Wiener Volksoper - DER VETTER AUS DINGSDA (Premiere, 4.9.2008)

  • Wer in Wien von Operette spricht, denkt in erster Linie an die „heimischen“ Vertreter dieser Musikgattung – an Strauß, Lehar, Kalman, Dostal, ... – oder Offenbach. Und vergisst dabei, dass es zum Zeitpunkt der „silbernen“ Operette in Wien auch in Berlin ein blühendes Musikleben gab. Einer der Vertreter der in der Musikstadt Wien kaum bekannten Berliner Operette (neben Paul Lincke oder auch Walter Kollo und anderen) ist Eduard Künneke (1885 – 1953), dessen 1921 uraufgeführter „Der Vetter aus Dingsda“ gestern Abend an der Wiener Volksoper erstmals aufgeführt wurde und als erster Spielabend die Saison 2008/2009 eröffnete.


    Die Geschichte in wenigen Worten: Josef „Josse“ Kuhbrot und seine Frau Wilhelmine (genannt Wimpe) genießen das Leben auf Kosten ihrer Nichte Julia, die – minderjährig – ein nicht unbeträchtliches Vermögen geerbt hat. Um dieses gute Leben weiterführen zu können, soll Julia mit Kuhbrots Neffen August verheiratet werden. Doch Julia denkt nicht daran, träumt sie doch von ihrer Jugendliebe, ihrem Vetter Roderich. Und wird darin von ihrer Freundin Hannchen unterstützt. Plötzlich taucht ein fremder junger Mann auf, der sich in Julia verliebt und – die Situation erkennend – sich als Roderich ausgibt. In Wahrheit ist er aber der von Julia vehementest abgelehnte August Kuhbrot. Es kommt, wie es kommen muss – ein Telegramm kündigt die Ankunft des echten Roderich an, der Fremde flüchtet. Dieser verliebt sich promptest in Hannchen – und es wäre keine Operette, gäbe es nicht ein Happy End zwischen Julia und August.


    Diese – zugegeben nicht wahnsinnig intellektuelle Story (aber welches Operettenbuch ist schon ein Meisterwerk der Philosophie) – hat Olivier Tambosi (dessen Regie von „Irrelohe“ an der Volksoper noch vielen Opernfreunden in bester Erinnerung ist) mit Augenzwinkern und der notwendigen Distanz inszeniert. Das Stück spielt im Original in Holland, das im Berlin des aufkeimenden Nationalsozialismus irgendwie als Land galt, in dem Milch und Honig fließen und das im Märchenspiel, wenn der Fremde vor Julia ungeniert seine Wünsche nach Speis und Trank aussprechen darf und erfüllt bekommt, auch symbolisiert wird. Dieses Traumland verlegt Tambosi gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Friedrich Despalmes und unterstützt durch wunderbar karikierende bunte Kostüme von Bettina Richter in ein undefinierbares Irgendwo, man könnte sagen nach Dingsda. Gartenzwerge spielen eine trügerisch kleinbürgerliche Idylle vor, das Haus der Familie Kuhbrot erinnert als Miniatur an die kolonialen Villen in den Südstaaten Nordamerikas (und könnte ebenso die Parodie auf eine Palladio-Villa sein); Julias Zimmer spiegelt die Träume des jungen Mädchens wider – Tarzans Bild im Kasten, vor dem sie Jane spielt; das Bett mit mondbesticktem Seidenüberzügen, in dem zunächst der Fremde, also August, als „armer Wandergesell“ seine Ruhe findet und sie später von ihm träumt. Und bevor der Kitsch siegt, greift Tambosi in das offensichtlich unerschöpfliche Repertoire seiner Fantasie und findet eine unerwartete Wendung in die Nähe einer wie auch immer möglichen Realität. Die gesuchte Gradwanderung zwischen Traumwelt und Realität des Lebens, zwischen Satire und Ernsthaftigkeit geht auf. So und ohne falsche Sentimentalität muss Operette heute gebracht werden – ernstgenommen und gleichzeitig mit Augenzwinkern; Zitate aus den Revuen der 20er und 30er Jahre sind in diesem Konzept durchaus gewollt.


    Diesem ausgezeichneten Leadingteam steht ein Ensemble zur Seite, das auf die Ideen nicht nur perfekt eingeht und die gewünschten Typen nachvollziehbar auf die Bühne stellt, sondern auch die musikalische Umsetzung annähernd perfekt trifft. Man nimmt dem wunderbar berlinernden Carlo Hartmann als Onkel jederzeit ab, dass ihm Frikandeau und Bordeaux und warm zu essende Schnitzel das wahre Lebenselixier sind – und dafür benötigt er das Geld seiner Nichte, deren privates Glück ihm gleichgültig ist (kennen wir dieses Thema nicht aus diversen Opern ?). Gäbe es diesen (sehr gut) singenden Komiker nicht im Ensemble der Volksoper, man müsste ihn erfinden. Das gilt gleichermaßen für seine Frau Isabel Weicken, die einen Hauch ernsthafter gezeigt wird und der ihre Vergangenheit als Musicaldarstellerin stimmlich wie darstellerisch zu Gute kommt. Daniel Johannsen ist als Egon von Wildenhagen, der sich mit riesigen Blumensträußen vergeblich um das Herz von Julia bemüht eine liebenswert tragische Figur, der es dank preußischer Zackigkeit nicht gelingt, seine Gefühle an die Frau zu bringen. Ihm können auch seine stimmlichen Qualitäten nicht weiterhelfen. Thomas Markus und Stefan Cerny sind zwei Diener, die aus ihren Nebenrollen das Maximum herausholen und wunderbare Charaktere auf die Bühne stellen.
    Rebecca Nelsen als Julia de Weert und ihre Freundin Hannchen in der Gestalt von Johanna Arrouas sind gewollt ähnlich in Optik, Ausstrahlung und der Stimme. Dass Hannchen sich zum guten Ende mit dem gute zwei vergnügliche Stunden von Julia via Mond geliebten Roderich verlobt und sich Julia in den als Unbekannten abgelehnten August Kuhbrot verliebt, wird also schon durch die Wahl der Sängerinnen vorgezeichnet. Beide verfügen über schöne, wenngleich nicht übermäßig große Stimmen. Dass sie an ihren Rollen auch Spaß haben, ist sicht- und hörbar. Ein tenoraler Beau ist Daniel Prohaska als Fremder, der Roderich spielt um sich dann doch als August zu outen. Sollte er in das Volksopernensemble integriert werden und nicht allein für diese Produktion engagiert sein, könnte er die dem Haus fehlenden (Operetten)tenöre mehr als nur teilweise ersetzen. Den wahren Roderich gibt Boris Pfeifer, der mit dem Fallschirm auf der Bühne landet und auch in der Folge zeigt, wo der Mann zu Hause ist – ein trotz allem liebenswürdiger Macho, bei dem die Wahl schwer fällt, ob Hannchen dem Mann oder dem Sänger verfällt.


    Für die musikalische Umsetzung ist Alexander Drcar verantwortlich, der die Sänger und Orchestermusiker bestmöglich durch die ungewohnte Komposition führt. Wenn ich seine Interpretation mit der berliner Platteneinspielung aus dem Jahr 1966, mit der ich mich in den „Vetter“ eingehört habe, vergleiche, höre ich auch bei ihm – ähnlich Tambosi – das im Stück verborgene Augenzwinkern. Nicht zuletzt dort, wo Künneke an Lehar und Kalman erinnert (etwa im Vorspiel zum 2.Akt) oder sich Offenbach zum Vorbild nimmt. Wie schön wäre es, könnten vor allem die Blechbläser diesen Intentionen vorbehaltlos folgen.


    Wer einen spritzig vergnüglichen und gleichzeitig hintergründigen Abend erleben möchte, dem sei diese Produktion ans Herz, in die Augen und die Ohren gelegt.


    Michael 2

  • Gehört dies nicht eher in das Operettenforum?
    Trotzdem vielen Dank für die ausführliche Schilderung.
    Wien ist eben ein ganz besonderer Standort für Musiktheater.

    Einmal editiert, zuletzt von JL ()

  • Hallo Michael,
    danke für diesen Bericht, der mir nun doch Lust gemacht hat auf diese Produktion! Obwohl du offensichtlich auch zum "dummen Publikum ohne Geschmack" zählst, wie eine gewisse Dame ;) in einem gewissen Blättchen ;), das bei mir regelmäßig Bauchgrimmen erzeugt, so fachkundig diagnostiziert hat, vertraue ich deiner Rezension wesentlich mehr :D
    lg Severina :hello:

  • Zitat

    Original von JL
    Gehört dies nicht eher in das Operettenforum?
    Trotzdem vielen Dank für die ausführliche Schilderung.
    Wien ist eben ein ganz besonderer Standort für Musiktheater.


    Du hast Recht, auch wenn die Zuordnung "Gestern in der Oper", wörtlich genommen, ebenfalls zutrifft. Ich finde aber auch, dass wir die Operette ernst genug nehmen sollten um sie dort zu bündeln, wo sie gesammelt gehört. Gleichzeitig habe ich auch diesen interessanten Parallelthread in dieses Forum verschoben: Der Vetter aus Dingsda am 6.10.2007 in Wiesbaden .


    Lieber Michael,


    vielen Dank für diesen ausführlichen Bericht, der mich bedauern lässt, fast am anderen Ende der deutschsprachigen Welt zu leben. Diese Aufführung hätte ich gerne gesehen, ebenso wie die seinerzeit von Rosenkavalier besprochene Wiesbadener Inszenierung derselben Operette. Künnekes Vetter scheint die Zeit weitaus besser zu überdauern, als mancher viel gepriesene Klassiker. Das liegt sicher auch an der erstaunlich frechen Musik, die sich wenig um Operettenkonventionen stört, auch wenn sie sie teilweise mit viel Gusto bedient.


    Dieses Stück sollten auch Leute kennen, bei denen ansonsten die Operette als ernst zu nehmende Musikgattung gleich nach Offenbach oder der FLEDERMAUS aufhört. Die von Dir beschriebene Aufführung scheint ein sehr guter und zudem höchst vergnüglicher Weg zu ein, dieses Kennenlernen nachzuholen. Schade, dass in der Volksoper so selten aufgezeichnet wird.


    Kommentare zu diversen Einspielungen dieser Operette gibt es übrigens hier: DER VETTER AUS DINGSDA


    :hello: Jacques Rideamus