Literarische Empfehlungen - was lese ich gerade

  • Nachdem ich mit etwas Verzögerung Gerard Reves brillianten, in seinem zwischen lakonisch und grell-obszön oszillierenden Duktus fesselnden und zugleich verstörenden Roman »Naher zu Dir« abgeschlossen habe, muß gleich noch ein zweiter hinterher:


    Gerard Reve: Die Abende. Eine Wintergeschichte [1947], Gifkendorf: Merlin 1988


    Mit Dank and den Flo für die Empfehlung!


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Ich lese gerade das dritte Buch meines Bruders Thomas de Padova.



    Nach


    Im Anfang war kein Mond


    und


    Die Kinderzimmerakademie
    (beide bei Piper)


    ist gerade(ebenfalls bei Piper) erschienen



    Wissenschaft im Strandkorb



    [amx=3492051022]300[/amx]



    Ich zitiere hier die offizielle Einleitung des Autors


    Warum ist das Meer blau? Warum haben Windräder drei Flügel? Warum laufen Wellen parallel zum Strand ein? Warum werden Stechmücken erst abends aktiv? Warum verlieren Socken ihren Partner? Warum hält sich der "Knutschfleck?


    Der Strandkorb ist eine Oase der Ruhe. Man klappt die Rückwand nach hinten, fährt die Fußstützen aus, macht es sich in der sturmfreien Bude bequem, liest, schläft, döst, Gedanken kommen und gehen, manchmal hebt die Phantasie zu abenteuerlichen Denkspiralen an. Abgeschirmt von Wind und Wetter und von seinen Mitmenschen, ist in dem kleinen Reihenhäuschen nur die unablässige Stimme des Meeres zu hören. Der Blick geht nicht nach rechts und nicht nach links. Im Strandkorb nimmt man nur einen kleinen, rechteckigen Ausschnitt der Wirklichkeit wahr. Man schaut in die Tiefe, auf einen offenen Horizont hinaus.


    Abgeschottet von vielen Problemen des Alltags, dürfen auch Forscherinnen und Forscher ihren Blick auf einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit lenken. Oft behalten sie, auf Entdeckungen hoffend, die einmal gewählte Perspektive über Jahre bei. Ihre voneinander separierten Institute und Fachbereiche sind Oasen der Ruhe und Inspiration. In dem einen Häuschen eine Spezialistin für Tauch- und Überdruckmedizin, dort lässt ein Windradingenieur seine Ideen kreisen, nebenan, schatzsuchend, eine Koryphäe für Perlaustern. Sie alle sind Experten in einem kleinen Wissensbereich und genau wie unsereins Laien, sobald sie einen ihrer Nachbarn besuchen.


    Das zunehmende Bewusstsein dafür, an den Stränden der Forschung nur eine kleine Kenntnisparzelle zu überblicken, hat die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler offener gemacht. Von ihrem einstigen Überlegenheitsgefühl ist nicht viel geblieben. Die meisten von ihnen reagieren aufgeschlossen und freuen sich sogar, wenn jemand auf sie zukommt und sich nach ihrem Interessensgebiet erkundigt. Sie antworten mit Begeisterung und Liebe zum Detail auf Fragen, bei denen unsereins ins Schwitzen kommt.


    Als Wissenschaftspublizist profitiere ich in besonderer Weise davon. In den vergangenen Jahren habe ich Hunderte Strandkörbe einen nach dem anderen abgeklappert. Immer wieder nehme ich erstaunt zur Kenntnis, womit sich all die Experten - manchmal auch ganz nebenbei - auseinandersetzen. Die wöchentliche Kolumne "Aha" auf den Wissenschaftsseiten des "Tagesspiegel" lebt von der Vielfalt ihrer Fach- und Spezialgebiete.


    Warum ist der Einstieg ins Wasser am Bauch so kalt? Warum kann man schneller segeln als der Wind? Warum spuckt der Taucher in die Brille? Warum sammeln sich Flusen im Bauchnabel? Warum haben wir zwei Nasenlöcher?



    Ganz abgesehen von meiner schwesterlichen Bewunderung und stolzgeschwellten Brust:
    Mir gefällt an sieenn bisherigen Büchern ganz besonders die Verbindung aus fachlich fundiertem Wissen und verständlicher , amüsanter Schreibe. Diese angelsächsische Tradtion der Wissenschaftspublizistik ist in Deutschland noch viel zu selten anzutreffen und erschliesst doch gerade auch einen interessierten "Laienpublikum" neue Gebiete .


    eine Leseprobe gibt es unter http://www.thomasdepadova./alltag.htm


    Auf das grosse Projekt für 2009 zum Thema Galileo und Kepler bin ich da als physikalischer Nichtschwimmer ganz besonders gespannt!


    Fairy Queen


  • Nett zu lesen, solange man nicht auf reine Wissenschaft aus ist. Man merkt, dass es dem Autor insbesondere am Unterhaltungswert liegt. Nicht verstehen kann ich die äußerst negativen Kritiken bei amazon. Wer solch ein Buch ließt möchte unterhalten werden, dies ist doch keine wissenschaftliche Fachliteratur.
    Wer das denkt´, meint wohl auch noch, die BILD sei eine Zeitung :baeh01: :untertauch:


    Das Forum ist "schuld":

    "Phantasie ist unser guter Genius oder unser Dämon."
    - Immanuel Kant (1724-1804)

  • Albrecht von Haller (1708-1777)


    Die Alpen (1729)


    "(...)
    Ein junger Schäfer stimmt indessen seine Leier,
    Dazu er ganz entzückt ein neues Liedgen singt,
    Natur und Liebe gießt in ihn ein heimlich Feuer,
    Das in den Adern glimmt und nie die Müh erzwingt;
    Die Kunst hat keinen Theil an seinen Hirten-Liedern,
    Im ungeschmückten Lied malt er den freien Sinn;
    Auch wann er dichten soll, bleibt er bei seinen Widern,
    Und seine Muse spricht wie seine Schäferin;
    Sein Lehrer ist sein Herz, sein Phöbus seine Schöne,
    Die Rührung macht den Vers und nicht gezählte Töne.
    (...)"


    :jubel:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Zitat

    Original von Heliaster


    Das Forum ist "schuld":


    :rolleyes:


    :hello: Wenn Du magst, dann schreib Deine Eindrücke im entsprechenden thread!


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Auf einen Rutsch wäre die Lektüre zu deprimierend geworden, deswegen habe ich sie mir eingeteilt und soeben abgeschlossen:


    Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr




    Ein höchst lehrreiches, aufwühlendes, zum Nachdenken anregendes Buch, zu dem ich sicher wieder zurückkehren werde:


    "Was diesen Menschen [Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck] von ihrer Umwelt unterschied, waren nicht nur ihr Denken und Leben, sondern auch die eigentümliche Spannung, die zwischen ihrem Denken, ihrem Wesen und ihrer Kultur bestand, sowie die Art und Weise, in der sich diese Spannung äußerte. In bezug auf sie lassen sich die herkömmlichen sozialen Kategorien nicht anwenden, denn sie waren Intellektuelle faute de mieux, Intellektuelle, der Arbeit vorwiegend vom Gefühl und nur ganz selten vom Verstand bestimmt war; sie waren Künstler ohne Talent zu schöpferischem Ausdruck, Propheten ohne Gott. Sie verkörperten und förderten, was sie bekämpfen und verhindern wollten: den kulturellen Zerfall und den Zusammenbruch der Ordnung im modernen Deutschland. Sie waren die Ankläger, aber unwissentlich auch ein Zeugnis dessen, was sie anklagten. Infolgedessen kämpften sie stets mit sich selbst, auch wenn sie gegen andere kämpften."


    Nur gut, dass der Künstler ohne Talent nicht zwangsläufig zur Gefahr für die Menschheit wird...


    Nachdenkliche Grüße aus der kunsthedonistischen Fankurve,
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Im Zuge der Verfüllung meiner zahlreichen Bildungslücken lese ich nun


    Giorgio Falco
    Geist des Mittelalters
    Kirche Kultur Staat


    Originaltitel: La santa repubblica romana
    Übersetzt von Dr. Verena Meier-Vetter


    Zürich: Fretz & Wasmuth, 1958


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • So, heute in einer groesseren (vietnamesische Tastatur!) Stadt und mal kurz am PC, seit zwei Wochen aber auf dem Land (Reisfeld) in Vietnam. Deshalb neben allen Eindruecken auch Ruhe und Zeit, so dass ich auch endlich mal wieder zum Lesen gekommen bin, allerdings keinen Ton Musik gehoert, was auch gut tut.


    Mitgenommen habe ich einige Romane von Theodor Fontane, gelesen in den letzten Tagen "L'Addultera" sowie "Irrungen, Wirrungen", momentan bin ich bei "Unwiderbringlich".


    Ich mag den Sprachstil Fontanes sehr gerne.


    Schoene Gruesse aus der Ferne,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

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  • Auf diese Empfehlung von Micha hatte ich mir schon vor einiger Zeit das Buch


    Kann der Partitur lesen? fragte Otto Klemperer. Erinnerungen eines Musikproduzenten


    von Suvi Raj Grubb


    besorgt - über die Feiertage kam ich endlich zum lesen. Sehr informativ, dabei aber immer persönlich, bescheiden und humorvoll geschrieben - ich mache mir Michas Empfehlung gerne zueigen!


    Antiquarisch ist das Buch immer mal wieder zu bekommen. (Leider aber derzeit kein Cover)




    Danach ein ganz weiter Schritt - das Wunderwerk des menschlichen Körpers gerade in Extremsituationen wird faszinierend dargelegt:


    Überleben in der Todeszone. Meine Grenzerfahrungen als Expeditionsarzt
    von Kenneth Kamler





    LG, Elisabeth

  • Hallo ThomasBernhard


    Zitat

    Jetzt aber erst mal schnell:


    Karl Böhm: Ich erinnere mich ganz genau.


    Diogenes Hardcover 1968, für 1 EUR bei ebay ersteigert, heute angekommen.


    Witzig: Vorgestern habe ich das Buch ebenfalls bei Ebay ersteigert - exakt zum gleichen Preis. Bei mir ist es aber kein Diogenes, sondern ein DTV-Taschenbuch.


    Grüße von Andrew

    „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik.“

  • Sogar in der Provinz ist diese Biografie erhältlich:


    Ich bin voller Neugierde angefangen mit diesem Buch:


    Peter Uehling:
    Karajan. Eine Biographie
    Rowohlt Taschenbuch Verlag, 04/2008



    Ich habe (bisher) nicht all zu viel Ahnung von der Materie. Mein Ersteindruck: Spannend und interessant geschrieben, die Urteile sind eher zurückhaltend ... Ich bin weiterhin gespannt :yes:


    grüße, Andrew

    „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik.“

  • Hier gibt es in herrlichstem Sonnenschein ein bisschen bayerische Frühgeschichte:


    Handbuch der bayerischen Geschichte, Band I: Das Stammesherzogtum


    [am]978-3406073229[/am]


    Für mich historisch nur lückenhaft Beschlagenen eine faszinierende Lektüre - ich wusste z.B. nicht, dass bereits 757 in Compiégne einmal ziemlich gründlich kapituliert wurde...


    Ziemlich kränkend für das bayerische Selbstbewusstsein (ich gehöre auch zu denen, für die die Antarktis kurz nach Köln beginnt ;) ist auch die Tatsache, dass wir auch so traditionsbewussten "Mir san Mir-Bajuwaren" irgendwann im 6. Jahrhundert von irgendwoher auf der Brennsuppe dahergeschwommen sind. Ein Skandal. Woraus ich lerne: Wissen ist ganz schlecht für tiefverinnerliche Stammesarroganz. Schnüff. Darf ich jetzt eigentlich noch CSU wählen?


    :untertauch:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)


  • Seit ich dieses Buch kenne, rege ich mich über keinen Thread mehr hier auf. So sehr sich die Protagonisten auch bemühen mögen...

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Dank Elisabeth, die mir dieses Buch lieh, lese ich jetzt "KANN DER PARTITUR LESEN? fragte Otto Klemperer"



    Ich muß sehr oft lachen, denn es ist humorvoll geschrieben. Und wie er St. Bürokratius gegen das Schienbein tritt... :jubel:
    Habe zwei Stunden konzentriert gelesen und bin jetzt auf Seite 97. Irgendwann morgen habe ich es also gelesen (nur 398 Seiten X( ).


    LG, Paul

  • Schön, dass Dir dieses Buch auch so gut gefällt, lieber Paul!


    Ich war sehr froh, über die Feiertage "dran" bleiben zu können, denn man legt es wirklich ungern aus der Hand, so schön ist es geschrieben.


    Bei mir geht es jetzt weiter hiermit:


    Placido Domingo, meine Rollen, mein Leben
    von Helena Matheopoulos



    Sehr interessant, wie Domingo hier seine Sicht auf die wichtigsten seiner Rollen darlegt - das Buch beruht im wesentlichen auf Interviews, die sie Autorin mit dem Sänger geführt hat.


    Darüber hinaus eignet es sich sehr gut, wenn man in kurzen freien Momenten etwas lesen möchte, da ja jede Rolle für sich abgeschlossen mit etwa 4-5 Seiten beschrieben wird. Also keine "Hör-" sondern "Leseschnipsel".


    LG, Elisabeth

  • Anlässlich der Premiere des ergreifenden Films das gleichnamige Buch von Bauby wieder in die Hand genommen.


    Schmetterling und Taucherglocke.


    Was macht ein Mensch, der fast ganz auf sich zurücjgeworfen ist.
    Locked in.


    Er muss alles so geschehen lassen, wie es geschieht, weil er nichts, aber auch gar nichts ändern kann.


    Bauby gibt ein eindrucksvolles Zeugnis für den Kern des Menschen- seinen Kern. Nicht Verzweiflung und Jammer überwältigen ihn. Er ist in Kontakt mit dem, was ihm blieb. Phantasie und Erinnerung.


    Eine der selteneren Fällen, in denen es sich lohnt, das Buch zu lesen und den Film anzusehen.

  • Lieber Sagitt, dieser Film lief bei uns schon vor Monaten und hat mich auch tief beeindruckt. Das betreffende Krankenhaus ist nciht serh weit von mir entfernt und ich kenne es auch.
    Eine Geschichte die wirklich zeigt, was Menschen in Extremsituationen an inneren Reserven bleiben kann, wenn sie nur den Willen aufbringen können, diese zu mobilisieren.
    Vielleicht eine kurze Erklärung für die nicht Eingeweihten: die Geschichte beruht auf einer realen Biographie.
    Ein noch junger Mann, der erfolgreicher Direktor einer Zeitschrift war, ist vollständig gelähmt, bei vollem Bewusstsein und in einem Sanatorium am Meer(hier in Nordfrankreich). Dort wird Alles versucht, ihn zu rehabilitieren, er ist ja körperlich hilflos. Da er auch nicht sprechen kann, erfindet eine engagierte Logopädin eine Sprache für ihn, die Buchstaben als Wimpernschlag identifizieren kann. Den Wimpernschlag kann er noch machen.
    Diese Sprache lernen dann auch andere ihm nahestehende Menschen und anhand dessen schreibt bzw diktiert er seine Erfahrungen und vielleicht hält dieses Projekt ihn so lange am Leben.
    Er stirbt dann an einer Infektion und hinterlässt dieses Buch, aus dem dann auch der wirklich hervorragende und sehr empfehlenswerte Film wurde.
    Fairy Queen

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  • Zitat

    Original von ThomasBernhard
    Während mich jpc auf den Milton warten lässt:


    Max Frisch: Stiller




    yo - das ist was schönes :hello:


    ich lese gerade wieder "Mein Name sei Gantenbein" von Max Frisch


    Max Frisch ist mein Lieblingsschriftsteller (in jedem Fall von den deutschsprachigen)
    und gantenbein ist mE sein bester Roman (Platz 2 Montauk, Platz 3 Stiller)


    er trifft mit wunderschönerr Wortwahl und Sprache alles auf den Punkt und ruft bei mir (wie auch bei Leuten mit denen ich über sein Werk sprach) einen hohen Wiedererkennungswert hervor





    LG Paul? :angel:

  • Lieber Paul?,


    der Gantenbein gefällt mir auch sehr gut, wenn ich ihn auch nach Montauk einordnen würde. Nach dem Gantenbein käme bei mir dann das Tagebuch 1966-70 und dann erst der Stiller.


    Montauk lese ich im 6-Monats bis Jahresrhythmus immer und immer wieder...


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Hi Flo :hello:


    sehr gut - Danke für den Tipp
    das 2. tagebuch hab ich nämlich noch nicht gelesen


    muss ich offensichtlich schleunigst nachholen - mal gucken ob ich da ein Gebundenes wo finde


    LG Paul? :angel:


    zu Gantenbein: werde diesmal "Malina" gleich danach lesen
    es war Ingeborg Bachmanns Antwort auf den Gantenbein
    bin schon sehr gespannt


    Bachmann: Sie schätze ich natürlcih ebenfalls sehr - las bislang aber nur ein paar Kurzgeschichten von ihr


  • Hi Peter,
    auf welchem Planeten lebst Du denn ??? ;)


    Das mit Adornos Halbbildung ist längst passé - wir sind fast 50 Jahre weiter und einen erheblichen Schritt darüber hinaus. Das Buch für unsere Zeit hat Konrad Paul Liessmann geschrieben:



    ;)


    Viele herzliche Grüße,
    Medard

  • Zitat

    Original von Paul?
    zu Gantenbein: werde diesmal "Malina" gleich danach lesen
    es war Ingeborg Bachmanns Antwort auf den Gantenbein


    Ja, und ist ca. 50.000 mal intensiver...


    (Tschuldigung Flo)


    Viele schamvolle Grüße :untertauch: ,
    Medard

  • Lieber Medard,


    warum sich schämen?


    Ich würde Malina sogar nicht mit Mulitplikatoren auf eine andere Intensitätsstufe heben, sondern einer anderen Kategorie von Literatur zuordnen - ich habe dieses Buch jetzt vier oder fünfmal gelesen und konnte damit nichts, nichts, nichts aber auch überhaupt garnichts anfangen. Der Gantenbein ist halt verspielter, souveräner, mehr in Szene gesetzt im Sinne einer Bewältigung als Bachmanns Breughel-hafter Höllensturz in den Mauerspalt.


    Weswegen ich Dir - solltest Du das haben sagen wollen - sicher darin zustimme, dass Malina das intensivere, tiefer greifende, reichere Buch ist. Aber was helfen mir Schatzesfluten, wenn ich nur drin ertrinke. Außerdem passt der Überlebenskünstler Gantenbein einfach besser in die kunsthedonistische Fankurve!


    :untertauch:


    Steht's jetzt wieder 1:1?
    :D


    Lieber Paul?,


    das Tagebuch 66-70 war für mich eine sehr positive Überraschung, obwohl ich selbstredend viel erwartet hatte. Es ist gar kein Tagebuch im eigentlichen Sinne, es ist eher ein stark reflexionslastiger, von zur Selbstbetrachtung anhaltenden Passagen z.B. in Gestalt von Fragebögen unterbrochenes, auch einige novellenhafte Elemente beinhaltendes Buch, das ich mit großem Gewinn schon mehrmals gelesen habe. Immer wieder zum Nachdenken anregend.


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Ach, ich schäme mich ja gar nicht wirklich, lieber Flo – allenfalls dafür, daß ich mein Werturteil augenscheinlich unabgesichert hinausposaunt habe.


    Ich habe weder »Malina« noch »Mein Name sei Gantenbein« vier- oder fünfmal gelesen. »Malina« habe ich genau zweimal gelesen und Frischs »Gantenbein« nur einmal (und hin und wieder habe ich in beiden Romanen nochmals geblättert). Voraussichtlich werde ich beide Bücher auch so bald nicht ein weiteres mal lesen – was aber nichts weiter bedeutet. Es gibt nämlich eher nur wenige Bücher die ich (freiwillig) mehrfach lese – insbesondere sehr wenig erzählende Prosa. Also: die Häufigkeit der Lektüren sagt in meinem Falle gar nichts - ich habe z.B. Gustav Frenssens Roman »Peter Moors Fahrt nach Südwest« sicherlich weitaus mehr als ein dutzendmal gelesen, unterschiedliche Bearbeitungsstufen, Textstände verglichen usw., usf. – dennoch ist mir das Buch nicht unbedingt ans Herz gewachsen. ;)


    Jetzt aber ganz kurz zur Begründung meiner Einschätzung von »Mein Name sei Gantenbein« und »Malina«. Im »Gantenbein« wird recht abgeklärt (und recht maskulin) ein – zugegeben: virtuoses – literarisches Planspiel über Möglichkeiten und Misslichkeiten von Persönlichkeit /Identität und zwischenmenschlicher Beziehungen ausgebreitet, in dem das grundsätzlich Krisale dieser Aspekte letztlich normalisiert wird (so ist das eben mit uns, das Leben geht irgendwie weiter) - Du hast das »Bewältigung« genannt. Darum wirkt der Gantenbein auch »souveräner«, distanzierter, denn er ist aus einer Position des Machers, des Akteurs - des »Bewältigers« eben - geschrieben, der Erzähler bleibt gewissermaßen der Souverän der (erzählten) Möglichkeiten .
    »Malina« ist das unbedingte Gegenteil – hier ist nicht von »Bewältigung« die Rede, sondern vom Überwältigt-Sein; hier ist ein planloses Spiel im Gage, in dessen Maschinerie die Erzählerin (nicht Ingeborg Bachmann) ein haltloser Spielstein ist; hier ist Persönlichkeit/Identität ein unauflösbares Gewirr von Wünschen, Anforderungen, Positionen und Negationen; hier sind die Beziehungen zwischen den Figuren nicht einfach Krisal (das könnte man bewältigen) sondern von Abhängigkeiten, Macht, Begehren, verzweifelter Liebe und ebenso verzweifeltem Hass unhintergehbar bestimmt. Das Verschwinden der Erzählerin im Wandspalt schließlich ist IMO kein »Breughel-hafter Höllensturz«, keine effektvolle und laute Apokalypse – sondern ein stilles, verzweifeltes Sich-(Aus)Löschen eines geschundenen, selbstverlorenen Ichs.


    Ganz abgesehen davon jetzt noch ganz kurz zwei oder drei weniger emphatische Bemerkungen dazu, warum ich »Malina« für den vielschichtigeren Roman halte: einerseits aufgrund der expliziten Herauslösung der gesamten Problematik aus dem privaten Bereich im Mittelteil des Romans (»Mein Name sei Gantenbein« ist in dieser Hinsicht doch vergleichsweise beschaulich und harmlos). Dann die Reflexion von Sprache und Schreibprozesses im Roman selbst, wodurch hier eine schmerzhafte Distanz zwischen Erzählung, Erzählen und Ezähltem evoziert wird. Im Gantenbein ist die Distanzierung ja schon von Beginn an ein offener Aspekt des Planspiels, da ist die Distanz Programm der Erzählung und tut nicht weh, sie wird nicht – wie von Bachmann – als Ergebnis einer der spezifischen Erzählung inhärenten Reflexion des Erzählens entwickelt. Und schließlich: Die Sprache, die Sprache, die Sprache, die unglaubliche Sprache der Ingeborg Bachmann....


    Ganz liebe Grüße,
    Medard



    p.s.: Und jetzt noch ein blödes Beispiel, dafür, warum Ingeborg Bachmann vielleicht doch näher an den Dingen war als Max Frisch: Ich habe den Text des Postings gerade mal durch die Word-Rechtschreibprüfung (Word 2003) gejagt: diese kennt das Wort »Erzählerin« nicht, unterkringelt es immer hübsch rot und behauptet es sei fehlerhaft. Mit dem »Erzähler« hat die Rechtschreibprüfung keine Probleme... :wacky:


  • Aus der Beschreibung:
    Zehn lange Jahre hat Rilke gebraucht, um seine "Duineser Elegien" abzuschließen , die, wie er selber behauptete, kein Werk waren, das allein vom Autor erschaffen wird, sondern als Frucht höherer Eingebung entstanden, auf die der Autor lange warten mußte. In 853 Zeilen schreibt Rilke eine Weltanschauung nieder, in der der Mensch sein gegenwärtiges Leben sinnvoll zu leben bemüht ist, und bewußt der Freude wie dem Leid entgegengeht: mit dem Willen nach seelischer Integrität. Der Mensch soll den Sinn seines Tuns aus dem Diesseits schöpfen und nicht aus dem Glauben an ein besseres Jenseits: "Wir, Vergeuder der Schmerzen. Wie wir absehn voraus, in die traurige Dauer,ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind jaunser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün, eine der Zeiten des heimlichen Jahres-, nicht nur Zeit-, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort." (aus der 10.Elegie) Die 10 Elegien sprechen in Bildern, sei es durch den Gebrauch einer visionären Sprache, die auch aus der A useinanersetzung Rilkes mit dem Frühexpressionismus her rührt - sei es durch das Auftauchen von Idealfiguren: der Engel, das Kind, der Held, die Liebenden, die Heiligen, die früh Verstorbenen.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Hallo Siegfried!


    Zitat

    Original von Siegfried


    Aus der Beschreibung:
    Zehn lange Jahre hat Rilke gebraucht, um seine "Duineser Elegien" abzuschließen , die, wie er selber behauptete, kein Werk waren, das allein vom Autor erschaffen wird, sondern als Frucht höherer Eingebung entstanden, auf die der Autor lange warten mußte. In 853 Zeilen schreibt Rilke eine Weltanschauung nieder, in der der Mensch sein gegenwärtiges Leben sinnvoll zu leben bemüht ist, und bewußt der Freude wie dem Leid entgegengeht: mit dem Willen nach seelischer Integrität. Der Mensch soll den Sinn seines Tuns aus dem Diesseits schöpfen und nicht aus dem Glauben an ein besseres Jenseits: "Wir, Vergeuder der Schmerzen. Wie wir absehn voraus, in die traurige Dauer,ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind jaunser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün, eine der Zeiten des heimlichen Jahres-, nicht nur Zeit-, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort." (aus der 10.Elegie) Die 10 Elegien sprechen in Bildern, sei es durch den Gebrauch einer visionären Sprache, die auch aus der A useinanersetzung Rilkes mit dem Frühexpressionismus her rührt - sei es durch das Auftauchen von Idealfiguren: der Engel, das Kind, der Held, die Liebenden, die Heiligen, die früh Verstorbenen.


    Ich bin ja eigentlich kein Freund moderner Lyrik, aber die Duineser Elegien sind einfach wundervoll! :angel:
    Habe viel Freude damit!


    Übrigens: Die zehn Jahre, die Rilke gebraucht haben soll - na ja :rolleyes: . Er hat die eine Hälfte der Elegien 1912 geschrieben, die andere 1922. Es war also kein jahrelanges Ringen.


    Viele Grüße,
    Pius.

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