Überhört hast Du anscheinend etwas, nämlich die Werke, in denen er genau das getan hat: die Staatsideologie plakativ rauszuposaunen. Oder welche versteckte Botschaft ist in den grauenvollen Propaganda-Chorabschlüssen der 2. und 3. Symphonie, dem gewaltverherrlichenden "Lied von den Wäldern" oder der Schund-Kantate "Über unserer Heimat strahlt die Sonne" verborgen?
Nein, ich habe überhaupt nichts überhört. Ich bin nur in der Lage, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Man kann natürlich auch die Qualität von Brahms an diesem fürchterlichen Triumphlied von 1870 messen, das musikalische Propaganda ist für Kaiser Wilhelm I. und das deutsche Kaiserreich und den Sieg über die Franzosen feiert. Wenn man dies im Falle von Brahms nicht tut, aber solche aus ephemerem Anlass geschriebenen Werke wie die 2. Symphonie von Schostakowitsch als Einwand gegen die Lebensleistung des Komponisten Schostakowitsch nimmt, dann ist das tendentiös, unsachlich und rein polemisch. Bei der 2. Symphonie von Schostakowitsch, die eigentlich eine Kantate ist, handelt es sich um die Komposition eines 20igjährigen (!), ein Auftragswerk der Propagandabteilung des sowjetisch-staatlichen Musikverlages für die Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution 1927. Schostakowitsch selbst hat das Werk sehr kritisch gesehen (den Text bezeichnete er selbst in einer Äußerung als "fürchterlich") und seinem Sohn Maxim gesagt, dass er es nicht dirigieren soll. Das steht nicht etwa bei Wolkow, sondern ist durch Maxim Schostakowitsch überliefert. Auch bei dem "Lied von den Wäldern" sollte man die Zeitumstände berücksichtigen. Komponiert ist es 1949 und eine Folge des Shdanow-Dekretes von 1948, wo Schostakowitsch erneut des "Formalismus" bezichtigt wird. Komponisten wie Prokofieff und Schostakowitsch verfuhren damals als Komponisten zweigleisig, um als seriöse Musiker in dieser Zeit des Stalinismus überhaupt überleben zu können. (Prokfieff verstarb ironischer Weise 1953 am selben Tag wie Stalin.) Sie komponierten in zwei Kategorien: einmal in einem dem Staat und der Staatsführung genehmen Stil, um damit frei zu bleiben, um komplexe, anspruchsvolle Werke der zweiten Kategorie zu schaffen. Bei diesem Lied, das zur ersten Kategorie gehört, geht es um die Wiederaufforsterungsprogramme von Stalin. Dabei ist es kompositorisch durchaus nicht anspruchslos mit Reminiszenzen an Tschaikowsky und Gustav Mahler. Schostakowitsch hatte sogar Angst wegen der Fuge, die er verwendet, wiederum des "Formalismus" bezichtigt zu werden. Er selbst schämte sich für dieses Werk. Vor der Uraufführung meinte ein Freund von ihm, dass er es bedauerlich fände, dass er das Lied nicht der niederländischen Königin widmen könne. Darauf antwortete Schostakowitsch: "Für die Musik übernehme ich die Verantwortung, aber für die Worte..." Schostakowitsch selbst unterschied also zwischen seinen seriösen Kompositionen und solchen zweifelhaften, die erzwungener Maßen komponiert wurden, damit er als Komponist im Sowjetstaat überleben konnte. Eine solche Differenzierung sollte der Rezipient von heute auch in der Lage sein, sie zu machen, und nicht alles bei Schostakowitsch in einen Topf werfen.
Dagegen empfinde ich ja sogar das bombastische Jubelfinale der Leningrader Symphonie noch in gewisser Weise als gelungen, auch wenn es kompositorisch ähnlich schwach ist, aber immerhin als zeitgebundener Ausdruck des Optimismus während des deutschen Vernichtungskrieges seine fürchterliche Berechtigung hatte.
Wo ist durch die musikwissenschaftliche Fachliteratur allgemeinverbindlich belegt, dass die 7. Symphonie kompositorisch schwach sei? Außerdem ist das Finale nun wirklich kein "bombastisches Jubelfinale". Mahlers Finale seiner 7. Symphonie ist viel "positiver" als dieses, von schmerzlichen Tönen durchzogen in Abwechslung mit grotesken Elementen.
Aber ich weiß: Solomon Wolkow hat ja geschrieben, dass das Thema der Symphonie nicht etwa die Kleinigkeit von einer Millionen verhungerter Zivilisten im von den Deutschen belagerten Leningrad und die Hoffnung auf einen sowjetischen Sieg gegen die Deutschen ist, sondern Stalins Verbrechen vor dem Krieg, zu denen Hitler (das steht da wörlich!) "nur den Schlusspunkt" gesetzt habe. Kein Wunder, dass diese frei erfundene These gerade in Deutschland so viele Anhänger hat.
Es spricht eben sehr viel dafür, dass dies nicht frei erfunden ist. Den 1. Satz hat Schostakowitsch nämlich schon vor dem Einmarsch der Deutschen konzipiert. Der Satz enthält wie die giftig ironische Rondo-Burleske aus Mahlers 9. Symphonie eine Lehar-Parodie und verwendet thematisches Material aus der Oper Lady Macbeth von Mzensk, durch die Schostakowitsch (der berüchtigte Prawda-Artikel "Chaos statt Musik") beim Sowjetregime in Ungnade fiel. Das Unheil, das da in die friedliche Welt der Exposition einbricht, lässt sich also semantisch sowohl auf den Terror des Stalinismus als auch den Einmarsch der Deutschen beziehen.
Zwar gibt es für sie keinerlei Beleg (und dafür sollten eigentlich gerade die Schostakowitsch-Verehrer dankbar sein, die ansonsten glauben müssten, dass ihr Idol ein gefühlloses Monster war), aber sie passt so schön in das geschichtsverfälschende Bild des heimlichen Dissidenten Schostakowitsch, den man damit nebenbei gleich zur Exkulpation der eigenen Vorfahren nutzen kann.
Die Behauptung von der angeblichen Geschichtsfälschung bei Wolkow halte ich für pure Propaganda von Schostakowitsch-Hassern. Sicher hat diese Biographie einige Schwächen, aber das Bild, was da von Schostakowitsch gezeichnet wird, ist in seinen wesentlichen Grundzügen richtig. Wenn Schostakowitsch die Freiräume hatte, dann nutzte er sie auch. Stalin erwartete mit seiner 9. eine monumentale Symphonie mit Chören zur Verherrlichung des Sieges der Roten Armee. Schostakowitsch - er war inzwischen eine internationale Berühmtheit und konnte es sich leisten - brüskierte Stalin (der wie überliefert ist einen Tobsuchtsanfall bekam) mit einer antimonumentalen Humoreske ohne Chöre von lächerlichen 25 Minuten Dauer. Jahre zuvor hätte er das nicht überlebt. Er schrieb die Symphonie Nr. 13, die den Antisemitismus in der Sowjetunion anprangert.
Er war eine ambivalente, widersprüchliche Persönlichkeit, war in typischer Weise zugleich "dafür" und "dagegen", glaubte an den Sozialismus und verzweifelte gleichzeitig an seiner brutalen Realität.
Viele anständige Menschen haben in dieser Generation an die Utopie des Sozialismus geglaubt. Daran ist überhaupt nichts Anstößiges. Die bittere Realität des Stalinismus hat sie dann eines Besseren bzw. Schlechteren belehrt. Man soll allerdings nicht glauben, dass die "angepassten" Werke Schostakowitschs der ersten Kategorie (s.o.!) Ausdruck seines Glaubens an die sozialistische Utopie wären. Das wäre naiv und steht auch im Widerspruch zu Schostakowitschs Äußerungen.
Zu dem Ergebnis kommt man wenigstens, wenn man die eine Seite nicht "überhört" oder schön redet sondern sich mit ihm, seinem Gesamtwerk und der Zeit seiner Entstehung beschäftigt. Dazu gehört vor allem, dass man Leute fragt bzw. liest, die selbst im Sozialismus oder gar im Stalinismus leben mussten.
Allen voran lebte Schostakowitsch im Sozialismus und Stalinismus. Alle seine Freunde - darunter den Regisseur Meyerhold - hat Stalin umbringen lassen. Schostakowitschs Leben war ein Leben in ständiger Angst, der nächste in dieser Reihe der Ermordeten zu sein. Dazu gehört die Mischung aus Anpassung und Versteckspiel bis hin zum mehr oder weniger offenem Widerstand, wenn er es sich leisten konnte. Schostakowitsch ist ein "realistischer" Komponist und kein Utopist wie Scriabin. In seiner Musik wird deshalb auch nicht die sozialistische Utopie vertont, sondern was es heißt, in diesem höllischen "System" faktisch zu leben und zu leiden.
Schöne Grüße
Holger