J.S. Bach: Komponist oder Mathematiker ?!?!

  • Sechs ist überdies die kleinste vollkommene Zahl (Summe ihrer Teiler 1+2+3), die nächste ist 28...


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Zitat Ulli
    Was ist dran an den Behauptungen, Bach habe in vielen Fällen in Kantaten und Passionen, wo das Wort Kreuz gesungen wird, auch ein Kreuz vor die Note komponiert bzw. den Chor überkreuz einsetzen lassen? Ist das Absicht [quasi eine verschlüsselte Sprache Bachs für Insider] oder purer Zufall?


    Die Behauptung ist richtig - aber es ist kein Bach-Spezifikum, sondern ein Barock-Manierismus, das Kreuz in den Noten quasi abzubilden. (Es gibt auch eine entsprechende melodische Kreuz-Wendung, etwa c-cis-h-c.
    Bach setzt diese Bilder allerdings mit wesentlich mehr Geschick als die meisten seiner Zeitgenossen ein und um.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Die Behauptung ist richtig - aber es ist kein Bach-Spezifikum, sondern ein Barock-Manierismus, das Kreuz in den Noten quasi abzubilden. (Es gibt auch eine entsprechende melodische Kreuz-Wendung, etwa c-cis-h-c.
    Bach setzt diese Bilder allerdings mit wesentlich mehr Geschick als die meisten seiner Zeitgenossen ein und um.


    Und was ist an c-cis-h-c jetzt ein kreuz?

  • Schreibe die Noten auf und verbinde c mit c und cis mit h!


    Selbiges ergibt sich mit B-A-C-H [eigentlich hätte er Hach heißen müssen...]


    X


    :hello:

    You might very well think that. I couldn't possibly comment.“ (Francis Urquhart)

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  • Eine Frage, die Bach nicht gerecht wird! Angesichts der Musik, die uns Bach hinterlassen hat, finde ich die Fragestellung ein wenig unglücklich! Das Verfahren der Reduktion ist hier nicht das zu Wählende.


    Bach war diesbezüglich ein ausgezeichneter Glasperlenspieler :D

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Guten Tag



    Zitat

    Original von Pius
    Bach war kein Mathematiker, aber gewiß ein "Denker-Typ".


    Viele Grüße,
    Pius.


    Sein Sohn Philipp Emanuel schrieb mal an Forkel:


    "Der seelige war, wie ich und alle eigentlichen Musici, kein Liebhaber von trockenen, mathematischen Zeuge" :D


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Jedem, der sich mit Zahlenesoterik beschäftigen möchte, empfehle ich das amüsante Buch "Mein paranormales Fahrrad" mit Aufsätzen aus dem"Sceptical Inquirer". Es werden Beispiele gegeben für die Maße der Cheopspyramide und das man sich so allerhand aus dem Rahmen seines Fahrrads herleiten kann. Das Fazit: wer sich auf esoterische Zahlenspielereien einläßt, der findet auch die gewünschten Antworten, selbst wenn die Zahlengrundlage das eigene Fahrrad darstellt.


    Natürlich gab es auch insbesondere zu Bachs Zeit eine Neigung für zahlenmystische Ausdeutungen und Verschlüsselungen. Diese aber eindeutig wieder zu finden ist doch sehr schwierig.


    Zitat

    Original von tastenwolf
    was ich nicht für so wichtig halte - oder in zweiter Linie interessant, - sind diese Notenzählaktionen mit Hinweisen auf den 3. Buchstaben im 5,Vers des 113.Psalms oder so... :) fügt der Musik IMO nichts wesentliches hinzu...


    Dies wäre auch ein typisches Beispiel für Zufallsrechnerei: jedes Musikstück oder Teil davon besteht aus einer gewissen Anzahl von Noten und Takten, und zu irgendeiner Kombination x Takte y Noten läßt sich bestimmt ganz häufig die verblüffend passende Bibelstelle in einem Buch Kapitel x Vers Y finden. Selbst wenn Bach mit derartigen Rätseln gespielt haben sollte, es läßt sich wegen der Beliebigkeit "passender" Lösungen nicht entschlüsseln.


    Zitat

    Aufsatz Gisela Voigt
    Das Bildnis, welches heute im Museum im Alten Rathaus zu Leipzig ausgestellt ist, zeigt zwei Rätsel. Das erste von ihnen betrifft wiederum die oben erwähnte "Bach-Zahl".
    Zählt man sämtliche Knöpfe auf der Weste und dem Rock des Dargestellten zusammen, ergibt sich als Summe die Ziffer 14.


    Typisches Beispiel für hingebogene, gewollte Zahlenspielerei. Auf dem Bild sind nur 11 Knöpfe zu sehen. Geht man davon aus, dass drei weitere Knöpfe in der Weste verborgen sind, ergeben sich tatsächlich 14 Knöpfe. Was ist dann aber mit den ebenfalls verborgenen Knöpfen im Schoßbereich des Abgebildeten?


    Gelegentlich sind Zahlenbezüge aber offensichtlich. So fragen in der Matthäuspassion die Jünger Jesus nach seiner Aussage, "einer unter Euch wird mich verraten" 11 mal "Herr bin ichs", und als 12. folgt etwas später Judas mit der gleichen Frage. Oder unmittelbar nachdem Judas das Geld in den Tempel wirft, folgt die Bassarie "Gebt mir meinen Jesum wieder". Hier wird lautmalerisch das in den Tempel geworfene Geld dargestellt, und es ist sicher kein Zufall, dass die wiederholte Zeile "Gebt mir meinen Jesum wieder" genau 30 Noten (30 Silberlinge) umfasst.


    Mein Fazit: Zahlenmystik spielt bei Bach vermutlich eine gewisse Rolle. Wegen der Beliebigkeit möglicher Lösungen ist sie aber zumeist schwer zu enträtseln. Die meisten "Belege" für zahlenmystische Beziehungen halte ich für reine Zufallsprodukte.



    Beste Grüße


    Manuel García



    PS und OT: Rätselfrage: Das Ornat (entspr. Talar) meines Vaters, ein Pastor in Hamburg, besaß genau 17 Knöpfe. Warum?

  • Bezüglich der Frage, ob Bach Zahlensymbolik bei seiner kompositorischen Arbeit wervendet hat, schließe ich mich Walter Kolneder an, der in seinem Bach-Buch von 1991 das letzte Kapitel "Bach und die Zahl" genannt und allen Anhängern der mystischen Zählerei eine deutliche Absage erteilt. Das von bernhard weiter oben erwähnte C.P.E. Bach Zitat sagt doch eigentlich alles, und die praktische Überlegung, wann Bach bei seiner aufwendigen Kompositionsweise noch Zeit zum Taktezählen gehabt haben soll, tut ein übriges. Kolneder druckt eine Seite aus einem Bach-Autograph ab, auf dem der Meister sichtlich Probleme beim Addieren von zehn Zahlen hatte .....


    Bestimmte Häufungen von Tönen sind sicher tonartbedingt und sollten erst einmal gründlicher und über das Werk verschiedenster Komponisten hinweg untersucht werden - nicht nur bei Bach.
    Pius hat recht, wenn er meint, dass man die Zahlen auch findet, die man sucht: Da hat in den 1980ern die Neue Zeitschrift für Musik einen Artikel gedruckt (den ich leider aus lauter Ärger ins Altpapier geworfen habe!), in dem der Autor durch Zahlenentschlüsselung in einer der Triosonaten Zelenkas eine Beichte seiner Homosexualität gefunden haben wollte!
    In Kolneders mehrbändiger Studie über die Kunste der Fuge finden sich auch einige fast schon ans Absurde grenzende Beispiele.
    Solange nicht auch andere Komponisten ähnlich gründlich ausgezählt wurden, bleibe ich skeptisch. Natürlich waren Zahlenspielereien und geheimnisvolle Anspielungen mit Symbolen sehr verbreitet - siehe z.B. die Mizlersche Sozietät -, und nicht nur unter Musikern, aber da sollte Bach im Kontext seiner Zeit und nicht als isoliertes Phänomen gesehen werden.

  • Bach bewegte sich mit seiner Musik in einer Formenwelt, die wesentlich von klaren Regeln und Strukturen bestimmt war. Auch wenn er gelegentlich Grenzen bewußt überschritt oder schöpferisch völlig Neues entwickelte, stellte er die ästhetische Gesamtordnung nie vollständig in Frage.


    Daraus folgt für mich der Gedanke, ob nicht eine solche Musik, die in einem gegebenen Ordnungsrahmen (nahezu) vollkommen und auf unerreicht hohem ästhetischem und intellektuellem Niveau komponiert wurde, auch in ihrer inneren mathematisch-physikalischen Struktur wunderbar reich und schön sein MUSS?


    Ich meine damit weder offensichtlich-absichtliche inhaltsbezogene Symbolik (wie schon oben beispielhaft angeführt) noch willkürliche Herleitungen abstruser mystischer Zusammenhänge. Vielmehr geht es mir um die Vollkommenheit und Schönheit der Größen, Werte, Strukturen, Verhältnisse etc. Und diese Dimension von abstrakter Schönheit und Vollkommenheit KANN man wahrnehmen - bewußt oder unbewußt und selbst ohne jegliche Kenntnis von ihrer Existenz.


    Bezugnehmend auf den Titel dieses Threads: In der vollkommenen Beherrschung der musikalischen Form bewies Bach auch mathematische Genialität. Mit und ohne Absicht.


    Liebe Grüße :)

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  • Zitat

    Original von Reiner_Klang
    Daraus folgt für mich der Gedanke, ob nicht eine solche Musik, die in einem gegebenen Ordnungsrahmen (nahezu) vollkommen und auf unerreicht hohem ästhetischem und intellektuellem Niveau komponiert wurde, auch in ihrer inneren mathematisch-physikalischen Struktur wunderbar reich und schön sein MUSS?


    Das denke ich auch - der Sinn für Form und Proportion bringt bestimmte Zahlenverhältnisse einfach mit sich. Darüber gibt es inzwischen gute Literatur, natürlich eher am Beispiel Bildender Kunst, da die Musik im Vergleich zu diesen eine eher "abstrakte" Kunst ist, z.B.:



    Györgi Doczi: Die Kraft der Grenzen. Harmonische Proportionen in Natur, Kunst und Architektur. Stuttgart: Engel & Co. 1996


  • Und wie genau unterscheidet sich Bach diesbezüglich von einigen hundert anderen Komponisten aller Zeiten? ;)


    Warum ist das "mathematische Genialität", nicht bloße musikalische?


    "abstrakte Schönheit" ist für mich nahezu ein Oymoron (Es sei denn, man redet tatsächlich von der "Schönheit" eines mathemat. Beweises u.ä. Hier würde ich aber "Eleganz" vorziehen, weil nämlich viel eher etwas gemeint ist, was sich mit "überraschender Knappheit" wiedergeben ließe als was man gemeinhin schön nennt.)
    Schönheit wird immer nur konkret wahrgenommen und erlebt. Niemand findet ein Musikstück als Exemplar einer abstrakten Klasse oder als Beispiel einer allgemeinen Symmetrie schön, sondern als konkret erklingendes Einzelereignis/erlebnis. (Und abstrakt in dem schwächeren Sinn wie wir ihn bei Abstrakter Malerei verwenden, daß also nichts Gegenständliches abgebildet wird, ist Musik praktisch immer, selbst der simpelste Schlager :D)


    Ich will gewiß niemandem vorschreiben, wie er seine ästhetischen Erlebnisse darstellen soll. Aber ich sehe das Problem bei solchen Metaphern wie abstrakter oder mathematischer Schönheit, daß sie sehr wenig verdeutlichen, im Gegenteil eher verunklaren. Sie sollen mir irgendwie eine besondere Ehrfurcht suggerieren, aber es bleibt sowohl schleierhaft, warum gerade dieses Stück auf besonders abstrakte Weise schön ist als auch, warum abstrakt-mathematische Schönheit besonders beeindruckend sein soll...
    Und die Sache ist zweischneidig: Musik, die man nicht mag, kann man nämlich ebenso als "abstrakt-konstruktivistisch" usw. bezeichnen ("sterile Algebra" schrieb ein Kritiker in abwertender Absicht über Berlioz).


    viele Grüße


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Und wie genau unterscheidet sich Bach diesbezüglich von einigen hundert anderen Komponisten aller Zeiten? ;)


    Für mich durch das Maß seiner Nähe zur Perfektion, das er erreichte.


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Warum ist das "mathematische Genialität", nicht bloße musikalische?


    Kann man dies in einer musikalischen Welt der strengen Form trennen?


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    "abstrakte Schönheit" ist für mich nahezu ein Oymoron ... Schönheit wird immer nur konkret wahrgenommen und erlebt.


    Ja und nein. Vermutlich kann jeder von uns von Erlebnissen berichten, bei denen er von etwas Schönem oder Vollendetem in besonderer Weise beeindruckt war, ohne alle Dimensionen dieses Erlebens analysieren zu können. Das versuchte ich mit meiner Formulierung auszudrücken. Am Beispiel des Musikstückes erleben wir vordergründig den schönen Klang der Stimme oder des Instrumentes, die melodische, harmonische und rhythmische Ästhetik der Komposition und die Perfektion der Interpretation. Die in diesem Thread diskutierte mathematische Dimension im Sinne von vollendeten Maßen, Relationen und Strukturen wird von kaum einem Hörer direkt wahrgenommen. Nach meiner Meinung trägt aber diese - ich nenne sie abstrakte - Dimension zum vollendeten Gesamteindruck bei. Ob man diesen Teilaspekt der "Gesamtschönheit" dann "abstrakte Schönheit" nennen darf oder nicht, kann man sicher unterschiedlich sehen.


    Liebe Grüße :)

  • Da sind wir auf einem sehr glatten Parkett - verweise auf den herrlichen Dialog zwischen Sokrates und Hippias und wir sind schnell beim interesselosen Wohlgefallen.


    Lieben Gruß aus Bonn :stumm:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

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  • Na, unsere auditive Unschuld haben wir wohl alle verloren - das Konzept vom "naiven Hören" finde ich ziemlich zweifelhaft. Wir haben alle unsere sehr individuellen Mischungen von Fühlen und Denken beim Wahrnehmen von Musik.

  • Zitat

    Original von miguel54
    Na, unsere auditive Unschuld haben wir wohl alle verloren - das Konzept vom "naiven Hören" finde ich ziemlich zweifelhaft. Wir haben alle unsere sehr individuellen Mischungen von Fühlen und Denken beim Wahrnehmen von Musik.


    Dem stimme ich gern zu. Und es gibt Stimmungen, in denen sich mir die Schönheit Bachs besser erschließt als Beethoven - und umgekehrt.


    Dabei würde ich auf den Begriff des "interesselosen Wohlgefallens" nur ungern verzichten (es bedeutet für mich nicht Naivität): Schließlich ist die Musik, die ich gerade höre, nicht nur ein Spiegel dessen, was ich hineingebe, sondern auch etwas Objektives: Wenn ich beispielsweise die Schönheit der Bachschen Musik beschreiben sollte, dann wäre es so etwas wie die Größe darin, daß er es schafft, die Einzelstimmen sich gleichsam selbständig und unabhängig sich entfalten zu hören - und scheinbar wie von selbst paßt alles wunderbar zusammen: Diese Schönheit darin, daß das Einzelne und das Ganze so bruchlos zur Harmonie gelangt, also die Schönheit des Kontrapunkts (das ist natürlich auch "Mathematik") - die finde ich nirgends - jenseits von HIP oder nicht (spielt hier für mich nur eine untergeordnete Rolle) - so groß und überwältigend wie bei Bach, etwa in der Kunst der Fuge.

  • Das "interesselose Wohlgefallen" hat nichts mit spezifischer Musik oder einer persönlichen Stimmung zu tun. Diese Charakterisierung Kants wird eigentlich nur verständlich, wenn man weiß, was hier ausdifferenziert werden soll. Nämlich das ästhetische Erleben, das Wohlgefallen am Schönen, gegenüber dem Wohlgefallen am (moralisch) Guten und besonders gegenüber dem Wohlgefallen am Angenehmen. Beide andere Typen sind nämlich nach Kant gerade nicht "ohne Interesse" (sondern das Angenehme (Stück Kuchen) will ich wirklich haben/erleben und vom Guten (Weltfrieden) will ich, daß es wirklich werde).
    Es geht also nicht um eine Abgrenzung innerhalb des Ästhetischen, sondern um die Abgrenzung des ästhetischen Urteilens überhaupt. Daher ist es eine fragwürdige Verwendung dieser Begriffe, wenn man das eigene Wohlgefallen an der einen Musik als "interesselos" beschreibt, das an der andern nicht. Sofern man überhaupt im Modus des ästhetischen Erlebens urteilt, sollte das in diesem Sinne interesselos sein. (Wenn man Kant folgt, wenn nicht, spricht wenig dafür diesen Ausdruck überhaupt zu verwenden. ;))


    Zurück zum Thema...


    Zitat

    (Reiner Klang) Kann man dies in einer musikalischen Welt der strengen Form trennen?


    Andersrum: wie kann man es überhaupt zusammenwerfen? Was ist "strenge" Form? Die Phrasenstruktur eines simplen Menuetts ist häufig völlig symmetrisch (das ermöglichte Mozart sein Würfelspiel). Aber niemand spricht hier von "Mathematik". Warum ist eine Fuge "mathematisch", eine Sonate nicht?
    Es gibt in der Musik des Mittelalters und der Renaissance tatsächlich solche Verbindungen, in viel höherem Maße als bei Bach. Aber auch hier ist die "Mathematik" auf bestimmte Proportionen beschränkt (es gibt z.B. eine Motette von Dufay, die angeblich Proportionen des Florentiner Doms widerspiegelt, für dessen Weihe sie komponiert wurde. Ein Mathematiker würde kaum von Mathematik sprechen.


    Daß auch sonst Proportionen und Symmetrien sehr wichtig sind, ist aber fast trivial und vermutlich nichtmal ungewöhnlich stark ausgeprägt bei Bach (verglichen mit MA, Wiener Klassik und 20. Jhd.).
    Perfekte Symmetrien in Kunst und Musik sind meistens sehr einfach und langweilig, Abwechslungsreichtum ensteht erst in der Abweichung von symmetrischen Mustern.


    Eine weitere Schwierigkeit habe ich mit "(mathematischer) Perfektion". Das legt einen (äußerlichen) Maßstab nahe, mit dem man "Perfektion" messen könnte. Für ein Kunstwerk gibt es aber keinen äußeren Maßstab. Ich kann zwar ein Werk X als Maßstab festlegen (das Stück ist dann per def. vollkommen, weil es exakt dem Maßstab enstpricht), aber warum sollte Werk Y demselben folgen?


    Wenn man dagegen nur so etwas wie "innere Folgerichtigkeit" meint, ist das wieder etwas, was fast jedes gelungene Kunstwerk erfüllen sollte (und entsprechend vage und flexibel ist der Begriff).


    Schließlich überträgt man hier, glaiube ich, einen vagen Eindruck, den man vielleicht von einigen Klavier- und Orgelwerken gewinnen mag, unzulässig auf Stücke, die ihm überhaupt nicht entsprechend. Inwiefern die Matthäuspassion (oder eine von Zahlensymbolik strotzende Kantate) oder das 1. Brandenburgische Konzert auf "abstrakte" Weise schön sind, vermag ich nicht nachzuvollziehen.


    viele Grüße


    JR

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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Schließlich überträgt man hier, glaiube ich, einen vagen Eindruck, den man vielleicht von einigen Klavier- und Orgelwerken gewinnen mag, unzulässig auf Stücke, die ihm überhaupt nicht entsprechend. Inwiefern die Matthäuspassion (oder eine von Zahlensymbolik strotzende Kantate) oder das 1. Brandenburgische Konzert auf "abstrakte" Weise schön sind, vermag ich nicht nachzuvollziehen.


    Dieser immer wieder kolportierte Unsinn, aus dem späten 19. jarhundert stammend, daß Bach "Mathematiker" gewesen sei, feiert bedauerlicherweise noch immer fröhliche Urständ. Andere Komponisten aus Bachs Umfeld und die meisten seiner (zeitlichen) Vor-Gänger, operierten ebenso fröhlich mit Zahlen und Symbolik wie der Herr Cappell-Directohr Bach, ohne daß wer auf die Idee käme, etwa in Graupner oder Heinichen "Mathematiker" zu sehen. Bach WAR vor allem Musiker, der sich auf vielfältige Weise die Formensprache seiner Epoche immer wieder neu "erfand". darin sehe ich schon eine Besonderheit als solche, aber mit der an anderer Stelle erwähnten "Annäherung an die Perfektion" hat das garnichts zu tun, denn die findet man auch bei anderen Barockkomponisten von Schütz über Fux und Caldara bis zu den "perfekten" Oratorien des späten Händel.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Es gibt in der Musik des Mittelalters und der Renaissance tatsächlich solche Verbindungen, in viel höherem Maße als bei Bach. Aber auch hier ist die "Mathematik" auf bestimmte Proportionen beschränkt (es gibt z.B. eine Motette von Dufay, die angeblich Proportionen des Florentiner Doms widerspiegelt, für dessen Weihe sie komponiert wurde.


    Kurzer Zwischenruf: Wie fast alle solche Hypothesen, die sich auf angeblich ausgeklügelte Proportionen in mittelalterlicher und spätmittelalterlicher Architektur beziehen, ist auch der behauptete Bezug zwischen Dufays "Nuper rosarum flores" und der Architektur des Florentiner Doms ins Reich der Fiktionen zu verweisen. Das war mal eine steile Hypothese von Charles Warren, die aber schnell von jedem entkräftet werden konnte, der die ziemlich komplizierte und ganz und gar unsystematische Baugeschichte des Florentiner Doms kennt. Den neuesten Forschungsstand spiegelt wohl wider: Gérard Denizeau, Brunelleschi et Dufay au Dôme de Florence, in: Michèle Barbe (ed.), Musique et arts plastiques: analogies et interférences, Paris 2006.


    Es steht aber m.W. immer noch die erheblich schlüssigere Hypothese von Craig Wright im Raum, dass die im (alttestamentarischen) ersten Buch der Könige beschriebenen Proportionen des salomonischen Tempels die Struktur des Dufay-Werks bestimmt hätten. Allerdings fände ich das nicht "mathematisch" und auch kaum in Hinblick auf Proportionslehre interessant, sondern eher als markantes Beispiel für "Intermedialität", in diesem Fall zwischen Architektur und Musik.



    Viele Grüße


    Bernd

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  • Zitat

    Original von Zwielicht


    Kurzer Zwischenruf: Wie fast alle solche Hypothesen, die sich auf angeblich ausgeklügelte Proportionen in mittelalterlicher und spätmittelalterlicher Architektur beziehen, ist auch der behauptete Bezug zwischen Dufays "Nuper rosarum flores" und der Architektur des Florentiner Doms ins Reich der Fiktionen zu verweisen. Das war mal eine steile Hypothese von Charles Warren, die aber schnell von jedem entkräftet werden konnte, der die ziemlich komplizierte und ganz und gar unsystematische Baugeschichte des Florentiner Doms kennt. Den neuesten Forschungsstand spiegelt wohl wider: Gérard Denizeau, Brunelleschi et Dufay au Dôme de Florence, in: Michèle Barbe (ed.), Musique et arts plastiques: analogies et interférences, Paris 2006.


    Sie wird aber anscheinend so häufig noch kolportiert, daß ich sie irgendwo aufgeschnappt habe. Es bezog sich auch eh nicht auf den ganzen Dom, sondern nur auf die Kuppel. Wie auch immer. Es dürfte dennoch richtig sein, daß es in der Musik des 14.-16. Jhds. eher mehr Stücke als im Barock gibt, die von solchen Prinzipien wesentlich geprägt sind. Das als "Mathematik" zu bezeichnen, ist dennoch eher verwirrend.


    Zitat


    Es steht aber m.W. immer noch die erheblich schlüssigere Hypothese von Craig Wright im Raum, dass die im (alttestamentarischen) ersten Buch der Könige beschriebenen Proportionen des salomonischen Tempels die Struktur des Dufay-Werks bestimmt hätten. Allerdings fände ich das nicht "mathematisch" und auch kaum in Hinblick auf Proportionslehre interessant, sondern eher als markantes Beispiel für "Intermedialität", in diesem Fall zwischen Architektur und Musik.


    Es ist ja nicht so, daß es allzu viele musikalische oder architektonische Kunstwerke ganz ohne Proportionen gäbe. ;) In der Allgemeinheit ist das völlig nichtssagend, weil es gelungene und weniger gelungene Musik betrifft und daher als Qualitätsmerkmal ziemlich ungeeignet.


    Dennoch gibt es natürlich ein paar mehr oder weniger interessante Beispiele. Im Credo der h-moll-Messe hat Bach das Et incarnatus nachträglich in einem extra Chor auskomponiert und dafür das vorhergehende Duett, in dem die Worte zuerst erhalten waren, geändert, um insgesamt eine Symmetrie mit dem Crucifixus als Achse herzustellen. In der Matthäuspassion hat er meines Wissens eine ursprünglich ziemlich symmetrische Anlage später wieder über den Haufen geworfen.
    Das sind aber alles ziemlich äußerliche Sachen, sehr durchschaubar, die eher uninteressant wären, wenn die Musik der derart symmetrisch angeordneten Stücke belanglos wäre.
    Was einzelne Sätze betrifft, wage ich tatsächlich die Behauptung, daß Proportionen in der Wiener Klassik wichtiger sind als im Barock. Hier gibt es nämlich viel stärker "Großtakte" und eine den gesamten Satz bestimmende Phrasenstruktur. So etwas ist für die Wirkung beim Hören viel eher relevant als ein sectio-aurea-verhältnis zweier Taktanzahlen (wie angeblich auch in Bartoks MfSSuC).


    Bruckner hat angeblich, wenn eine seiner Sinfonien bei Kritikern durchgefallen war, nachgezählt, ob er auch alles brav ordentlich nach Viertaktern strukturiert hatte.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Offenbar waren auch andere Genies der damaligen Zeit der Zahlenmystik erlegen.


    http://www.newtonproject.sussex.ac.uk/prism.php?id=74


    Obwohl einer der bedeutendsten Physiker und Mathematiker, pflegte Newton einen profunden "Aberglauben". Warum also sollte Bach nicht ?


    Dan Brown hat es in diversen Werken rauf- und runtergenudelt, und wie fragwürdig seine Deduktionen auch sind, sie entbehren nicht eines gewissen Unterhaltungswerts.


    Mit Mathematik hat das alles aber nichts zu tun, allenfalls mit Zahlenspielereien und scheinbar verschlüsselten Zweitbedeutungen irgendwelcher Wörter.


    Außerdem ist die Welt 1998 untergegangen !!! Denn 1998 ist 3 * 666, und schlimmer wird´s nimmer !!

  • Sehr gute Rezension .... die "Tonkunst" ist eine tolle Zeitschrift, habe sie letztes Jahr abonniert (also leider erst nach dieser Rezension).


    Ich werde dennoch auch seelig, ohne Bachs Takte zu zählen - C.P.E. Bachs Aussage über das trockene mathematische Zeug scheint Prautzsch nicht zu kennen (oder nicht kennen zu wollen). Hat ihm halt Gott die Feder geführt (mit Sicherheit hat er das :D) ...... aber selbst den Tintenklecksen eine Absicht zu unterstellen, geht mir entschieden zu weit. Musik ist nun einmal eine göttliche Kunst, aber auch ohne, dass wir die Takte zählen - und wenn, dann bitte auch mal die anderer Komponisten!

  • Ach du liebes bisschen!
    Jetzt sind wir wieder bei Prautzsch gelandet. Dabei hatte ich den Namen fast schon erfolgreich verdrängt. Bernhard, ich muss Dich tadeln. :D


    Natürlich hat Bach alle möglichen Metaebenen in seine Kompositionen eingebaut, vielleicht sogar in größerem Umfang als seine Zeitgenossen.


    Dennoch war dem damaligen Fachpublikum derlei durchaus vetraut. Die uns so oft rätselhaft oder versteckt erscheinende Symbolik und 'Intermedialität' ist gar nicht mehr so geheimnisvoll, betrachtet man die Lehrpläne damaliger Bildunsinstitute.
    Hätte man uns durch eine Lateinschule des 17./18. Jh. geprügelt, wäre uns vieles selbstverständlich, was wir heute erst mühsam enträtseln müssen.


    Nimmt man dazu, dass Bach im Vergleich zu seinen komponierenden Zeitgenossen die damals "Alte Musik" höher schätzte und stärker in seine Arbeit einbezog, erklärt sich der Rest fast von selbst.


    Was dann noch übrig bleibt, kann man als Tribut an die Connaisseurs werten, also an die Kumpels von der Mizlerschen Societät etwa.


    Schlussendlich bleibt es dabei: Er war kein Liebhaber von trocknem, mathematischem Zeug. Wohl aber von Anspielungen, Zitaten, Mehrfachbedeutungen etc. pp. – von augenzwinkernd bis glaubensvoll.
    Nur tritt das nie vor die eigentliche Musik, wie ihm das spät zum Vorwurf gemacht wurde von Kritikern, die bereits einer anderen Generation angehörten.


    Aber auch hier beherrschen die Ausläufer des 19. Jh. (und schon späten 18. Jh.) mit allen Missverständnissen noch den interpretatorischen Luftraum, wovon wir uns endlich lösen sollten.
    Ansonsten haben Johannes und BBB eigentlich alles gesagt. :beatnik:

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  • Zitat

    Aber auch hier beherrschen die Ausläufer des 19. Jh. (und schon späten 18. Jh.) mit allen Missverständnissen noch den interpretatorischen Luftraum, wovon wir uns endlich lösen sollten.


    Und wenn uns dann noch jemand von diesem wirklich unsäglichem thread erlöst, wär ich für den Rest des Tages wunschlos glücklich ?


    PS: mal was anders, hat jemand von euch in der letzten Zeit was von Loge gehört, gesehn, gelesen or what ever ? :D

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Guten Tag


    Zitat

    Original von Hildebrandt
    Ach du liebes bisschen!
    Bernhard, ich muss Dich tadeln. :D


    "Der Tadel der Weisen ist mir lieber als der Beifall des Pöbels !", sagte sinngemäß Konfuzius :D



    Zitat

    Schlussendlich bleibt es dabei: Er war kein Liebhaber von trocknem, mathematischem Zeug. Wohl aber von Anspielungen, Zitaten, Mehrfachbedeutungen etc. pp. – von augenzwinkernd bis glaubensvoll.



    Soe sehe ( oder höre :D ) ich das auch :yes:


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Hallo,


    Johann Sebastian Bach gehört auch für mich zu den schwierigen Komponisten. Seine Musik wirkt oft emotionslos und uninspiriert. Es gibt aber großartige Ausnahmen, wie die Passacaglia und Fuge c-Moll (für die Orgel), die berühmte Toccate und Fuge d-moll (für die Orgel) und die Chaconne in d-moll für Violine solo aus der Partita für Violine solo.
    Ich bin früher wöchentlich in Orgelkonzerte gegangen und habe mich auf Werke von Bach nie gefreut. Bach hat viele Fugen geschrieben, eine Gattung, mit der ich noch nie viel anfangen konnte. Fugen wirken auf mich meist sperrig und Johann Sebastian Bach hat selten schöne Fugen-Themen. Anton Bruckner vermochte diese Gattung allerdings in seiner 5. Sinfonie und im Te Deum musikalisch zu beleben. Zum Lernen hat Anton Bruckner die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach abgeschrieben.
    Ich habe seit langem eine Aufnahme der "Kunst der Fuge" von Johann Sebastian Bach mit Evgeni Koroliov, die bei mir jedoch zu baldiger Hör-Ermüdung führt. Nach einigen Minuten ertrage ich diese Musik nicht mehr. Koroliov spielt kaum artikuliert. Die Frage ist, ob man diese Musik zum Sprechen bringen kann und ich fand eine Aufnahme, wo dies geschah: Die Aufnahme mit Celeminene Daudet:



    Diese Musik ist wohl kaum zu phrasieren, man kann also wohl kaum Noten zu Phrasen zusammenbinden. Aber Celeminene Daudet spricht am Klavier, was so gewiß nicht in den Noten steht, aber das Werk durchaus anhörbar macht.


    Liebe Grüße


    Andreas

    De gustibus non est disputandum (über Geschmäcker kann man nicht streiten)

  • Der Thread wäre wohl besser bezeichnet mit einem "und" statt des "oder".


    Musik hat immer sehr viel mit Mathematik zu tun.
    Darum aber schreibe ich hier gar nicht. Sondern als Antwort auf Dein Wagnis, Koroliov ermüdend zu finden.
    Geht mir nicht anders. Und nicht nur bei der "Kunst der Fuge".


    Ich stelle dagegen: die Artikulation, die Phrasierung, die Bach ausschreibt, wird heute allzu ernst genommen.
    Im Notentext lässt sich nicht unterscheiden, was Verzierung ist, was "Hauptsache". Somit bekommt jede Note ein Gewicht, das ihr teilweise gar nicht zusteht. Und nicht gut tut.


    Zwar widerspreche ich Dir insofern, als Bachs Musik für mich nicht emotionslos ist- wohl aber die Interpretationen, die jede Note als heilig nehmen.
    Vom Ansatz her vermute ich, dass Vater Bach genauso Emotionen rühren wollte wie die Bach-Söhne. Mit manchmal anderen Mitteln, aber doch nie so steif wie heute "gelesen".
    Persönlich würde ich soweit gehen, die meisten all unserer ach so geschätzten Bach-Interpretationen für völlig daneben zu betrachten. Das WK mit Richter genauso wie eine des Osteroratoriums mit Herrewghe.
    Weil immer das Verspielte fehlt als Gegengewicht zum Ernsten- weil nie unterschieden wird, wo Bach Verzierungen schreibt, die so locker-flockig sein sollten wie bei Couperin.


    Bach sah sich gezwungen, jede Note auszuschreiben, auch die der Verzierungen. Wir lesen heute jede Note von ihm als ein Heiligtum.
    Aufnahmen, die das zu lösen suchen, werden grundweg abgelehnt, siehe Fasolis mit seinen hoch emotionalen Aufnahmen der Johannes-Passion und der h-moll-Messe.
    Meist stilisieren wir Bach und ignorieren seine Lebendigkeit völlig.
    Seine Konzerte dürfen dieselbe Freude bereiten wie die Telemanns, nicht umsonst waren beide befreundet.
    Aber ein BWV 1041 nötigt uns mehr Respekt ab als ein TWV 1041. Einer ist gottgleich, der andere ein Vielschreiber.


    All das Sinnliche, das Unterhaltsame der Bachschen Musik nehmen wir nicht wahr.


    Herzliche Grüße,
    Mike

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