Wolfgang Rihm, Jahrgang 1952, gehört vielleicht zu den bekanntesten nach 1945 geborenen Komponisten Deutschlands; ganz sicher gehört er zu den vielseitigsten und produktivsten, vermutlich auch zu den provokativsten. Seine Biographie läßt sich leicht ergoogeln und muß daher hier nicht im Detail wiederholt werden. Erwähnt werden soll allein, daß er im Jahr 1972, gleichzeitig mit dem Abitur, ein Diplom für Komposition und Musiktheorie erwarb (er hatte ab 1968 an der Karlsruher Musikhochschule bei Eugen Werner Velte studiert). In der Folgezeit setzte er seine Studien in Karlsruhe unter anderem bei Wolfgang Fortner und Humphrey Searle fort; in den Jahren 1972/73 studierte er dann zudem in Köln bei Karlheinz Stockhausen.
Rihms Werk umfasst ein überaus breites Spektrum: von Klavierstücken bis zu groß besetzten Orchesterkompositionen, Ensemble- und Kammermusik (darunter bisher 12 Streichquartette; ein 13. wird in der Saison 2008/09 in Essen uraufgeführt werden), Klavier- und Orchesterlieder, Chor- und Passionsmusik, Oper, Ballet und synästhetisches Musiktheater. Eine enge Verschränkung von Literatur/Dichtung/Drama (insbesondere Autoren wie Friedrich Nietzsche, Paul Celan und Antonin Artaud stellen hier Fixpunkte dar) und Musik stellt dabei ein Zentralcharakteristikum des Rihmschen Schaffens insbesondere seit den 1980er Jahren dar.
Wenn man die Entwicklung des Komponisten Rihm seit den späten 1960er Jahren betrachtet, so lassen sich bisher grob vier Stil-Phasen unterscheiden:
Serielle Anfänge und »Neue Einfachheit«
Die ersten, zwischen 1968 und 1972 entstandenen Werke Rihms sind deutlich dem bis in die 1960er Jahren dominierenden kompositionstechnischen Paradigma des Serialismus verpflichtet. Neben kleineren Klavierwerken gehören zu der Werkgruppe dieser 1. Phase u.a. die 1968 entstandenen Lieder nach Texten von August Stramm (op. 1), das 1. Streichquartett (op. 2, 1970) sowie eine 1. Symphonie für großes Orchester (op. 3, 1969/70).
Eine 2. Phase – und diese läßt sich sicherlich als Rihms provokativste fassen – ist von einer radikalen Abwendung vom Paradigma des Serialismus gekennzeichnet. Bestimmend für die Kompositionen dieser Phase wird eine orientierende Rückbesinnung auf das Werk von Alban Berg und Gustav Mahler und eine Einbeziehung von Ausdrucksmustern der Spät- und Spätestromantik. Das Primat des musikalischen Materials weicht hier – nicht sukzessive, sondern abrupt und radikal – einer Rückkehr zu einer Unmittelbarkeit des Ausdrucks. So löste die Uraufführung von Rihms 40minütiger »Morphonie für Orchester mit Solostreichquartett« (1972) im Rahmen der Donauseschinger Musiktage 1974 aufgrund der hier offensichtlich formulierten Absage an die materialorientierte Avantgarde einen Skandal aus.
Rihm galt von nun an als das enfant terrible der deutschen Musikszene, dem man das Etikett der »Neuen Einfachheit« anklebte, den man gar zum Kopf einer Komponistengruppe stilisierte, die ebenfalls unter diesem Label zusammengefaßt wurde (u.a. Manfred Trojahn, Detlef Müller-Siemens, Hans-Jürgen von Bose, Heinz Winbeck, Reinhard Febel ...).
»Neue Einfachheit« – dieses Etikett ist dabei so ziemlich alles- und nichtssagend: Einerseits trifft es sicherlich zu, daß Rihm seit den 1970er Jahren um eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks und eine recht radikale Subjektivität bemüht ist (bisweilen tragen seine Werke dies auch mit ihren Titeln plakativ/provokativ vor sich her; etwa das 1976 entstandene 3. Streichquartett, das mit dem Titel »Im Innersten« versehen ist). Andererseits spielen formale und konstruktivistische Aspekte in Rihms Kompositionsweise weiterhin eine herausragende Rolle, ja Form und Konstruktion selbst werden hinsichtlich ihrer Ausdrucks- und Suggestionskräfte ausgelotet.
Deutlich wird dies etwa anhand einer Reihe kürzerer Orchesterkompositionen, die Rihm in den 1970er Jahren folgen ließ und in denen er das in der »Morphonie« formulierte Programm weiterentwickelte. Zu nennen wären hier insbesondere »Dis-Kontur für großes Orchester« (1974; zu diesem Werk habe ich hier ein paar Sätze geschrieben), »Sub-Kontur für Orchester« (1974/75) (beide Werke machen ja bereits über die Titel wieder die Relevanz der Arbeit an formalen Parametern deutlich), »Lichtzwang. Erste Musik für Violine und Orchester« (1975/76), sowie die Symphonien Nr. 2 für großes Orchester (1975) und Nr. 3 für Soli, Chor und großes Orchester nach Texten von Friedrich Nietzsche und Arthur Rimbaud (1977, revidierte Fassung 1996).
In dieser zweiten Phase entstanden auch erste musikdramatische Werke: die Kammeropern »Faust und Yorick« (1977) und »Jakob Lenz« (1979; nach Georg Büchner). Das zuletzt genannte Werk, das keineswegs - wie der Titel vielleicht suggerieren mag - an die gute alte Literaturoper anschließt, sondern im Gegenteil radikal mit ihr bricht, indem die Handlung eigentlich allein als verspiegelte Reflexion des Protagonisten (»Im Innersten« eben) präsentiert wird, ist bis heute Rihms am häufigsten gespieltes Bühnenwerk.
Ende der 1970er Jahre zeichnet sich allerdings bereits wieder eine Veränderung im Ausdrucksgestus der Rihmschen Werke ab: Das ebenfalls 1979 entstandene »Konzert für Bratsche und Orchester« ist zwar noch dem Kompositionsstil dieser Phase verpflichtet, weist aber mit der sich abzeichnenden Tendenz zur Andeutung, zur Verknappungen und einem zwar immer noch expressiven jedoch nüchterneren Gestus Charakteristika auf, die für die Rihmsche Instrumentalmusik der 1980er Jahre, der 3. Werkphase, bestimmend werden sollte.
»Theater der Grausamkeit« und »Chiffren«
In dieser 3. Phase sind zwei Werklinien auffallend: Zum einen die Fortsetzung musikdramatischer Beschäftigung, zum anderen eine Fortsetzung der sich im Bratschenkonzert abzeichnenden Reduktion und Konzentration des Ausdrucks.
In Kontext des Musiktheaters gewinnt für Rihm während der 1980er Jahre die Beschäftigung mit Antonin Artaud (1896-1948 ) große Bedeutung und führt zu einer grundsätzlichen Neuorientierung seiner Arbeiten für das Musiktheater. Erstes Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist »Tutuguri. Ein Tanzpoem« (1980/82). Das Werk basiert auf Antonin Artauds post-surrealistischem Text Tutuguri - La rite du soleil noir, der im Zusammenhang von Artauds Beschäftigung mit Riten und Kulten, Totemismus und Magie der indigenen Bevölkerung Mexikos entstanden war. In ihrem Kultus erkannte Artaud eine Kultur, die dem europäischen Logozentrismus entgegenzustehen schien. Im »Tutuguri«, dem »Tanz der schwarzen Sonne« entwarf Artaud das Bild einer vom europäischen Kolonialismus und der Hegemonie Europas geschändeten mesoamerikanischen Kultur.
Allerdings legt Rihm seinem Tanz-TheaterWerk nicht allein den »Tutuguri«-Text zugrunde, sondern er folgt auch explizit Artauds Konzept eines »Theaters der Grausamkeit«, das dieser dem klassischen Sprechtheater diametral entgegensetzte: Abkehr vom Logozentrismus - Zerschlagung des Textes, der keiner diskursiven Logik mehr folgen sollte; Emanzipation der Körperlichkeit und Bewegung vom Text; Unterdrückung der Stimme; Gleichberechtigung von Geräusch und Stille (Artaud prägte hierfür die Formel der »schreienden Stille«); radikale Akzentuierung des Performativen. Dies alles mündet in einer zunächst archaisch anmutenden rituellen und kultischen Vorstellung von Theater.
Diese Überlegungen habe natürlich Auswirkungen auf Rihms Musik, die in »Tutuguri« zu einer grellen Rauschhaftigkeit geführt wird. Wer bereit ist, seine Ohren aufzusperren, der wird sich der hypnotischen Kraft der Agressionen, Ängste, der unstillbaren Sehnsüchte und des verzweifelten Begehrens kaum entziehen können, die in dieser, häufig von ostinaten Figuren und massivem Schlagwerk bestimmten, ja getriebenen Musik Klang geworden sind.
Ein weiteres MusiktheaterWerk, das in unmittelbarer Auseinanderstzung mit Artauds Theatertheorie und seinen Mexikoschriften entstand, ist »Die Eroberung von Mexiko« (1988/89; nach Texten von Antonin Artaud). Aber auch »Die Hamletmaschine« (1983/86; Text Heiner Müller) ist der Idee des Artaudschen Theaters der Grausamkeit durchaus verpflichtet.
Die andere Linie des Rihmschen Schaffens der 1980er Jahre betrifft, wie gesagt, die Instrumentalmusik: hier zeichnet sich eine Tendenz zur Verknappung und Konzentration ab, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Zunächst auf der Ebene des Orchesterapparats/der Ensembles, der/die in den Instrumentalwerken dieser Phase gegenüber den Werken der 1970er häufig deutlich reduziert wird/werden. Dann auch auf der Ebene der Ausdrucksmittel: statt der wuchernd-gewaltigen Klangblöcke, die die Werke der 1970er bestimmten, treten zunehmend Andeutungen; statt ungebremst-überschäumender Expressivität findet sich eine Chiffrisierung des Ausdrucks. Beispielhaft sind hier die Ensemble-Musik »Chiffre-Zyklus« (1982-2004) oder »Dunkles Spiel für kleines Orchester« (1988/90).
Synthesen und »Übermalungen«
Für die 1990er Jahre lässt sich dann eine 4. Phase feststellen, die vielleicht als eine Synthese der die Phasen 2 und 3 bestimmenen Charakteristika begriffen werden kann. Rihm kehrt hier in seinen Orchesterwerken wieder zu größeren Besetzungen zurück, auch die explosive Blockartigkeit der 1970er Jahre ist wieder deutlicher präsent. Allerdings wird der Orchesterapparat weniger massiert eingesetzt, bestimmend bleibt eine nüchternere, reduziertere Tonsprache, die als Ertrag der »Chiffre«-Phase verstanden werden kann. Bemerkenswert ist auch eine Hinwendung zu konzertanten Formen (»Gesungene Zeit. Zweite Musik für Violine und Orchester« [1991], »Dritte Musik für Violine und Orchester« [1993], »Musik für Oboe und Orchester« [1993/95; rev. 2002] und »Styx und Lethe. Musik für Violoncello und Orchester« [1997/98]). Außerdem beginnt in den 1990er Jahre eine charakteristische Verarbeitung musikalischer Formaspekte in einem permanenten Transformationsprozess. Paradigmatisch war hier zunächst das 1995 entstandene Orchesterwerk – der Name ist Programm – »Gejagte Form« [1995]. Ist hier der Prozess der Formtransformationen auf das Material eines einzelnen Werkes beschränkt, so zeichnet sich diese Arbeitsweise seit den späten 1990er Jahren (womit vielleicht eine 5. Phase begonnen hat) auch werkübergreifend ab: Das Material älterer eigener Kompositionen unterzieht Rihm einer transformierenden Neubearbeitung. Rihm selbst nennt diese Arbeitsweise »Überschreibungen« oder »Übermalungen«.
Soviel zu Rihm erstmal von meiner Seite. Sicherlich habe ich alles ziemlich verknappt und verkürzt, sicherlich nur einige wenige Aspekte seines Werkes genannt. Die angeführten Werke spiegeln kaum einen Bruchteil seines umfangreichen Schaffens wider (über die Kammermusik ist ja fast noch gar nichts gesagt). Daher hoffe ich jetzt auf regeste Beteiligung an diesem Thread und bitte um Ergänzungen in jedweder Hinsicht.
Also: Was kennt ihr von Rihm? Welche Aufführungen habt ihr gesehen, welche Einspielungen besitzt ihr? Welche seiner Werke schätzt ihr besonders, welche schätzt ihr nicht besonders – und warum ist das so?
Falls übrigens jemand Interesse hat, Rihmsche Werke im Konzert zu hören: in der Saison 2008/09 ist Wolfgang Rihm Composer in Residence an der Philharmonie Essen – zahlreiche seiner Werke (Orchester- und Kammermusik) werden derowegen dort zur Aufführung gelangen. Ich jedenfalls werde ziemlich häufig dort sein...
Vielleicht stelle ich die Aufführungstermine nächstens mal ein!
Ach so, wer sich noch ein wenig mehr hinsichtlich Rihms für das Drumherumherum interessiert: es gibt ein ganz instruktives Filmportrait als DVD (Gespräche und Statements mit und über den Komponisten, Ausschnitte aus Uraufführungen, Proben- und Konzerten + CD-ROM-Teil mit Werkverzeichnis, Bibliografie, Diskografie, Partiturausschnitten, Texten....):
Viele Grüße,
Medard