Liebe Taminos,
dass ich momentan in Opernführern nach Opern suche, von denen ich bisher nicht einmal wusste, dass es sie gab – „Astarté“, „La Fille de Mme Angot“ oder „Le Roi d‘ Ys“ – oder nach Liedern von Fauré oder Reynaldo Hahn – sicherlich viel bekannter, aber bisher leider nicht bei mir – und dass ich mich neuerdings verschärft mit der französischen Oper und den mélodies des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und den dazugehörigen Sängern befasse: Den Anstoß dafür gab in einer Rundfunksendung über historische französische Sänger eine Aufnahme, die ich oben auch in den Threadtitel gestellt habe: die sogenannte Rêverie des George Brown aus Boïeldieus Oper „La dame blanche“, wohl die bekannteste Aufnahme des sonst nur noch wenig bekannten französischen Tenors David Devriès (1881-1936), ein Sammlerstück, das auch auf einigen allgemeinen Samplern mit historischen Aufnahmen zu finden ist.
Was mich sofort aufhorchen ließ, war zunächst die Stimme, die zu den eigenwilligsten gehört, die ich im Operngesang kenne: ein leichter, hell timbrierter Tenor mit einer weichen, aber nie süßlich wirkenden Kopfstimme/Mezzavoce und einem ganz eigenartigen Klang in der Bruststimme, der zuweilen an eine tiefe Frauenstimme erinnert, jedenfalls nach Meinung einiger Hörer, denen ich die Aufnahmen vorgespielt habe. Zusammen mit dem doch recht kräftigen Vibrato ergibt das manchmal einen Anklang an die Chansoniers der 30er und 40er Jahre. Ich mag solche Stimmen, aber sie sind wohl nicht jedermanns Sache, denn einige Male konnte ich in Rezensionen sinngemäß lesen, „nicht die Stimme sei schön, eher farbarm und trocken, was besteche sei der Stil und der Charme seines Singens“. Letzteres kann man anhand der meisten seiner Aufnahmen überprüfen.
Ich hätte vorher nie geglaubt, dass man das ständig wiederholte „La la la“ der Rêverie auf so unterschiedliche Weise abtönen kann. Man sieht den jungen Mann, der sich über die Melodie aus fernen Tagen langsam an die Erinnerung herantastet, förmlich vor sich. Zusammen mit dem pointierten und doch nachdenklichen „Non“ dazwischen schickte es mich, da ich die Oper vorher nicht kannte, auf die Suche nach einem Libretto, denn ich wollte nun unbedingt wissen, was da so gestisch vorgeführt wurde.
Auf meiner Suche nach Aufnahmen mit Devriès stieß ich dann auf „Viens, gentille dame“ aus derselben Oper, das genau den Ton trifft, den ich mir dafür vorstelle: keine „Romanze“ im eigentlichen Sinne, sondern ein halb ernster, halb scherzhafter Aufruf, in dem sich unter die sanften, süßen Töne oft ein burschikoser Gestus mischt, der dem Ganzen einen Anflug von leicht spöttischen Charme gibt. Leider hat David Devriès wohl nur diese beiden Stücke aus seiner Paraderolle eingespielt (beide aus dem Jahre 1928 ) – wie gern hätte ich davon eine Gesamtaufnahme gehört!
Als nächstes fand ich auf einer CD der Serie „Great Voices of the Opera“ außer den beiden oben genannten noch zwei Stücke aus Massenets „Grisélidis“ und einige Zeit danach eine Zusammenstellung mit Szenen aus „Les Contes d‘ Hoffmann“ in verschiedenen Sprachen, darunter eine hinreißend ausgelassen gesungene „Drig, drig, drig!“- Szene aus Luthers Keller mit David Devries, Louis Nansen, Henri Dangès und Hyppolite Belhomme.
Und zu meinem Geburtstag kam dann eine CD des Labels Symposium ins Haus, die seitdem schon endlos gedreht wurde. An dem Rauschen und Knistern ist erkennbar, dass hier ganz sicher nicht zu Tode gefiltert wurde, sondern dass Nebengeräusche nur behutsam gedämpft wurden – was sich wiederum positiv auf die Bewahrung des Stimmklangs auswirkt.
Die CD gibt einen schönen Überblick über seine Opern- und Liedaufnahmen aus der Zeit von 1904 bis 1931. Sein Singen ist eine ständige Bewegung, ein Auf und Ab von Eindrücken, die von einem Moment zum anderen sehr stark wechseln können und die zumindest bei mir lange in der Erinnerung nachklingen: das sanft und nachdenklich gesungene „félicité“ oder „divine“ in der Cavatine des Faust „Salut demeure“, ein fast rezitierendes Nachträumen in „En fermant les yeux“ aus Massenets „Manon“, die Verzweiflung des Werther, der erkennen muss, dass die Geliebte die Braut eines anderen ist, der leichte Konversationston in dem Duett mit Gabrielle Lejeune „Voyons, Monsieur, raisson nous politique“, das düstere Pathos in Faurés „La chanson du pêcheur“ oder aber der gespielt leichte, manchmal ironische und dabei doch ganz melancholische Tonfall in Reynaldo Hahns „Cimetière de campagne“. Letzteres ist ein Lied, das mir besonders gut gefällt. Ich weiß zwar, dass Hahn viele Lieder geschrieben hat, kannte ihn aber bisher nur als Sänger. Nach seinen Liedern werde ich künftig sicherlich auch verstärkt Ausschau halten ...
Léhars „Gern hab‘ ich die Fraun geküsst“ mag als „J‘ ai toujour cru qu‘ un baiser“ im Stil eines französischen Chanson-Interpreten auf manchen etwas befremdlich wirken, ich muss gestehen, mir gefällt diese Version. Dagegen passt „Pie Jesu“ aus Faurés Requiem meiner Meinung nach nicht recht zu der Stimme; hier stört mich zum ersten Mal das ausgeprägte Vibrato, vielleicht auch nur, weil es in derartiger Musik für mich eher ungewohnt ist.
Was mir immer wieder auffällt: Die Stimme und das Singen zeigen bis zum Schluss einen hellen, leichten und jungenhaften Klang, der sich eigentlich in den fast 30 Jahren, die durch Aufnahmen dokumentiert sind, nicht wesentlich verändert hat. Anfang der 30er Jahre zog sich David Devriès, wohl krankheitsbedingt, von der Bühne zurück. 1936 starb er im Alter von nur 54 Jahren.
Zur Biografie werde ich in den nächsten Tagen noch einiges heraussuchen, denn er stammte aus einer Familie von berühmten Sängern des 19. Jahrhunderts und ist, soweit ich gesehen habe, auch mit der Familie des Schriftstellers Théophile Gaultier verschwägert gewesen. Zu seinen Freunden gehörte die Komponistin Lili Boulanger, von deren Werken er einige zur Uraufführung brachte. Aber davon später ...
Liebe Grüße
Petra