Hallo, liebe Freunde der Klavier (und Cembalo) Musik,
Sicher lassen sich aus den 555 Sonaten von Scarlatti viele hervorheben. Fast alle Interpreten müssen eine Auswahl treffen. Schon vom ersten Höreindruck her ist diese Sonate ein Ausnahmefall. Sie hat bei Scarlatti eine ähnliche Sonderstellung wie das "La Rappel des Oiseaux" bei Rameau, die kleine Gigue KV 574 bei Mozart, die Triller in den Finalsätzen der Hammerklavier-Sonate und Sonate op. 111 von Beethoven, der Schluß-Satz in Chopins b-Moll Sonate, Schumanns Toccata op. 7, "Vers la Flamme" von Scriabin, Prokofjews teuflische Einflüsterungen op. 4 oder als extremer, vorläufiger Abschluss "Continuum für Cembalo" (1968 ) von Ligeti. Alle diese Stücke zeichnet eine besondere Zeitlosigkeit aus, wodurch sie in ihrer jeweiligen Zeit fremd, für manche Ohren geradezu pathologisch klingen. Die Komponisten waren sich der Einmaligkeit dieser kleinen Meisterstücke bewusst.
Pianisten nutzen diese Sonate von Scarlatti, um die Fingertechnik für äußerst schnelle Läufe zu üben. Offenbar hatte bereits Scarlatti systematisch die Beweglichkeit der einzelnen Finger geübt und bis ins Extrem getriebene Wiederholungen des gleichen Tons. Diese Sonate ist in dieser Hinsicht äußerst geschickt aufgebaut. Ich vermute stark, dass sie aus intensiven Übungen am Klavier entstanden ist, die einen Spieler bis in Trance-Zustände versetzen kann.
Heute wird meist vergessen, welche technischen Wunderwerke die frühen Klaviere zu ihrer Zeit waren. Zug-, Hammer- und Pedaltechnik waren voll entwickelt, lange bevor in überdimensionalem Maßstab ähnliche Maschinen zur Metallbearbeitung zum Einsatz kamen. Es gehörte ein gutes Stück Technik-Begeisterung dazu, alle Möglichkeiten dieser Instrumente zu erkunden und auzuschöpfen. (Das gilt nicht weniger für den Orgelbau, für dessen technische Aspekte sich z.B. Bach jederzeit interessierte.)
Ebenso kann übersehen werden, dass damals die Tonarten und Harmonien noch sehr experimentell waren. Kompositionsregeln lagen nicht als jahrhundertelang überliefertes Werkzeug vor, erstarrt in akademischer Routine. Die Komponisten konnten hoffen, mit jeder außergewöhnlichen Technik etwas zum Tönen zu bringen, das in dieser Technik enthalten ist und von ihnen wie von einem Handwerker freigesetzt wird, der innere Spannkräfte von Materialien entdeckt und in neuen architektonischen Entwürfen ausnutzt, einbaut und zum Vorschein bringt.
Scarlatti will den puren Temporausch nach außen treiben und aus der bloßen Geschwindigkeit eine innere Melodie entdecken, die dort bereits enthalten ist und von ihm lediglich aufgespürt und offenbart wird.
Er sucht damit den unfassbaren Punkt zu treffen, der im Innern jeder kreativen Erfindung steckt. Wenn aus der reinen Geschwindigkeit heraus eine ähnliche Melodie entsteht, wie er sie sonst komponiert hat, stellt sich die Frage, ob nicht auch sonst beim Komponieren im Innern des Bewusstseins, vielleicht auch im rein motorischen Ablauf des Muskelapparats auf einer höheren Ebene ähnliche Prozesse ablaufen, die mit ihrem eigenen Zeittakt dem Bewußtsein entzogen sind. Stockhausen und erst recht Techno-Musiker haben damit experimentiert. Das muss Spekulation bleiben, aber Scarlatti ist mit diesem Stück an die Grenze solcher Fragen gestoßen. Viele Komponisten beschreiben, wie sie selbst überrascht sind über die Werke, die ihnen während der harten Arbeit des Tonsetzen zufliegen.
So steht diese Sonate für mich am Beginn einer Reihe vergleichbarer Werke anderer Komponisten, denen es in ungewöhnlichen Momenten ihres Schaffens ebenfalls gelungen ist, das Entstehen eines kreativen Einfalls unmittelbar zum Ausdruck zu bringen.
Der Hörer nimmt sehr fein die schmale, aber alles entscheidende Differenz zu oberflächlich gesehen ähnlichen Werken wahr, bei denen rein mechanisch leere Virtuosität herausgepresst wird.
Niemand hat sie so glasklar und unerbittlich gespielt wie Wanda Landowska in einem Konzert in Paris im Januar 1939. Martha Argerich wählte sie als einen Höhepunkt bei ihren Konzerten 1978 & 1979 in Amsterdam. Ihr gelingt es, in die rasend schnellen Läufe noch zusätzliche Betonungen unterzubringen.
Nikolai Demidenko hat sie bei einem Konzert als Zugabe gespielt. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Das war wie eine schwebende Klangwolke. Das Stück war schon fast verflogen, als ich es in dieser überraschenden Wendung erkannt hatte. Derzeit hat Tokarew sie auf dem Programm einer Konzertreise durch Deutschland. Weitere Einspielungen gibt es von Andreas Staier, Christian Zacharias, Pletnew, um nur die berühmteren zu nennen. Die Einspielung von Zacharias ist auszugsweise im Internet verfügbar und nimmt für mich etwas enttäuschend das Besondere dieses Stücks stark zurück.
Viele Grüße,
Walter