yorker Oper. Wer aber, wie weiter oben schon angesprochen, dieses Lied in einer der Situation angemessenen Interpretation (etwa von Judi Dench) hört, spürt, dass hier ganz plötzlich - wie zuvor schon bei Ingmar Bergman - die persönliche Tragödie in die Salonfarce eingebrochen ist, nach der nichts mehr so sein kann, wie es zuvor war. Auch Désirée ist entzaubert und fürchtet ein ähnliches Schicksal wie ihre alte Mutter.


    Fortsetzung folgt


    :hello: Jacques Rideamus

  • Zunächst scheint der Stimmungsumschlag direkt auf eine tödliche Tragödie hinaus zu laufen, denn Henrik versucht sich allen Ernstes aufzuhängen. Wie einst Papagena zu Papageno, kommt aber Anne noch rechtzeitig hinzu. Zunächst verspottet sie ihn ob seines lächerlichen Tuns, dann aber realisiert sie die Ernsthaftigkeit seiner Verliebtheit - und endlich auch, wem ihre eigene in Wahrheit gilt. Beide verlassen Frederick und die Gesellschaft, die für ihren Erkenntnisstand schon viel zu zynisch geworden ist. Die Mitternachtssonne hat zum ersten Mal für die Jungen und Unerfahrenen gelächelt.


    The Miller's Son


    Spätestens seit Molière und Shakespeare ist es am Theater üblich, dass die egozentrischen Spiele der großen Welt auch einmal mit der Perspektive eines Mitglieds der niederen Stände konfrontiert werden. Bei Sondheim werden diese von der Magd Petra vertreten, die gerade mit Madame Armfelds Butler geschlafen hat - bzw. eben nicht, denn der ist gerade erst erschöpft auf ihrem Schoß eingeschlafen. Ganz im schlichten Ton eines Shakespearschen Liedes, malt sie sich ihre eigene Zukunft aus und stellt sich vor, den Sohn eines reichen Müllers zu heiraten:


    I shall marry the miller's son,
    Pin my hat on a nice piece of property.
    Friday nights, for a bit of fun,
    We'll go dancing.
    Meanwhile...


    Ich heirate des Müllers Sohn
    Häng' meinen Hut an ein reichliches Gut
    Freitag nachts kriege ich meinen Lohn
    Wir geh'n tanzen.
    Doch bis dahin...


    Nun folgt ein für Sondheim typisches, virtuoses Textfeuerwerk, das einem die Sprache verschlägt und der ansonsten eher unterforderten Darstellerin der Petra alles an Zungenfertigkeit abverlangt, was ihr Können und Training irgend hergeben. Eigentlich ist das Stück mit seinem hochmodernen, eher an Sondheims COMPANY als an eine Kostümkomödie erinnernden Tonfall ein kompletter Stilbruch, der zudem einen weiteren in sich selbst enthält, wenn er ohne jede Brücke von der Einleitung im Renaissance-Stil zu Kurt Weill und dem hektischen Parlando der New Yorker Welt von COMPANY umsteigt, und das gleich dreimal. Leider kann ich aus Copyrightgründen hier nur die erste Variation zitieren, die danach immer neu - und immer virtuoser - variiert wird:
    ...
    In the meanwhile
    It's a wink and a wiggle and a giggle in the grass
    And I'll trip the light fandango,
    A pinch and a diddle in the middle of what passes by.
    It's a very short road
    From the pinch and the punch
    To the paunch and the pouch
    And the pension.
    It's a very short road
    To the ten thousandth lunch
    And the belch and the grouch
    And the sigh.
    In the meanwhile,
    There are mouths to be kissed
    Before mouths to be fed,
    And a lot in between
    In the meanwhile.
    And a girl ought to celebrate what passes by.


    Or I shall marry the Prince of Wales...


    Doch bis dahin
    Gibt's ein Lüften meiner Hüften und ein Kichern tief im Heu
    Und ich stolpere im Fandango
    Und ein Kuss und was muss bei der Lust, die da geschieht
    S'ist ein winziger Schritt
    Von dem Zwick zu 'nem Flick,
    Von dem Brauch zu 'nem Bauch
    Und den Gören.
    S'ist ein ganz kurzer Weg
    Zu dem tausendsten Mahl
    Und dem Rülps und dem Raunz
    Und dem Stören.
    Und bis dahin
    Gibt es Mäuler zum Küssen
    Bevor man sie stopft
    Und dazwischen noch viel.
    Doch bis dahin
    Muss ein Mädchen sich freuen an dem was da kommt


    Oder ich heirat' den Prince of Wales...


    Wer sich für den vollständigen Text interessert, findet ihn hier: http://www.allmusicals.com/lyr…htmusic/themillersson.htm


    Nun wird es an der Zeit, das Stück zum Höhepunkt und Ende zu führen. Immer wieder kommentiert von dem Quintett, das kurze Zitate früherer Nummern ansingt, gelingt es Charlotte, Frederick in ein Gespräch zu verwickeln und ihren Ehemann Carl-Magnus eifersüchtig zu machen, während dieser sich, Désirées Proteste nicht achtend, in ihrem Schlafzimmer entkleidet und dabei seine Frau mit seinem Rivalen beobachtet. Er fordert Frederick zum Duell in Form eines russischen Roulettes heraus, bei dem dieser verliert, allerdings mitr der Pistole dermaßen zittert, dass er sich nur am Ohr verletzt.


    Nachdem Frederick so seine Frau und seine Selbstachtung verloren hat, ist er endlich in der Lage einzusehen, dass Désirées Angebot doch das beste ist, was ihm noch passieren kann. Beide nehmen also das Lied von den Clowns auf, nunmehr im perfekten Duett:


    Désirée: Was that a farce?
    Frederick: My fault, I fear
    D: Me on a merry-go-round
    F: Me as King Lear
    ...
    F: Make way for the clowns
    D: Applause for the clowns
    Beide: They're finally here


    D: Welch eine Farce.
    F: Die kam von mir.
    D: Ich spielte nur Blinde Kuh
    F: Ich den King Lear
    ...
    F: Macht Platz für die Clowns!
    D: Applaus für die Clowns!
    Beide: Sie sind endlich hier.


    Nun hat die Mitternachtssonne ein zweites Mal gelächelt, und diesmal besonders breit für die Narren, erläutert Madame Armfeld ihrer Enkelin Frederica. Danach möchte sie abwarten, wie die Sonne ein drittes Mal für die Alten und Erfahrenen lächelt, und tatsächlich tut sie das. Unter den Klängen des Sommernachtswalzers wird Madame Armfeld von einem für sie selbst schon zu langen Leben erlöst.


    ENDE

  • Als ich meine obrige Darstellung der verchiedenen Clowns - Interpretinnen schrieb, war eine Nummer entweder noch nicht da oder von mir übersehen worden. Das ist insofern bedauerlich, als sie zu den besten überhaupt gehört.


    Damit der Hinweis auf diesen superben Vortrag auch an der passenden Stelle aufzufinden ist, sei die Information darüber aus dem Rätselthread über die unglücklichen Ehen hier aufgegriffen:


    Die Sängerin ist Patricia Petibon, die sich gerne als Clown stilisiert, aber dennoch in dem komisch-melancholischen Repertoire viel zu selten zu hören ist, und was das Schönste ist: man kann es sogar kostenlos hören, nämlich hier:
    "http://www.youtube.com/watch?v=1AyMaRzL-2Q&feature=related"


    Für die Frau und das Stück kann man gar nicht genug Reklame machen. :yes:


    :hello: Jacques Rideamus

  • Zitat

    Original von Jacques Rideamus
    Als ich meine obrige Darstellung der verchiedenen Clowns - Interpretinnen schrieb, war eine Nummer entweder noch nicht da oder von mir übersehen worden. Das ist insofern bedauerlich, als sie zu den besten überhaupt gehört.


    Die Sängerin ist Patricia Petibon, die sich gerne als Clown stilisiert, aber dennoch in dem komisch-melancholischen Repertoire viel zu selten zu hören ist, und was das Schönste ist: man kann es sogar kostenlos hören, nämlich hier:
    "http://www.youtube.com/watch?v=1AyMaRzL-2Q&feature=related"


    Für die Frau und das Stück kann man gar nicht genug Reklame machen. :yes:


    Lieber Jacques!


    Als ich vor Zeiten das "Send in the Clowns"-Youtube-Vergleichshören nachvollzog (wobei ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich tatsächlich alle angehört habe, aber sicherlich eine große Auswahl), sind mir an Patricia Petibons Interpretation im Vergleich zu den anderen vor allem zwei Dinge positiv aufgefallen: Erstens ist sie die einzige, die im Mittelteil, über den du treffend gesagt hast, dass in ihm gleichermaßen der Inhalt aus der musikalischen Form ausbricht, den Ausdruck intensiviert statt - zu Unrecht! - verringert; zweitens ist sie jene Interpretin, die am ehesten Gesang und Ausdruck vereint.


    Dame Judi Dench, der ansonsten für ihre geniale Interpretation meine ungeteilte Bewunderung zukommt und die man unbedingt gesehen und gehört haben sollte, muss sich gleichwohl in diesen Punkten vorwerfen lassen, dass sie wesentlich besser spielt als singt und ausgerechnet im Mittelteil versucht, "schön" auszusingen, was sie erstens nicht kann und zweitens gerade da nicht sollte.


    Liebe Grüße,
    Martin