Auch wenn Matthesons "Der vollkommene Capellmeister", die Flötenschule von Quantz, die Klavierschule von CPE-Bach, die Violinschule von L. Mozart und andere musiktheoretische Werke sicher nicht die typische Literatur von Jugendlichen sind, habe ich es dennoch seit in meiner Jugendzeit ( von 12 Jahren an) immer wieder gelesen und versucht zu verstehen. Mir ging es sehr darum zu verstehen, wie man denn ein nacktes Notengerüst, welches kaum irgendwelche Vortragsbezeichnungen enthält, lebendig und verständlich spielen sollte.
Anlass für meinen Enthusiasmus waren die Taten der Herren Harnoncourt, Leonhardt und auch Brüggen. Was die machten, bescherte mir ein Füllhorn von Aha-Erlebnissen, gerade auch deshalb, weil man damals zu manchen der LPs gleich noch die Partitur mitlieferte, bzw. unsere Bielefelder Musikbibliothek mir die Möglichkeit bot, das Meiste auszuleihen und mitzulesen.
Es war für mich sehr interessant vor einigen an der Norwegischen Musikhochschule zu erfahren, dass die wohl beste Chordirigentin dieses Landes ihren Beruf aus ungefähr dem gleichen Grund wählte, wie es auch bei mir der Fall war: Die Bachaufführungen Harnoncourts waren solche Schlüsselaufnahmen, für sie ( und auch für mich) die damals sehr unerhört und neu klingenden Motetten Bachs mit einem schwedischen Chor.
Rhetorisches Verständnis, Gestik, tiefes Eindringen in die Frage der Bedeutung von Figuren, harmonischen Ereignissen, rhythmische Finessen......einfach alles war extrem faszinierend, überzeugend und neu, sicher nicht nur für mich.
Ich habe wirklich versucht, schon in jungen Jahren die verschiedenen Orchesterstimmen mitzusingen, vor allem um zu verstehen, wie denn "der Harnoncourt so denkt". Besonders klar wurde es mir, wenn man sich seine selbst gespielten Continuo-Bässe anhört.
Was ist heute daraus geworden? Es gibt noch Gutes, auch extrem Gutes ( z.B. so manche Bach-Kantate mit Herreweghe oder Veldhoven) aber auch eine Menge von grotesken und absurden Dingen, bei denen es zwar nicht am Willen zum an sich völlig sinnlosen Anders-Machen-Wollen fehlt, sehr wohl aber an Geschmack und Verständnis.
Das HIP heute teilweise eine fanatisierte Anhängerschaft hat, die jede Aufführung mit modernen Instrumenten schon als Bearbeitung abtut, liegt eben auch am schlechten Vorbild, das im wahrsten Sinne des Wortes vorgespielt wurde. Auch die völlig abwegige und naive Einstellung, dass mit jeder neuen HIP-Aufnahme die alten automatisch überholt und uninteressant würden, liest man immer wieder. Hieran sieht man, dass es immer weniger um ein ernsthaftes Suchen nach möglichst verständlich und tief erfahrbarer alter Musik, sondern um irgendein schwer zu beschreibendes modernes Phänomen geht, das letzten Endes auf eine Zersetzung, eine Zerstörung des Guten, Schönen und Wahren in der Musik hinausläuft.
Ich hörte z.B. neulich eine Neuaufnahme des Mozart-Requiems unter Jacobs im NRK-Klassik-Radio und war - wie immer bei ihm- entsetzt, wie sehr er es schafft, ein eigentlich gut spielendes und tolles Barockorchester derart dünn, metallisch und unangenehm klingen zu lassen. Da gäbe es viel zu bemerken, aber ich will es hier nicht ausarten lassen.
Insgesamt lehne ich den in vielen Threads vertretenen HIP-Dogmatismus des Tamino-Autoren "Hosenrolle" ab, sogar sehr ab.
Bei Euren Diskussionen kann ich Dir, lieber Holger, nur zustimmen.
Ebenso hörte ich auf dem gleichen Kanal eine immer noch rasantere und noch fetzigere HIP-Version der Kleinen Nachtmusik Mozarts.
Wenn man glaubt, dass es nur um billige Effekte ginge, dann sind solche modernen HIP-Aufnahmen wohl der richtige Stoff für den Hörer, der es liebt, an der Oberfläche der Musik bedeutungsvoll in seinem Empfinden herumzukratzen.
Mit der gestenreichen und hochmusikalischen Rhetorik der Concentus-Aufnahme hatte diese Einspielung ( weiß leider nicht mehr, wer das war) gar nichts mehr zu tun. Würde Harnoncourt noch leben, gesund sein, nicht mehr arbeiten und nur noch hören, was heute so gemacht wird, dann würde er wahrscheinlich hier und da bereuen, für diese fatalen Absurditäten auch noch als Anfänger dieser Richtung herhalten zu müssen. Ich glaube, irgendwann so etwas Ähnliches von ihm einmal gelesen zu haben, will es aber nicht beschwören.
Wenn mir solche Beispiele unterkommen, dann muss ich eindeutig sagen: dann 100x lieber die klangschöne und nicht so besonders sprechende, aber dennoch sehr auf Qualität gehende Aufnahme mit Karajan hören, als einen derartigen zu schnellen und dynamischen vor- und zurück-Unsinn. Er hat ein anderes, nicht historisches Konzept von historischer Musik, aber es konnte sein, dass er das ganz hervorragend realisierte.
Zudem gibt z.B. Mozart-Aufnahmen Harnoncourts mit dem COE . Sind die jetzt auch schon Bearbeitungen?
Es wäre der blanke Unsinn, so etwas in die Welt zu setzen. Ich kenne keine praktischen Musiker, die so etwas meinen, auch keine, die HIP auf alten Instrumenten spielen. Sobald man ein Werk einfach nur spielt, ist es immer eine Art Bearbeitung, weil es durch die musikalische Denk- und Erlebniswelt des jeweiligen Musikers fließt. Wenn der Komponist selbst spielt, dann spielt er es auch jedes Mal immer wieder anders. Von daher gibt es so etwas wie das Erlebnis des "Originalen Werkes" überhaupt nicht. Das wäre wohl auch eine langweilige Sache.
Es kann z.B. bei den Klavierwerken Mozarts, Beethovens, Schuberts usw. so sein, dass die musikalisch hervorragend realisierte Verwendung des Steinways dem eigentlichen harten Kern der künstlerischen Aussage des Werke näherkommt, als eine Aufführungen mit einem mehr oder weniger scheppernden Hammerklavier. Auch diese Totschlags-Argumente wie " der kannte den Steinway nicht, sonst hätte er anders geschrieben, Steinway = Bearbeitung" kenne ich zur Genüge und lehne sie allesamt ab, genauso wie ich ablehne, dass Unwissende ( leider auch Musiker) davon ausgehen, dass man bei den Streichern früher sehr sparsam bis gar nicht vibrierte. Wer sich unvoreingenommen damit beschäftigt ( wie etwa Greta Moens-Hagen, sehr gute Buch!) der kommt zu ganz anderen Ergebnissen, und man hört und sieht auch beim Concentus oder dem Leonhardt- Consort, dass die durchaus vibrierten, ebenso auch Brüggen als Flötist. Auch die Bach-Musiker von All-of-Bach ( Veldhoven), die Orchesterleute Leute vom Collegium vocale Gent oder das Orchester des Bach Collegium Japan macht da nicht so einen unmusikalischen Dogmatismus.
Jener Dogmatismus kann einfach nicht von Musikern kommen und beruht wohl auch darauf, dass man nicht genau genug bei den guten HIP-Aufnahmen hinhört.
Als Musiker weißt Du auch, das es zu 80 % auf den Menschen und nur zum geringen Teil auf das Instrument ankommt. Eine großer Pianist macht sogar auf einem Klafünf noch großartige Musik. Man soll aus den Instrumenten keinen Fetisch machen, sonst verrennt man sich.
Leider habe ich keine Zeit, weiter in dieser Diskussion mitzuwirken ( muss üben fahren....), aber es hat mich doch provoziert, Dir lieber Holger, einmal mehr rechtgeben zu wollen. Zudem soll es hier ja eigentlich um RT gehen, aber dieses Thema interessiert mich schon gar nicht mehr.
Gruß
Glockenton