Dmitri Schostakowitsch

  • Überhört hast Du anscheinend etwas, nämlich die Werke, in denen er genau das getan hat: die Staatsideologie plakativ rauszuposaunen. Oder welche versteckte Botschaft ist in den grauenvollen Propaganda-Chorabschlüssen der 2. und 3. Symphonie, dem gewaltverherrlichenden "Lied von den Wäldern" oder der Schund-Kantate "Über unserer Heimat strahlt die Sonne" verborgen?

    Nein, ich habe überhaupt nichts überhört. Ich bin nur in der Lage, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Man kann natürlich auch die Qualität von Brahms an diesem fürchterlichen Triumphlied von 1870 messen, das musikalische Propaganda ist für Kaiser Wilhelm I. und das deutsche Kaiserreich und den Sieg über die Franzosen feiert. Wenn man dies im Falle von Brahms nicht tut, aber solche aus ephemerem Anlass geschriebenen Werke wie die 2. Symphonie von Schostakowitsch als Einwand gegen die Lebensleistung des Komponisten Schostakowitsch nimmt, dann ist das tendentiös, unsachlich und rein polemisch. Bei der 2. Symphonie von Schostakowitsch, die eigentlich eine Kantate ist, handelt es sich um die Komposition eines 20igjährigen (!), ein Auftragswerk der Propagandabteilung des sowjetisch-staatlichen Musikverlages für die Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution 1927. Schostakowitsch selbst hat das Werk sehr kritisch gesehen (den Text bezeichnete er selbst in einer Äußerung als "fürchterlich") und seinem Sohn Maxim gesagt, dass er es nicht dirigieren soll. Das steht nicht etwa bei Wolkow, sondern ist durch Maxim Schostakowitsch überliefert. Auch bei dem "Lied von den Wäldern" sollte man die Zeitumstände berücksichtigen. Komponiert ist es 1949 und eine Folge des Shdanow-Dekretes von 1948, wo Schostakowitsch erneut des "Formalismus" bezichtigt wird. Komponisten wie Prokofieff und Schostakowitsch verfuhren damals als Komponisten zweigleisig, um als seriöse Musiker in dieser Zeit des Stalinismus überhaupt überleben zu können. (Prokfieff verstarb ironischer Weise 1953 am selben Tag wie Stalin.) Sie komponierten in zwei Kategorien: einmal in einem dem Staat und der Staatsführung genehmen Stil, um damit frei zu bleiben, um komplexe, anspruchsvolle Werke der zweiten Kategorie zu schaffen. Bei diesem Lied, das zur ersten Kategorie gehört, geht es um die Wiederaufforsterungsprogramme von Stalin. Dabei ist es kompositorisch durchaus nicht anspruchslos mit Reminiszenzen an Tschaikowsky und Gustav Mahler. Schostakowitsch hatte sogar Angst wegen der Fuge, die er verwendet, wiederum des "Formalismus" bezichtigt zu werden. Er selbst schämte sich für dieses Werk. Vor der Uraufführung meinte ein Freund von ihm, dass er es bedauerlich fände, dass er das Lied nicht der niederländischen Königin widmen könne. Darauf antwortete Schostakowitsch: "Für die Musik übernehme ich die Verantwortung, aber für die Worte..." Schostakowitsch selbst unterschied also zwischen seinen seriösen Kompositionen und solchen zweifelhaften, die erzwungener Maßen komponiert wurden, damit er als Komponist im Sowjetstaat überleben konnte. Eine solche Differenzierung sollte der Rezipient von heute auch in der Lage sein, sie zu machen, und nicht alles bei Schostakowitsch in einen Topf werfen.

    Dagegen empfinde ich ja sogar das bombastische Jubelfinale der Leningrader Symphonie noch in gewisser Weise als gelungen, auch wenn es kompositorisch ähnlich schwach ist, aber immerhin als zeitgebundener Ausdruck des Optimismus während des deutschen Vernichtungskrieges seine fürchterliche Berechtigung hatte.

    Wo ist durch die musikwissenschaftliche Fachliteratur allgemeinverbindlich belegt, dass die 7. Symphonie kompositorisch schwach sei? Außerdem ist das Finale nun wirklich kein "bombastisches Jubelfinale". Mahlers Finale seiner 7. Symphonie ist viel "positiver" als dieses, von schmerzlichen Tönen durchzogen in Abwechslung mit grotesken Elementen.

    Aber ich weiß: Solomon Wolkow hat ja geschrieben, dass das Thema der Symphonie nicht etwa die Kleinigkeit von einer Millionen verhungerter Zivilisten im von den Deutschen belagerten Leningrad und die Hoffnung auf einen sowjetischen Sieg gegen die Deutschen ist, sondern Stalins Verbrechen vor dem Krieg, zu denen Hitler (das steht da wörlich!) "nur den Schlusspunkt" gesetzt habe. Kein Wunder, dass diese frei erfundene These gerade in Deutschland so viele Anhänger hat.

    Es spricht eben sehr viel dafür, dass dies nicht frei erfunden ist. Den 1. Satz hat Schostakowitsch nämlich schon vor dem Einmarsch der Deutschen konzipiert. Der Satz enthält wie die giftig ironische Rondo-Burleske aus Mahlers 9. Symphonie eine Lehar-Parodie und verwendet thematisches Material aus der Oper Lady Macbeth von Mzensk, durch die Schostakowitsch (der berüchtigte Prawda-Artikel "Chaos statt Musik") beim Sowjetregime in Ungnade fiel. Das Unheil, das da in die friedliche Welt der Exposition einbricht, lässt sich also semantisch sowohl auf den Terror des Stalinismus als auch den Einmarsch der Deutschen beziehen.

    Zwar gibt es für sie keinerlei Beleg (und dafür sollten eigentlich gerade die Schostakowitsch-Verehrer dankbar sein, die ansonsten glauben müssten, dass ihr Idol ein gefühlloses Monster war), aber sie passt so schön in das geschichtsverfälschende Bild des heimlichen Dissidenten Schostakowitsch, den man damit nebenbei gleich zur Exkulpation der eigenen Vorfahren nutzen kann.

    Die Behauptung von der angeblichen Geschichtsfälschung bei Wolkow halte ich für pure Propaganda von Schostakowitsch-Hassern. Sicher hat diese Biographie einige Schwächen, aber das Bild, was da von Schostakowitsch gezeichnet wird, ist in seinen wesentlichen Grundzügen richtig. Wenn Schostakowitsch die Freiräume hatte, dann nutzte er sie auch. Stalin erwartete mit seiner 9. eine monumentale Symphonie mit Chören zur Verherrlichung des Sieges der Roten Armee. Schostakowitsch - er war inzwischen eine internationale Berühmtheit und konnte es sich leisten - brüskierte Stalin (der wie überliefert ist einen Tobsuchtsanfall bekam) mit einer antimonumentalen Humoreske ohne Chöre von lächerlichen 25 Minuten Dauer. Jahre zuvor hätte er das nicht überlebt. Er schrieb die Symphonie Nr. 13, die den Antisemitismus in der Sowjetunion anprangert.

    Er war eine ambivalente, widersprüchliche Persönlichkeit, war in typischer Weise zugleich "dafür" und "dagegen", glaubte an den Sozialismus und verzweifelte gleichzeitig an seiner brutalen Realität.

    Viele anständige Menschen haben in dieser Generation an die Utopie des Sozialismus geglaubt. Daran ist überhaupt nichts Anstößiges. Die bittere Realität des Stalinismus hat sie dann eines Besseren bzw. Schlechteren belehrt. Man soll allerdings nicht glauben, dass die "angepassten" Werke Schostakowitschs der ersten Kategorie (s.o.!) Ausdruck seines Glaubens an die sozialistische Utopie wären. Das wäre naiv und steht auch im Widerspruch zu Schostakowitschs Äußerungen.

    Zu dem Ergebnis kommt man wenigstens, wenn man die eine Seite nicht "überhört" oder schön redet sondern sich mit ihm, seinem Gesamtwerk und der Zeit seiner Entstehung beschäftigt. Dazu gehört vor allem, dass man Leute fragt bzw. liest, die selbst im Sozialismus oder gar im Stalinismus leben mussten.

    Allen voran lebte Schostakowitsch im Sozialismus und Stalinismus. Alle seine Freunde - darunter den Regisseur Meyerhold - hat Stalin umbringen lassen. Schostakowitschs Leben war ein Leben in ständiger Angst, der nächste in dieser Reihe der Ermordeten zu sein. Dazu gehört die Mischung aus Anpassung und Versteckspiel bis hin zum mehr oder weniger offenem Widerstand, wenn er es sich leisten konnte. Schostakowitsch ist ein "realistischer" Komponist und kein Utopist wie Scriabin. In seiner Musik wird deshalb auch nicht die sozialistische Utopie vertont, sondern was es heißt, in diesem höllischen "System" faktisch zu leben und zu leiden.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Nein, ich habe überhaupt nichts überhört. Ich bin nur in der Lage, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Man kann natürlich auch die Qualität von Brahms an diesem fürchterlichen Triumphlied von 1870 messen, das musikalische Propaganda ist für Kaiser Wilhelm I. und das deutsche Kaiserreich und den Sieg über die Franzosen feiert. Wenn man dies im Falle von Brahms nicht tut, aber solche aus ephemerem Anlass geschriebenen Werke wie die 2. Symphonie von Schostakowitsch als Einwand gegen die Lebensleistung des Komponisten Schostakowitsch nimmt, dann ist das tendentiös, unsachlich und rein polemisch.

    Ich habe über Schostakowitschs "Lebensleistung" überhaupt nichts geschrieben, insofern geht Dein Einwand ins Leere. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass es unter seinen Werken auch primitive Propagandaschinken gibt, was Du als "komplett absurd" bezeichnet hattest.


    Sie komponierten in zwei Kategorien: einmal in einem dem Staat und der Staatsführung genehmen Stil, um damit frei zu bleiben, um komplexe, anspruchsvolle Werke der zweiten Kategorie zu schaffen.

    Dieses Auslagern der unerwünschten Werke in eine Art künstlerischer "Bad Bank" macht natürlich den Umgang mit den affirmativen, zum Teil gewaltverherrlichenden und das Grauen ästhetisierenden Stücken sehr bequem. Ich kann das psychologisch nachvollziehen, aber der komplexen Persönlichkeit Schostakowitschs wird man mit einem solchen Schonwaschgang nicht nahekommen. Schostakowitsch hat z.B. 1960/61, also mitten in der Chruschtschowschen Tauwetterperiode und fernab von jeder Lebensgefahr die entsetzliche, propagandistische 12. Symphonie komponiert, anlässlich deren Uraufführung er dann in die KPdSU aufgenommen wurde (Wolkow behauptet in seiner Palmström-Logik natürlich, dass Schostakowitsch über diesen Parteieintritt todunglücklich war). Ist das jetzt auch eines dieser Werke, die ihm lediglich die Freiheit für seine "anspruchsvollen und komplexen Werke der zweiten Kategorie" geben sollten? Das wäre nicht nötig gewesen, denn er war zu dem Zeitpunkt frei. Ich finde deshalb viel plausibler, dass bei ihm wie bei vielen anderen nach Stalins Tod erneut die Hoffnung aufkam, dass es jetzt doch noch etwas wird mit diesem Sozialismus, und dass er deshalb eine Symphonie "Zur Erinnerung an Wladimir Iljitsch Lenin" schrieb. Die ist leider genauso gescheitert wie der Bolschewismus (und wie Brahms' Triumphlied :)).


    Viele anständige Menschen haben in dieser Generation an die Utopie des Sozialismus geglaubt. Daran ist überhaupt nichts Anstößiges. Die bittere Realität des Stalinismus hat sie dann eines Besseren bzw. Schlechteren belehrt. Man soll allerdings nicht glauben, dass die "angepassten" Werke Schostakowitschs der ersten Kategorie (s.o.!) Ausdruck seines Glaubens an die sozialistische Utopie wären. Das wäre naiv und steht auch im Widerspruch zu Schostakowitschs Äußerungen.

    Das verstehe ich nicht: Einerseits schreibst Du, dass es "nichts Anstößiges" gewesen sei, an den Sozialismus zu glauben (was ich auch gar nicht behauptet hatte), andererseits bist Du aber ganz sicher, dass dieser Glaube bei Schostakowitsch auf keinen Fall Ausdruck in seinen Werken gefunden hat. Warum eigentlich nicht? Seine Äußerungen taugen als Beleg weder für die eine noch die andere These, weil sie extrem widersprüchlich sind. Da müsstest Du schon mit demselben Zaubertrick wie bei den Kompositionen zwei Kategorien einführen...


    Die Behauptung von der angeblichen Geschichtsfälschung bei Wolkow halte ich für pure Propaganda von Schostakowitsch-Hassern. Sicher hat diese Biographie einige Schwächen, aber das Bild, was da von Schostakowitsch gezeichnet wird, ist in seinen wesentlichen Grundzügen richtig.

    ich bin kein "Schostakowitsch-Hasser". Die oben besprochene vierte Symphonie war Anlass für meine Reise nach Berlin, und selbst habe ich viele Klavier- und Kammermusikstücke von ihm öffentlich gespielt, zuletzt erst vor wenigen Wochen. Zu den Wolkow-Memoiren ist aber festzustellen, dass es keinen Beleg für ihre Echtheit gibt. Dabei wäre es für Wolkow doch leicht, die angeblich von Schostakowitsch selbst unterschriebenen Protokolle der Gespräche vorzulegen (allein das namentliche Unterzeichnen solcher belastenden Dokumente ist in der stalinistischen Realität schon höchst unglaubwürdig), von denen der Verfasser behauptet, er habe sie nach New York geschmuggelt. Niemand hat diese Bögen je zu Gesicht bekommen, und allen musikwissenschafltichen Tagungen zur Frage der Echtheit der Memoiren ist Wolkow stets ferngeblieben. Vor allem aber passt das dort gezeichnete Bild allzu perfekt in das Wunschdenken westlicher Musiker und Musikhörer, für die sich natürlich ein heimlicher Dissident besser vermarkten lässt. Wer allerdings allen Ernstes glaubt, Antrieb für die Leningrader Symphonie sei nicht eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte gewesen sondern die Probleme, die der Komponist mit der sowjetischen Kulturbürokratie gehabt hat, muss Schostakowitsch für einen moralisch vollkommen degenerierten Menschen halten. Es stimmt übrigens auch nicht, dass er den ersten Satz der Leningrader Symphonie schon vor dem Einmarsch der Deutschen "konzipiert" habe: Er hat 1940 eine Passacaglia komponiert (aber nicht veröffentlicht), die er dann in der Durchführung des ersten Satzes verwendete. Mit der Komposition der Symphonie begann er am 19.7.1941, also knapp vier Wochen nach dem deutschen Überfall. Dass die Symphonie eine Reaktion darauf darstellt, steht ohne jeden Zweifel fest.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Es spricht eben sehr viel dafür, dass dies nicht frei erfunden ist. Den 1. Satz hat Schostakowitsch nämlich schon vor dem Einmarsch der Deutschen konzipiert. Der Satz enthält wie die giftig ironische Rondo-Burleske aus Mahlers 9. Symphonie eine Lehar-Parodie und verwendet thematisches Material aus der Oper Lady Macbeth von Mzensk, durch die Schostakowitsch (der berüchtigte Prawda-Artikel "Chaos statt Musik") beim Sowjetregime in Ungnade fiel. Das Unheil, das da in die friedliche Welt der Exposition einbricht, lässt sich also semantisch sowohl auf den Terror des Stalinismus als auch den Einmarsch der Deutschen beziehen.

    Lieber Holger, ganz gleich, wann er es komponiert hat, aber ich habe nie verstanden, warum das beschwingte Thema des ersten Satzes, das ganz wunderbar variiert und gesteigert wird, für den Truppeneinmarsch stehen soll? Oder alternativ - so auf Wiki zu lesen - für Stalin stehen soll? Das ist so eine fröhliche Melodie, geradezu einladend zum Mitsummen. Zwar verdüstert sich das Geschehen dann, aber dieses Thema hat für mich nichts zu tun mit einem Truppeneinmarsch oder einem Stalinthema, das „plötzlich“ (es baut sich langsam auf!) in unser Leben einbricht. Hier stehe ich vor einem Rätsel? Wie so oft bei diesem Komponisten.


    Viele Grüße, Christian

  • Wo ist durch die musikwissenschaftliche Fachliteratur allgemeinverbindlich belegt, dass die 7. Symphonie kompositorisch schwach sei?


    Ignorieren wir mal, dass niemand hier behauptet hat, dass dies durch die musikwissenschaftliche Fachliteratur allgemeinverbindlich belegt sei (und es sich somit um ein klassisches Strohmann-Argument handelt) - dann bleibt für mich immer noch die Frage, wieso Du (an anderer Stelle) einem Hobby-Choristen eine Beurteilung der kompositorischen Qualitäten von Beethovens Neunter zubilligst, aber daran zweifelst, dass ein Profi-Pianist die kompositorischen Qualitäten von Schostakowitschs Siebter beurteilen kann. Muss man das verstehen?


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Dieses Auslagern der unerwünschten Werke in eine Art künstlerischer "Bad Bank" macht natürlich den Umgang mit den affirmativen, zum Teil gewaltverherrlichenden und das Grauen ästhetisierenden Stücken sehr bequem. Ich kann das psychologisch nachvollziehen, aber der komplexen Persönlichkeit Schostakowitschs wird man mit einem solchen Schonwaschgang nicht nahekommen.

    Beethoven hat "Wellingtons Sieg" komponiert. Ist Beethoven deshalb ein die Gewalt verherrlichender Komponist? Was soll das heißen? Schostakowitsch ästhetisiert das Grauen nicht. Im Gegenteil. Er macht es sichtbar auch im scheinbar Harmlosen. Das ist eine nicht belegbare und nicht nachvollziehbare Behauptung von Dir und zeigt, dass Du zum Wesen von Schostakowitschs Musik entweder gar keinen oder kaum einen Zugang hast. Schon im 18. Jhd. wurde Musik komponiert nach ihrem Verwendungszweck unterschiedlich. In einem totalitären Staat ist der Komponist gezwungen, Strategien des Überlebens zu entwickeln. Und genau so sind Schostakowitsch und Prokofieff verfahren. Das muss man aber nur zur Kenntnis nehmen.

    Schostakowitsch hat z.B. 1960/61, also mitten in der Chruschtschowschen Tauwetterperiode und fernab von jeder Lebensgefahr die entsetzliche, propagandistische 12. Symphonie komponiert, anlässlich deren Uraufführung er dann in die KPdSU aufgenommen wurde (Wolkow behauptet in seiner Palmström-Logik natürlich, dass Schostakowitsch über diesen Parteieintritt todunglücklich war).

    Der 12. Symphonie kann man kaum gerecht werden, wenn man sich nicht die Umstände der Entstehung genau vergegenwärtigt. In der Chrustschow-Ära konnte ein Bekenntnis zu Lenin eben die Abkehr von Stalin und vom Stalinismus bedeuten. Also ich habe mir das Finale mit Mrawinsky gestern noch einmal angehört. Gegen Pomp, die hynmisch-theatralische Selbstbeweihräucherung von Musik und durch Musik, die sich vornehmlich im 19. Jhd. findet, bin ich ziemlich allergisch. Nichts davon finde ich bei Schostakowitsch. Sein gequältes Finale wirkt so, dass dies ein im Grunde totunglücklicher Mensch komponiert hat. Wer da nur Propaganda heraushören will, der hat für mich einfach nur taube Ohren für die Botschaft dieser Musik.

    Das verstehe ich nicht: Einerseits schreibst Du, dass es "nichts Anstößiges" gewesen sei, an den Sozialismus zu glauben (was ich auch gar nicht behauptet hatte), andererseits bist Du aber ganz sicher, dass dieser Glaube bei Schostakowitsch auf keinen Fall Ausdruck in seinen Werken gefunden hat.

    Du hast schlicht nicht verstanden, was ich gesagt habe.

    Dabei wäre es für Wolkow doch leicht, die angeblich von Schostakowitsch selbst unterschriebenen Protokolle der Gespräche vorzulegen (allein das namentliche Unterzeichnen solcher belastenden Dokumente ist in der stalinistischen Realität schon höchst unglaubwürdig), von denen der Verfasser behauptet, er habe sie nach New York geschmuggelt. Niemand hat diese Bögen je zu Gesicht bekommen, und allen musikwissenschafltichen Tagungen zur Frage der Echtheit der Memoiren ist Wolkow stets ferngeblieben. Vor allem aber passt das dort gezeichnete Bild allzu perfekt in das Wunschdenken westlicher Musiker und Musikhörer, für die sich natürlich ein heimlicher Dissident besser vermarkten lässt.

    Man kann ja nun nicht so tun, als ob die Probleme von Volkovs Buch nicht ausführlich diskutiert worden wären. Es war die sowjetische Propaganda, die gleich nach Erscheinen des Buches verbreitete, dass dies eine Fälschung sei. Bei Volkov fehlt leider ein textkritischer Apparat. Es ist aber Alltag von historisch arbeitenden Geisteswissenschaftlern, Aussagen zu verifizieren auch wenn einem die Quelle nicht den Gefallen tut, alle Bezüge selber auszuweisen durch Heranziehen von anderen Quellen etc. Das ist sogar die Regel. Vieles und sehr vieles von dem, was Volkov da sagt, ist durch andere Quellen verifizierbar und verifiziert. Und es gibt die Äußerungen von direkt Betroffenen, die Klarheit schaffen, so die von Dimitri Schostakowitschs Sohn, dem Dirigenten Maxim Schostakowitsch. Maxim hat gesagt, dass Volkovs Buch Volkovs Buch ist und nicht die Autobiographie seines Vaters. Er hat aber auch klar und deutlich gesagt, dass Volkov insbesondere die politischen Ansichten seines Vaters korrekt wiedergegeben hat. Natürlich ist die Bezeichnung "Dissident", die Volkov gewählt hat, nicht glücklich, weil man da direkt an Solschenizin denkt. Gut wird Schostakowitsch etwa durch das charakterisiert, was Sofia Gubaidulina erzählt. Sie wurde in ihrer Anwesenheit bei einer Sitzung des Komponistenverbandes der KPDSU öffentlich gerügt für ihren "falschen Weg". Schostakowitsch, der natürlich dabei war, kam nach der Sitzung zu ihr, schüttelte ihr die Hand und sagte: "Machen sie weiter auf Ihrem falschen Weg!"

    Es stimmt übrigens auch nicht, dass er den ersten Satz der Leningrader Symphonie schon vor dem Einmarsch der Deutschen "konzipiert" habe: Er hat 1940 eine Passacaglia komponiert (aber nicht veröffentlicht), die er dann in der Durchführung des ersten Satzes verwendete.

    Was eben zeigt, dass die Semantik schon vorher festgelegt war.

    Lieber Holger, ganz gleich, wann er es komponiert hat, aber ich habe nie verstanden, warum das beschwingte Thema des ersten Satzes, das ganz wunderbar variiert und gesteigert wird, für den Truppeneinmarsch stehen soll? Oder alternativ - so auf Wiki zu lesen - für Stalin stehen soll? Das ist so eine fröhliche Melodie, geradezu einladend zum Mitsummen. Zwar verdüstert sich das Geschehen dann, aber dieses Thema hat für mich nichts zu tun mit einem Truppeneinmarsch oder einem Stalinthema, das „plötzlich“ (es baut sich langsam auf!) in unser Leben einbricht. Hier stehe ich vor einem Rätsel? Wie so oft bei diesem Komponisten.

    Ja, lieber Christan, es beginnt naiv-harmlos, fast schon lächerlich-naiv und steigert sich ins Monströse. Man sollte sich nicht dazu verleiten lassen, die 7. Schostakowitsch simpel programmatisch zu interpretieren - meiner Meinung nach.


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Du hast schlicht nicht verstanden, was ich gesagt habe.

    Ich hatte selbst geschrieben, dass ich nicht verstehe: Warum Du einerseits auf der Banalität beharrst, dass es nicht "anstößig" gewesen sei, an den Sozialismus zu glauben, andererseits aber ganz sicher bist, dass dieser Glaube bei Schostakowitsch trotz "Morgenröte der Menschheit" usw. keinen Ausdruck in seinen Werken gefunden hat. Den Widerspruch kannst Du anscheinend nicht auflösen.


    Schostakowitsch ästhetisiert das Grauen nicht. Im Gegenteil. Er macht es sichtbar auch im scheinbar Harmlosen.

    Dann bitte ich um den Nachweis, wo im "Lied von den Wäldern" das Grauen des Stalinismus sichtbar ist. Das wäre erstaunlich, denn immerhin wurde dieses Machwerk sogar mit dem Stalinpreis ausgezeichnet. Aber ich kenne das Standardargument: Die sowjetischen Kulturbürokraten waren im Gegensatz zum Publikum einfach zu doof, die versteckte Kritik zu verstehen.


    Sein gequältes Finale wirkt so, dass dies ein im Grunde totunglücklicher Mensch komponiert hat. Wer da nur Propaganda heraushören will, der hat für mich einfach nur taube Ohren für die Botschaft dieser Musik.

    Wie wäre es, wenn Du statt solcher Beschimpfungen diese angebliche Wirkung anhand der Partitur begründest? Sonst ist das wieder mal eine bloße Behauptung.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
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  • Beethoven hat "Wellingtons Sieg" komponiert. Ist Beethoven deshalb ein die Gewalt verherrlichender Komponist?


    Nehmen wir mal rein hypothetisch an, dass nach Beethovens Tod einer seiner Freunde Aussarbeitungen vorgelegt hätte, nach denen Beethoven radikaler Pazifist gewesen sein soll - dann wäre der Umstand, dass er "Wellingtons Sieg" komponiert hat, ein logischer Bruch in dieser Erzählung.


    Sein gequältes Finale wirkt so, dass dies ein im Grunde totunglücklicher Mensch komponiert hat. Wer da nur Propaganda heraushören will, der hat für mich einfach nur taube Ohren für die Botschaft dieser Musik.


    Was wäre denn die Botschaft dieser Musik? "Ich bin gezwungen, ein Jubelwerk über Lenin zu schreiben, damit ich meine Ruhe habe, also schreibe ich ein besonders schlechtes Werk über Lenin" - etwa so?


    Dann müsste man erklären, wieso Schostakowitsch sicher sein konnte, dass alle linientreuen Hörer so schweinsohrig waren, dass ihnen die (angebliche) merkwürdige Faktur dieses Finales nicht aufgefallen ist, während allen systemkritischen Hörern sofort klar war, was Schostakowitsch ihnen damit sagen wollte.


    Außerdem müsste man einen logischen Widerspruch auflösen: Wenn das Sowjet-Regime wirklich so schrecklich war, wie konnte Schostakowitsch dann das Wagnis eingehen, darauf zu bauen, dass diese kompositorische Doppelbödigkeit keinem, aber wirklich auch keinem linientreuen Funktionär auffällt? Wenn es nicht so schrecklich war und mein ein solches Wagnis durchaus eingehen konnte, wieso konnte dieses Regime Schostakowitsch dann überhaupt dazu bringen, ein Stück mit diesem Inhalt zu komponieren?


    Das klingt ein wenig nach Zurechtbiegerei: mal ist es ein schlimmes Terror-Regime, unter dem Schostakowitsch lebte, mal ist es eine Ansammlung tumber Hanswurste mit vollkommener Talentfreiheit zur Erkennung von Ironie und Doppelbödigkeit. Sonderlich plausibel finde ich das nicht.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Nach meinem Endruck versteht Holger Schostakowitsch nicht richtig, weil er mit westlichem Auge und westlicher Erfahrung auf ihn blickt. Dieser Komponist hing dem Kommunismus wie einer Religion unerschütterlich an, zugleich aber fühlte er sich zu Recht von der Nomenklarura bedroht. Dieser Masochismus zieht sich duch viele Biographien, auch durch deutsche Lebensläufe. Nehmen wir mal als ein Beispiel den DDR-Politiker Werner Eberlein. Sein Vater, ein führender KPD-Funktionär aus dem Kreis der Luxemburg, wurde in Moskau 1941 zum Tode verurteilt und erschossen. Für seinen Sohn war das offenkundig kein Grund, auf Distanz zur kommunistischen Idee zu gehen. Er machte später in der DDR Karriere - und das aus vollster Überzeugung. Gewiss war Schostakowitsch ständig von Angst geschüttelt. Sie war sein Wesen, seine Inspiration und hatte nicht primär politische Ursachen. War er ein Hypokonder? Ich nehme das an. Er litt fast sein ganzes Leben lang an einer schweren Lungenkrankheit, was ihn aber nicht davon abhielt, stark zu rauchen. Für mich ist ein glücklicher Schostakowitsch unvorstellbar. In diesem Zustand hätte er nämlich keine Note zu Papier gebracht. Seine Musik empfinde ich oft als manisch-depressiv. Die 12. Sinfonie zeugt davon.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich hatte selbst geschrieben, dass ich nicht verstehe: Warum Du einerseits auf der Banalität beharrst, dass es nicht "anstößig" gewesen sei, an den Sozialismus zu glauben, andererseits aber ganz sicher bist, dass dieser Glaube bei Schostakowitsch trotz "Morgenröte der Menschheit" usw. keinen Ausdruck in seinen Werken gefunden hat. Den Widerspruch kannst Du anscheinend nicht auflösen.

    Darauf habe ich jetzt keinerlei Lust zu antworten, weil das komplett an der Sache vorbeigeht.

    Dann bitte ich um den Nachweis, wo im "Lied von den Wäldern" das Grauen des Stalinismus sichtbar ist. Das wäre erstaunlich, denn immerhin wurde dieses Machwerk sogar mit dem Stalinpreis ausgezeichnet. Aber ich kenne das Standardargument: Die sowjetischen Kulturbürokraten waren im Gegensatz zum Publikum einfach zu doof, die versteckte Kritik zu verstehen.

    Das "Lied von den Wäldern" interessiert mich schlicht und einfach nicht.

    Wie wäre es, wenn Du statt solcher Beschimpfungen diese angebliche Wirkung anhand der Partitur begründest? Sonst ist das wieder mal eine bloße Behauptung.

    Erfahrungen und Erlebnisse stehen in keiner Partitur, sie werden erfahren und werden erlebt. Wer nicht erleben kann, mit dem kann man freilich auch nicht über Erlebnisse reden.

    Was wäre denn die Botschaft dieser Musik? "Ich bin gezwungen, ein Jubelwerk über Lenin zu schreiben, damit ich meine Ruhe habe, also schreibe ich ein besonders schlechtes Werk über Lenin" - etwa so?

    Ich höre hier schlicht und einfach kein "Jubelwerk über Lenin". Entscheidend ist, was man hört. Alles andere Darüberhinwegreden kann man sich ganz einfach sparen.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Nach meinem Endruck versteht Holger Schostakowitsch nicht richtig, weil er mit westlichem Auge und westlicher Erfahrung auf ihn blickt. Dieser Komponist hing dem Kommunismus wie einer Religion unerschütterlich an, zugleich aber fühlte er sich zu Recht von der Nomenklarura bedroht. Dieser Masochismus zieht sich duch viele Biographien, auch durch deutsche Lebensläufe. Nehmen wir mal als ein Beispiel den DDR-Politiker Werner Eberlein. Sein Vater, ein führender KPD-Funktionär aus dem Kreis der Luxemburg, wurde in Moskau 1941 zum Tode verurteilt und erschossen. Für seinen Sohn war das offenkundig kein Grund, auf Distanz zur kommunistischen Idee zu gehen. Er machte später in der DDR Karriere - und das aus vollster Überzeugung. Gewiss war Schostakowitsch ständig von Angst geschüttelt. Sie war sein Wesen, seine Inspiration und hatte nicht primär politische Ursachen. War er ein Hypokonder? Ich nehme das an. Er litt fast sein ganzes Leben lang an einer schweren Lungenkrankheit, was ihn aber nicht davon abhielt, stark zu rauchen. Für mich ist ein glücklicher Schostakowitsch unvorstellbar. In diesem Zustand hätte er nämlich keine Note zu Papier gebracht. Seine Musik empfinde ich oft als manisch-depressiv. Die 12. Sinfonie zeugt davon.

    Das Phänomen verstehe ich glaube ich doch ganz gut, denn seit meinen Studienzeiten beschäftige ich mich intensiv mit dem Phänomen des Totalitarismus und totalitären Ideologien im 20. Jhd. Dass es solche für totalitäre Systeme typischen Biographien gibt wie Schostakowitsch, die zugleich Anhänger einer Ideologie sind und sich davon kritisch distanzieren, ist in der Tat nicht auf den Westen oder Osten beschränkt. Deutsche Intellektuelle im Nationalsozialismus gaben dafür ein exemplarisches Beispiel. Der Marxismus ist eine Ideologie des 19. Jhd., der als solcher eine Ideologie ist, aber an sich noch nicht totalitär. Die totalitäre Ideologien des 20. Jhd. kennzeichnet, dass sie sich von ihrer eigenen Ideologie gleichsam emanzipieren. Das ist im Stalinismus der berüchtigte "Zickzackkurs der Parteilinie", von dem auch Schostakowitsch betroffen war. Mal durfte er relativ frei komponieren, dann wieder wurde er des "Formalismus" bezichtigt. Der Totalitarismus entmachtet den Ideengehalt der Ideologie, ihre normative Verbindlichkeit, durch die Willkür totalitärer Handlungen, etwa der Parteitagsbeschlüsse. Das Tragische bei Schostakowitsch ist, dass er (wie viele andere Intellektuelle auch) diesen totalitären Zug nicht wirklich begriffen hat und sich Illusionen machte, wenn er an den Kommunismus glaubte und seine normativ verbindliche Kraft, die er in der totalitären Bewegung des Stalinismus längst verloren hatte. Genau dieses Missverständnis schafft ihm aber andererseits den Freiraum, sich vom System zu distanzieren und sich nicht vollständig in diesem System zu kompromittieren, sondern seine Authentizität zu wahren. Das ist ihm tatsächlich gelungen - was allerdings eine Gratwanderung ist und ein ewiges Leiden bedeutet. Von dieser Tragödie zeugt seine Musik.


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Zu Schostakowitschs 12. Symphonie gibt es im speziellen Thread einen doch lesenswerten Beitrag von Edwin Baumgartner:


  • Darauf habe ich jetzt keinerlei Lust zu antworten, weil das komplett an der Sache vorbeigeht.

    Nein, das geht es nicht, aber natürlich steht es Dir frei, Deine eigenen Widersprüche unaufgelöst zu lassen.


    Das "Lied von den Wäldern" interessiert mich schlicht und einfach nicht.

    Auch ok, aber dann solltest Du auch nicht behaupten, es sei ein "komplett absurdes Vorurteil", dass Schostakowitsch solche Werke geschrieben hat.


    Erfahrungen und Erlebnisse stehen in keiner Partitur, sie werden erfahren und werden erlebt. Wer nicht erleben kann, mit dem kann man freilich auch nicht über Erlebnisse reden.

    Du wolltest also nicht über Schostakowitsch reden sondern über Dich. Hättest Du das gleich gesagt, hätten wir uns die Diskussion sparen können.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Nein, das geht es nicht, aber natürlich steht es Dir frei, Deine eigenen Widersprüche unaufgelöst zu lassen.

    Die Widersprüche bestehen nur in Deinem Kopf.

    Auch ok, aber dann solltest Du auch nicht behaupten, es sei ein "komplett absurdes Vorurteil", dass Schostakowitsch solche Werke geschrieben hat.

    Vielleicht liest Du mal genau nach, was ich dazu geschrieben habe, statt solche Absurditäten zu schreiben.

    Du wolltest also nicht über Schostakowitsch reden sondern über Dich. Hättest Du das gleich gesagt, hätten wir uns die Diskussion sparen können.

    Die ästhetische Erfahrung steht nunmal nicht in der Partitur. Aber wenn Du nicht weißt, was das ist... ^^

  • Die Diskussion zwischen Euch beiden zeigt das Dilemma, in dem sich Schostakowitsch befindet. Wir Deutschen richten gerne über die Welt, folglich wird Vieles einer moralischen Bewertung unterzogen. Kafkaesk ist das oft genug, da oft genug Schlagwortkategorien aufgestellt werden, deren Schlagwörter mit je anderen Vorstellungen behaftet sind, wenn sich mehrere am Gespräch beteiligen.


    Die Einschätzung seiner politischen Haltung hat meiner Erinnerung nach in Deutschland keine Rolle gespielt, bis zu den Würdigungen zu seinem 100sten. In der Sowjetunion hat die junge Generation ihm den Beitritt zur KpdSU verübelt, war dann aber mit dem Erscheinen von Sinfonie Nr. 13 wieder beschwichtigt.


    Dass ein Künstler auch politische-moralischer Wertung stand halten muss scheint mir eher neu zu sein, und ich persönlich tue das als woken Unfug ab.


    Vielleicht hilft bei der Einschätzung von Schostakowitsch, dass es in Russland noch nie in der Geschichte etwas wie Meinungs-oder geistige Freiheit gegeben hat, ebensowenig wie Demokratie. Eine Rückbesinnung Schostas auf Russland ist lediglich die Wahl einer anderen Totalitarität. Folglich ist aber auch das Tauwetter unter Chrustschow -ohnehin nur eine kurze Epoche- nichts, woran Erwartungen an Radikalveränderungen geknüpft werden. Ob Zar, Stalin, Chrustschow oder Breschnew, es gibt keine sichere Konstante, und da Russland/Sowjetunion so etwas wie eine deutsche Verwaltung, die einen politischen Willen bis in die kleines Kommune vermitteln und durchsetzen kann, gar nicht kannte/kennt, kam überall noch lokale Willkür hinzu. Und mittendrin: Dimitri Dimitriewitsch. Opportunismus war auch nicht immer hilfreich, wie das Beispiel Maria Grinberg zeigt. Sie und ihr Mann waren Parteimitglieder, wurden aber denunziert. Mann verhaftet und hingerichten, Vater verhaftet und hingerichtet, die Grinberg künstlerisch kaltgestellt. Auch wenn sie innerhalb der Sowjetunion nach Stalins Tod noch eine beachtliche Karriere machte, zeitlebens wurde sie behindert und von angmessenen wichtigen Ämtern ferngehalten. Selbst der Toten wollte man noch eine angemessene Gedenkfeier verweigern. Ganz offensichtlich hat politisches Kalkül nichts genützt, so daß man bei Schostakowitsch wohl am ehesten von Momentreaktionen ausgehen muss, Risikoabwägungen, etwa die zurückgezogene vierte Sinfonie oder die Umstände der Uraufführung von Sinfonie Nr. 13.


    "Das Lied von den Wäldern" Propagandemusik? Mag wohl sein, auch Propagandamusik kann schön sein, und ich höre das Werk offen gestanden ganz gerne. Das ich kein russisch kann und folglich den Text nicht verstehe hält diese inhaltliche mögliche Verstimmung ohnehin von mir fern. Ich sehe aber auch grundsätzlich keine Notwendigkeit, Musik auf Kompatibilität mit unseren westlichen Werten abzuklopfen. Es ist, wie es ist, und ich höre die Werke ohnehin mit meinen westlichen Ohren, wie Russen die Musik empfinden vermag ich nicht zu sagen. Beim Hören der Aufnahmen bevorzuge ich sowjetische Aufnahmen -und ich betone: sowjetisch- da sich der Orchesterklang nach dem Fall es Iron Curtain völlig geändert hat. Bei Nr. 7 gibt es Aufnahmen, aus denen ich die zeitbedingte Betroffenheit heraushöre, etwa Celibidache mit den Berlinern kurz nach dem Fall Berlins, Karl Eliasberg mit den Leningradern in Prag, Svetlanov, der die wohl packendste Aufnahme des Werkes geliefert hat. Das kriegt heute keiner mehr hin, alles viel zu glatt poliert, und da, wo's rauh wird, scheint es eingenommene Pose zu sein. Um in Holgers Worten zu sprechen: so erlebe ich die Aufnahmen.


    Und da wir von Erleben sprechen: das ist auch immer individuell. 2003 hörte ich in Jena eine packende Aufnahme von Schostas 5. Was ich im Ohr behilt war der Schluss des vierten Satzes mit seiner Streicherattacke auf dem a, was in der Einführung als Schostas versteckter Trotz "Ich-Ich-Ich" also ein A=Ich erläutert wurde. Einprägend genug ist diese Abfolge von As bis zum Endes des Satzes genug. Als ich tags drauf auf der Sahle von Kahla nach Jena Kajak fuhr hatte ich immer wieder diesen Satzschluss im Ohr, der das Gefühl vermittelte, man begäbe sich in die Unerreichbarkeit und Unangreifbarkeit des offenen Meeres, von einem Hafen ausgehend, der immer kleiner, zum Schluß ein Punkt wurde. Unwillkürlich brachte ich diese Musikwahrnehmung mit dem Nachdenken über meine damalige Ehe zusammen, mit dem Ergebnis, dass ich -was ich zuvor stets verwarf- zur Auffassung gelangte, dass dies Ehe an ihr Ende gelangt sei (wurde auch später geschieden, sehr einvernehmlich).


    Hat das was mit Schosterkowitsch zu tun? Ja, definitiv ja. Es zeigt die assoziative Kraft, die in seinem Werken liegt. Muss ich ihn richten? Nein, für was? Muss ich ihn werten? Nein. Darf ich ihn nehmen wie er war? Klar doch, es ist unerheblich. Und ich lande bei seinem Werk. Und das ist ist großartig, mit allen Stärken und Schwächen.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Seine Musik empfinde ich oft als manisch-depressiv. Die 12. Sinfonie zeugt davon.

    Die Zwölfte ist nach meiner Beobachtung noch immer unterschätzt. Zwar ist die Ablehnung heute nicht mehr ganz so extrem, doch gilt sie nach wie vor als eine der schwächsten Sinfonien von Schostakowitsch (lediglich die Zweite und besonders die Dritte dürften noch schlechter wegkommen). Ich habe die Zwölfte gewiss häufiger gehört als viele andere seiner Sinfonien, was nicht zuletzt an der relativen Kompaktheit liegt, die einen kompletten Hördurchgang leichter ermöglicht als bei manch anderem Werk. Mir scheint, man sollte bei der Nr. 12 auch eine Aufnahme erwischen, die das Beste herausholt. So sehr ich Mrawinski, Roshdestwenski und Kondraschin schätze, ist mein langjähriger Favorit bei der Zwölften nach wie vor ein anderer: Im Oktober 1967 gab es eine Koproduktion der ostdeutschen Eterna mit Philips, die mit dem Gewandhausorchester Leipzig und dem armenischen Dirigenten Ogan Durjan (1922-2011) produziert wurde. Durjan war in der DDR kein Unbekannter, sondern ein oft eingeladener Gastdirigent aus der Sowjetunion und galt sowohl nach dem Tode Franz Konwitschnys (1962) als auch nach dem Abgang Václav Neumanns (1968) als möglicher Gewandhauskapellmeister, was ihm aber beide Male aus politischen Gründen versagt blieb. Jedenfalls entstanden in den 60er Jahren einige hörenswerte Einspielungen, von denen besagte Zwölfte von Schostakowitsch künstlerisch ganz besonders herausragt. Die schwere Verfügbarkeit (es gab nur eine einzige CD-Auflage Anfang der 90er; Barcode 028943417228) ist sicherlich ein Grund, wieso sich das bis heute kaum herumgesprochen hat. Wie ich nun entdeckte, ist die Aufnahme mittlerweile zumindest bei den Streaming-Diensten verfügbar (Suchbegriff: "Durjan Shostakovich"). Die auf dem Album ebenfalls enthaltene Einspielung der "Hinrichtung des Stepan Rasin" unter Herbert Kegel ist übrigens nicht minder gelungen.


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    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Die Diskussion zwischen Euch beiden zeigt das Dilemma, in dem sich Schostakowitsch befindet. Wir Deutschen richten gerne über die Welt, folglich wird Vieles einer moralischen Bewertung unterzogen. Kafkaesk ist das oft genug, da oft genug Schlagwortkategorien aufgestellt werden, deren Schlagwörter mit je anderen Vorstellungen behaftet sind, wenn sich mehrere am Gespräch beteiligen.


    Die Einschätzung seiner politischen Haltung hat meiner Erinnerung nach in Deutschland keine Rolle gespielt, bis zu den Würdigungen zu seinem 100sten. In der Sowjetunion hat die junge Generation ihm den Beitritt zur KpdSU verübelt, war dann aber mit dem Erscheinen von Sinfonie Nr. 13 wieder beschwichtigt.


    Dass ein Künstler auch politische-moralischer Wertung stand halten muss scheint mir eher neu zu sein, und ich persönlich tue das als woken Unfug ab.

    Es lässt sich ja wohl kaum bezweifeln, dass eine poltische Aussage untrennbarer Bestandteil einer nicht unerheblichen Zahl von Schostakowitschs Werken ist. Sich damit zu beschäftigen ist folglich nicht "woker Unfug" sondern eine logische Folge des Bemühens um angemessene Rezeption und Verständnis. Es sei Dir die private Freude gegönnt, das "Lied von den Wäldern" zu hören, ohne den Text zu verstehen bzw. zur Kenntnis zu nehmen, aber logischerweise kann das keine adäquate Rezeptionsform einer Vertonung eben dieses Textes sein. Ich "richte" auch nicht über den Homo Politicus Schostakowitsch, schon gar nicht "über die Welt", sondern ich beurteile die stark unterschiedliche ästhetische Qualität seiner Werke, die vom Meisterwerk bis zum Schund reichen, und denke darüber nach, wie diese Schwankungen zu erklären sind. Dabei überzeugt mich weder die Kalethasche Auslagerung der misslungenen Werke in eine "Bad Bank" zur Rettung der anderen, noch die Umdeutung alles Affirmativen in ironisch verpackte heimliche Regimekritik. Angenommen, ein Stück wie die 12. Symphonie stammte nicht von Schostakowitsch sondern von Chrennikow: Dann würde kein Mensch daran zweifeln, dass es sich um ein übles Propagandamachwerk handelt. Steckt dahinter also nicht doch eher der westliche Wunsch, den Komponisten als heimlichen Dissidenten zu vereinnahmen, als eine unvoreingenommene Rezeption der Werke? Zu letzterer gehört selbstverständlich auch eine Betrachtung der Umstände ihrer Entstehung. Wer wie Dr. Kaletha allen Ernstes den zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution als ein für einen sowjetischen Komponisten "ephemeren Anlass" bezeichnet, hat davon offensichtlich wenig begriffen. Aber die auch hier wieder so vehement verteidigte Wolkowsche Deutung der Leningrader Symphonie bedeutet ja wohl auch, dass der quälend langsame Tod von einer Millionen russischer Zivilisten nur ein "ephemerer Anlass" war, der für sich genommen keinesfalls das Schreiben einer Symphonie rechtfertigte. Wenn diese Deutung stimmte, dann wäre das tatsächlich ein Grund, den Komponisten moralisch zu verurteilen. Zum Glück hat Wolkow sie frei erfunden. Er hat damit als Autor einen Welterfolg gelandet und hat zahlreichen anderen, darunter auch Schostakowitschs Sohn Maxim, gute Geschäfte ermöglicht. Ich kann jedenfalls an keinen Zufall glauben, dass Maxim bis zu seiner Emigration in die USA die "Memoiren" stets als Fälschung bezeichnet hat, dann aber plötzlich darin "die Sprache meines Vaters" und natürlich die ihm von Wolkow in den Mund gelegten poltischen Ansichten wiederzuerkennen behauptete. Seine folgende Karriere hat das nicht nur befeuert sondern erst ermögicht.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Es stimmt übrigens auch nicht, dass er den ersten Satz der Leningrader Symphonie schon vor dem Einmarsch der Deutschen "konzipiert" habe: Er hat 1940 eine Passacaglia komponiert (aber nicht veröffentlicht), die er dann in der Durchführung des ersten Satzes verwendete. Mit der Komposition der Symphonie begann er am 19.7.1941, also knapp vier Wochen nach dem deutschen Überfall. Dass die Symphonie eine Reaktion darauf darstellt, steht ohne jeden Zweifel fest.

    Laut Wiki entstand aus dieser Passacaglia der wesentliche Teil des ersten Satzes, eben die Variationen, die wie im Bolero von einer (militärisch anmutenden) kleinen Trommel vorangetrieben werden. Die zentrale Keimzelle der Symphonie stammt also aus der Zeit vor der Belagerung - und der ganze erste Satz scheint auch vor der Belagerung fertig geworden zu sein:


    „Das Thema des ersten Satzes schrieb Schostakowitsch vor Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges, um 1939 oder 1940. Dies waren Variationen in Form einer Passacaglia, mit einem ähnlichen Aufbau wie beim Bolérovon Ravel: ein einfaches Thema, zunächst harmlos, das vor dem Hintergrund des trockenen Klopfens einer kleinen Trommelkraftvoll anwächst und sich zu einem furchterregenden Symbol der Unterdrückung entwickelt. Der Komponist zeigte diese Arbeit 1940 Kollegen und Studenten, führte sie aber nicht öffentlich auf. Im Sommer 1941, als Schostakowitsch eine neue Sinfonie zu schreiben begann, wurde die Passacaglia zu einer großen Folge von Variationen und trat an die Stelle der Durchführung im ersten Satz, der im August 1941 abgeschlossen wurde.


    Am 8. September 1941 begann die Leningrader Blockade durch die schnell vorgerückten deutschen Truppen. Im schon belagerten Leningrad schrieb Schostakowitsch im Laufe des Monats September den zweiten und dritten Satz der Sinfonie.“



  • Laut Wiki entstand aus dieser Passacaglia der wesentliche Teil des ersten Satzes, eben die Variationen, die wie im Bolero von einer (militärisch anmutenden) kleinen Trommel vorangetrieben werden. Die zentrale Keimzelle der Symphonie stammt also aus der Zeit vor der Belagerung, aber durch die Belagerung scheint sie dann diese monumentale Dimension angenommen zu haben

    Ja, aber selbstverständlich ist der semantische Gehalt einer musikalischen Idee vom Kontext abhängig. Ich kenne diese unveröffentlichte Passacaglia nicht, aber fest steht, dass sie im Gegensatz zur "Invasionsepisode" erstens für sich stand, und dass zweitens diese "Episode" keine Passacaglia ist. Sie steht in der Symphonie an der Stelle, wo eigentlich die Durchführung erwartet wird, stellt dort also einen monströsen Fremdkörper dar. Da kann man natürlich nicht behaupten, die "Semantik" sei "schon vorher festgelegt" worden, nur weil sie auf einer früheren Idee basiert.

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  • Ich hatte meinen Text noch einmal korrigiert (siehe weiter oben), offenbar ist der ganze erste Satz mit diesen irren 11 Variationen vor der Belagerung entstanden, man kann also durchaus sagen, dass der Satz vorher konzipiert wurde. Mir geht es hier aber wirklich nicht ums Rechthaben - ich kenne mich bei Schostakovich nicht besonders gut aus - sondern ich versuche seit Jahren einen Zugang zu dieser Musik zu finden, bislang vergeblich. Und diese interessante Diskussion hier ist für mich nur eine weitere Gelegenheit. Wahrscheinlich aber nur eine weitere vergebliche.

  • Ich hatte meinen Text noch einmal korrigiert (siehe weiter oben), offenbar ist der ganze erste Satz mit diesen irren 11 Variationen vor der Belagerung entstanden, man kann also durchaus sagen, dass der Satz vorher konzipiert wurde.

    Nein, das kann man nicht sagen: Der erste Satz beginnt mit einer ganz normalen, "klassischen" Exposition aus zwei kontrastierenden Themen, die nichts mit irgendeiner Passacaglia zu tun hat. Erst dann kommt an Stelle einer Durchführung die "Invasionsepisode". Die ganze Anlage als Sonatensatz mit dem "Fremdkörper" an zentraler Stelle ist nach dem 19. Juli 1941 entstanden.

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  • Die Belagerung Leningrads begann am 8. September und laut Wiki (siehe oben) wurde der gesamte erste Satz vorher fertig.

    Ja, das ist mir bewusst. Aber Dr. Kaletha hatte behauptet, der Satz sei "vor dem Einmarsch der Deutschen konzipiert" worden. Der war aber nicht am 8. September sondern am 22. Juni 1941. Die Behauptung ist deshalb falsch. Anlass für die Symphonie war der Überfall, nicht die Blockade.

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  • Ich hatte meinen Text noch einmal korrigiert (siehe weiter oben), offenbar ist der ganze erste Satz mit diesen irren 11 Variationen vor der Belagerung entstanden, man kann also durchaus sagen, dass der Satz vorher konzipiert wurde.

    Erwachendes Interesse an Schostakowitschs Sinfonien, man verzeihe mir.


    Ich finde in der Wikipedia zur siebten Sinfonie das folgende Zitat


    Zitat von Wikipedia zu Schostakowitschs 7. Sinfonie

    Das Thema des ersten Satzes schrieb Schostakowitsch vor Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges, um 1939 oder 1940. Dies waren Variationen in Form einer Passacaglia, mit einem ähnlichen Aufbau wie beim Boléro von Ravel: ein einfaches Thema, zunächst harmlos, das vor dem Hintergrund des trockenen Klopfens einer kleinen Trommel kraftvoll anwächst und sich zu einem furchterregenden Symbol der Unterdrückung entwickelt. Der Komponist zeigte diese Arbeit 1940 Kollegen und Studenten, führte sie aber nicht öffentlich auf. Im Sommer 1941, als Schostakowitsch eine neue Sinfonie zu schreiben begann, wurde die Passacaglia zu einer großen Folge von Variationen und trat an die Stelle der Durchführung im ersten Satz, der im August 1941 abgeschlossen wurde.


    Das deutet doch klar darauf hin, dass nur Material der Passacaglia (wie Thema) verwendet wurde und das Konzept für die siebte später entstanden ist, oder überlese ich da gerade etwas? Ich bin mir bewusst, dass die Wikipedia natürlich auch nicht der Urquell historischer Wahrheit sein muss.

  • Das deutet doch klar darauf hin, dass nur Material der Passacaglia (wie Thema) verwendet wurde und das Konzept für die siebte später entstanden ist, oder überlese ich da gerade etwas? Ich bin mir bewusst, dass die Wikipedia natürlich auch nicht der Urquell historischer Wahrheit sein muss.

    Genauso ist es. Wikipedia ist heute (das war am Anfang nicht so) eine durchaus seriöse Quelle - wird redaktionell evaluiert. Deswegen hatte ich gesagt, dass die Semantik dieser Durchbruchs-Einbruchspassage vorher festgelegt ist und von daher das, was Volkov überliefert, dass Schostakowitsch gesagt hätte, dass Hitler nur vollendet hat, was Stalin begann, eben eine Grundlage in der Komposition hat. Vom thematischen Material her gibt es Bezüge zu Schostakowitschs Oper (dem "Gewalt-Thema"), weswegen er bei der Partei in Ungnade fiel und zu Gustav Mahler - die ironisch-giftige Lehar-Parodie. Man kann das also mit gutem Grund als den Ausdruck der Banalität des Bösen verstehen, das da in eine Idylle einbricht und sich ins Monströse steigert. Die Umstände der Uraufführung in Leningrad während der deutschen Belagerung haben dazu geführt, dass dies programmatisch als Einmarsch der Deutschen rezipiert wurde. Das ist theoretisch dann eine Frage der musikalischen Hermeneutik und der Rezeptionsästhetik. Man kann diese Semantik so rezipieren - das ist aber nicht (meine Meinung) die Aussage und der Ausdrucksgehalt der Symphonie, sondern eine (durchaus legitime) Konkretisation dieser Aussage.

  • Deswegen hatte ich gesagt, dass die Semantik dieser Durchbruchs-Einbruchspassage vorher festgelegt ist und von daher das, was Volkov überliefert, dass Schostakowitsch gesagt hätte, dass Hitler nur vollendet hat, was Stalin begann, eben eine Grundlage in der Komposition hat.

    Das ist wirklich ein starkes Stück. Du biegst Deine eigene Aussage nachträglich zurecht und verfälschst sie, nur um Recht zu behalten. Du hattest geschrieben, Schostakowitsch hätte "den ersten Satz" (und nicht, wie Du jetzt behauptest, die Invasionsepisode) "schon vor dem Einmarsch der Deutschen konzipiert". Das ist und bleibt falsch. Das Konzept dieses Satzes besteht vor allem darin, dass diese Durchführung keine thematische Verarbeitung des Materials der Exposition sondern ein Fremdkörper ist. Die semantische Bedeutung der als Material verwendeten Passacaglia ist also im Kontext des Satzes eine ganz andere. Den Satz hat Schostakowitsch am 19. Juli 1941 als Reaktion auf den Überfall der Deutschen begonnen (die Episode wird deshalb üblicherweise auch "Invasionsepisode" genannt und nicht "Belagerungsepisode").

    Schlimmer als Dein durchsichtiger Versuch, Deine Aussage nachträglich zurechtzufrisieren ist aber Deine Schlussfolgerung:

    Der Einmarsch der Deutschen begann am 22. Juni 1941 und hatte das erklärte Ziel, einen großen Teil der sowjetischen Bevölkerung zu vernichten. Dieser Massenmord wurde vom ersten Tag an in die Tat umgesetzt. Schostakowitsch meldete sich am ersten oder zweiten Tag und dann noch zweimal als Freiwilliger zur Roten Armee, wurde aber abgewiesen. Gegen eine beabsichtigte Evakuierung in den Osten wehrte er sich und blieb statt dessen freiwillig in Leningrad, wo er dann die neue Symphonie begann. Über das Werk schrieb er: "Ich wollte ein Werk für unsere Menschen schreiben, die in ihrem im Namen des Sieges geführten Kampf gegen den Feind zu Helden werden. (...) Meine Symphonie Nr. 7 widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem sicheren Sieg über den Freind und meiner Heimatstadt Leningrad." Die von Dir genannte "ironisch-giftige Lehar-Parodie" zitiert mit der "Lustigen Witwe" die Lieblingsoperette Hitlers, nicht Stalins.

    Was Wolkow betreibt, und was ihm seine Anhänger wie Du allzu gern abnehmen, ist angesichts dieser Faktenlage nichts anderes als Geschichtsklitterung: Aus Schostakowitschs unbezweifelbarer Reaktion auf den Deutschen Einmarsch und die mit ihm vom ersten Tag an verbundenen unvorstellbaren Verbrechen wird eine persönliche Abrechnung des Komponisten mit Stalin und den sowjetischen Kulturbürokraten. Diese Fälschung bedeutet nichts anderes als die Unterstellung, Schostakowitsch habe sich einen Dreck um den millionenfachen Mord und die unvorstellbaren Leiden gekümmert, oder er habe das alles - um Deine Worte aufzugreifen - für einen "ephemeren Anlass" gehalten. Wie man daran glauben und gleichzeitig Schostakowitsch für einen moralisch integren Menschen halten kann, ist mir allerdings ein Rätsel.

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  • Über Schostakowitschs Absicht in Bezug auf seine 7. Sinfonie sollte wenig Zweife bestehen. Im Jahr 1941 entstand ein Filmchen, in dem er Fragmente der 7. Sinfonie spielt und sich zu dem Werk äußert. ""My 7th symphony comes as an echo of the threatening events of the year 1941. I dedicate this composition to our war on fascism, to our upcoming victory over that enemy, to my home city of Leningrad. Now I'm going to play an extract from the first part of the 7th symphony."



    Und was für ein Aufwand wurde um das Werk getrieben: während Schosta inLeningrad blieb, wurde die Partitur ausgeflogen, das Werk erlebte eine Ur-Aufführung unter Samuel Feinberg, eine weitere dirigierte Mrawinski, der stiften gegangen war, wie einige andere Künstler auch, für die offizielle Uraufführung, die auch im Rundfunk übertragen wurde trat Karl Eliasberg ans Pult der durch Krieg extrem geschwächten Leningrader. Um diese Aufführungen sicherzustellen hatten die Sowjets noch flink ein paar deutsche Stellungen angegriffen. Leider gibt's davon keinen Mitschnitt, aber eine Aufnahme aus späteren Jahren, bei der Eliasberg mit den Kriegsveteranen des Orchesters plus weiteren die Leningrader Sinfonie in Prag dirigierte.


    Die Welt-Uraufführung leitete wohl Arturo Toscanini, dies wohl vor allem als Anti-Hitler-Statement der Amerikaner. Wie auch immer, davon gibt's einen Mitschnitt:



    Eine unglaublich kompassionierte Aufnahme ist jene von Sergiu Celibidache, der die deutsche Erstaufführung im zerstörten Berlin dirigierte.



    Wozu schreibe ich das alles? Weil ich der tiefsten Überzeugung bin, dass Schostakowitsch sich dergestalt als Sowjetbürger verstand, dass er den sowjetischen Widerstand gegen das deutsche Pack musikalisch ausdrückte. Es geht hier nicht um die Einordnung in ein historisches großes Ganzes, gleichsam Geschichte am Reißbrett, sondern um die indviduelle Wahrnehmung Schostakowitschs.


    Wenn Komponisten solche Werke schreiben, nennen wir zusätzlich Beethoven mit "Wellingtons Sieg", dann ist das kein allgemeine Statement zu Krieg und Frieden, sondern Ausdruck einer zeitbezogenen individuellen Betroffenheit. Mal ganz abgesehen davon, daß "Wellingtons Sieg" für einen Automaten geschrieben wurde und es gut 150 Jahre später erst Antal Dorati vorbehalten war eine Perkussin-Section mit Orginalgeschützen zu bilden und aufzunehmen war Beethoven schlichtweg über die Niederlage Napoleons erfreut. Schostakowitsch gibt mit seiner 7. Sinfonie ein ebensolches zeitbezogenes Statement ab.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Interessant finde ich, dass während der Blockade Leningrads 192 Werke sowjetischer Komponisten entstanden, darunter neun Symphonien, acht Opern, 16 Kantaten und fünf Ballette (nach Krzysztof Meyer, "Schostakowitsch"), dass aber Schostakowitschs Symphonie von vornherein alles andere an Aufmerksamkeit weit überstrahlte. Es gibt einige sehr bewegende Berichte von Zeitgenossen, die die Ur- bzw. Erstaufführungen erlebt haben und ihre patriotischen Gefühle schildern, die die Musik auslöste. Ein Musikwissenschaflter berichtete z.B. von der Moskauer Erstaufführung, bei der während des zweiten Satzes Fliegeralarm ausgelöst wurde, aber alle Besucher dennoch auf ihren Plätzen blieben. Nach dem optimistischen Finale sei die "stürmische Ovation" übergegangen in "eine leidenschaftliche Manifestation patriotischer Gefühle". Für die Uraufführung (die nicht unter Samuel Feinberg sondern unter Samuil Samossud stattfand) wurden - wohlgemerkt wenige Monate nach dem deutschen Überfall und in höchster militärischer Bedrängnis - extra Musiker von der Front zurückgerufen.

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  • Die "Leningrader" schlug tatsächlich allerorten ein. Selbst Dirigenten, die man sonst nicht mit Schostakowitsch in Verbindung bringt, wie der bereits genannte Arturo Toscanini, konnten sich dem nicht entziehen. Wenn ich mich nicht irre, war der Komponist selbst von Toscaninis Darbietung nicht hundertprozentig angetan (oder war auch das nur Wolkows Behauptung?). Die Aufführung Toscaninis mit dem NBC Symphony Orchestra war in der Tat die US-Erstaufführung (19. Juli 1942 im Studio 8H, Manhattan, New York). Damals, zwischen 1941 und 1944, war indes Leopold Stokowski Chefdirigent des NBC-Orchesters. Es gab einen regelrechten Wettstreit, wer die amerikanische Erstaufführung leitet. Toscanini setzte sich durch, obwohl Stokowski fraglos mehr Schostakowitsch-Erfahrung hatte: Er dirigierte die US-Premieren der Dritten und Sechsten und interessierte sich allgemein viel mehr für zeitgenössische Musik als Toscanini, der die Leitung der US-Premiere der Fünften noch ablehnte. Im selben Jahr 1942 kam gleichwohl auch noch Stokowski zum Zuge: Die Aufführung vom 13. Dezember 1942 wurde ebenfalls von der NBC mitgeschnitten. Beide Mitschnitte erschienen erst deutlich später auf Tonträger: Die Toscanini-Aufnahme 1967 auf LP, die Stokowski-Aufnahme gar erst 1993 auf CD. Dies ermöglicht heutzutage den direkten Vergleich.



    Spielzeiten:


    Toscanini: 28:52 - 10:44 - 17:59 - 14:41

    Stokowski: 28:30 - 10:55 - 18:04 - 15:55

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    – Luís de Camões

  • (die nicht unter Samuel Feinberg sondern unter Samuil Samossud stattfand)

    Das stimmt, danke für die Korrektur. Die Leningrader Uraufführung wurde allerdings tatsächlich von Karl Eliasberg dirigiert. Von dieser Aufführung ist auch bekannt, dass Musiker von der Front abberufen wurden.


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  • Die Leningrader Uraufführung wurde allerdings tatsächlich von Karl Eliasberg dirigiert. Von dieser Aufführung ist auch bekannt, dass Musiker von der Front abberufen wurden.

    Ja, das stimmt. Über diese Aufführung gab es vor ein paar Jahren im TV einen unsäglich schlechten Film, dessen Titel ich zum Glück vergessen habe...

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