Es ist eine besondere Herausforderung, eine Wozzeck-Aufführung zu beschreiben: weil man kaum emotionale Distanz wahren kann, weil im Graben und auf der Bühne in so kurzer Zeit soviel geschieht. Wozzeck hatte am gestrigen Montag an der Bayerischen Staatsoper Premiere. Besonders gespannt sah man dem Dirigat Kent Naganos, der Gestaltung der Titelrolle durch Michael Volle (von der Opernwelt zum „Sänger des Jahres“ gewählt) und der Regie von Andreas Kriegenburg entgegen. Kriegenburg zählt im Schauspiel zu den wichtigsten deutschen Regisseuren (u.a. Büchners Woyzeck an der Berliner Volksbühne), hat aber bisher Opern nur zweimal in seiner Heimatstadt Magdeburg inszeniert (Glucks Orfeo und Mozarts Idomeneo).
Ein Überblick über die Verantwortlichen und Agierenden der Münchner Wozzeck-Produktion:
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung: Andreas Kriegenburg
Bühne: Harald B. Thor
Kostüme: Andrea Schraad
Choreographie Zenta Haerter
Chöre Andrés Máspero
Wozzeck: Michael Volle
Tambourmajor: Jürgen Müller
Andres: Kevin Conners
Hauptmann: Wolfgang Schmidt
Doktor: Clive Bayley
1. Handwerksbursche: Christoph Stephinger
2. Handwerksbursche: Francesco Petrozzi
Der Narr: Kenneth Roberson
Marie: Michaela Schuster
Margret: Heike Grötzinger
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper
Kriegenburg hatte schon vorher angekündigt, dass er die Oper nicht aktualisieren werde. Wer sich allerdings eine realistische Aufführung mit liebevoll ausgestattetem 19. Jahrhundert im Sinne der alten Wiener Drese/Abbado-Produktion erwartet hatte, wurde von der gespenstischen Szenerie gründlich enttäuscht. Die ganze Bühne ist mehr als knöcheltief mit Wasser bedeckt. Darüber schwebt und schwankt (mir schwindelt...) ein schmutzigweißer Kasten, an dessen Innenwänden auch schon das Wasser herunterläuft – Abstraktion eines Innenraums. Die einzelnen Szenen spielen sich zunächst teils in diesem schwebenden Zimmer ab, teils im Wasser davor (der Kasten wird dann nach hinten gezogen). Tendenziell verlagert sich das Geschehen im Verlauf der drei Akte immer mehr in das Wasser, in dem die Figuren herumwaten. Die Gestaltung der Bühne entschlüsselt sich vom Ende des Stücks her (das Wasser ruft es ist ein Ort des Todes, der Teich, in dem Wozzeck ertrinkt.
Das Wasser ist bewohnt: Ein Bewegungschor, eine Gruppe schwarzgekleideter Figuren – eher an die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnernd – lebt darin. Sie stehen für den von Kriegenburg ins Zentrum gerückten Aspekt der Armut (Wir arme Leut) – mit Schildern suchen sie nach Arbeit; gelegentlich fallen während der Zwischenspiele – von unsichtbarer Hand geworfen – einige Bissen Essen oder ein paar Münzen ins Wasser: sofort stürzen sich die Schwarzgekleideten darauf und prügeln sich darum. Sie leisten Frondienste: Gebückt tragen sie während des Militärmarsches in I/3 eine Plattform, auf der sich der Tambourmajor als großer Zampano präsentiert. In der Wirthausszene lastet auf dem Rücken der im Wasser Kriechenden eine Art hölzernes Floß, auf dem die Musikanten sitzen und aufspielen. Auch greifen sie in die Handlung ein – immer wieder drücken sie Wozzeck in III/4 Messer in die Hand, die dieser immer wieder von sich wirft. In der Schlusszene entpuppen sich einige der schwarzen Figuren als die Kinder, die Mariens Jungen den Tod seiner Mutter verkünden.
Auch die Kostüme kann man kaum als realistisch oder gar „historisch korrekt“ bezeichnen – am meisten noch bei Marie, bei Wozzeck und den anderen Soldaten: alle in hellbraun gekleidet, die Männer natürlich in Uniformen. Auch der Tambourmajor trägt die gleiche Uniform, allerdings körperbetonter ohne Ärmel. Zu regelrechten Monstern ausgestaltet sind aber Hauptmann und Doktor: ersterer von grotesker Fettleibigkeit mit entsprechenden Brust- und Bauchapplikationen, am Oberkörper nur mit Epauletten und Hosenträgern bekleidet. Der Doktor – ebenfalls glatzköpfig, aber mit einer surrealen gelockten schwarzen Haarsträhne – ist an Oberkörper und Beinen in Korsetts eingeschnürt, darunter eine lange Unterhose tragend; er wirkt extrem abstoßend, fast entmenscht. Viele Figuren haben weißgeschminkte Gesichter – nach welcher Systematik, konnte ich nicht erkennen (das gemahnte etwas an Achim-Freyer-Inszenierungen; ansonsten – in der karikierenden Gestaltung von Hauptmann und Doktor, in der Verwendung von Puppen sah ich mich manchmal an die Frankfurter Mussbach-Produktion von 1993 erinnert, ohne dass ich eine Abhängigkeit behaupten oder dies gar kritisieren würde).
In der Personenregie mischen sich eindringlich „realistische“ und „stilisierte“ Züge. Schon durch das ständige Spiel im Wasser entsteht eine eher surreale Atmosphäre. Das Geschehen wird dabei durchaus verständlich nacherzählt, die Demütigungen Wozzecks durch Hauptmann, Doktor und Tambourmajor sind handgreiflich ausgestaltet: der Hauptmann schmiert dem halb erstickenden und sich verzweifelt wehrenden Wozzeck Rasierschaum in den Mund und droht ihm mit dem Rasiermesser. Der Doktor spannt Wozzeck in eine furchterregende Foltermaschine ein und lässt ihn durch einen Schlauch in einen Eimer pinkeln (der Urin wird vom Doktor fachmännisch abgeschmeckt), reißt ihm schließlich brutal den Schlauch ab, worauf der vor Schmerz schreiende und wimmernde (und blutende) Wozzeck durch das Zimmer taumelt. Am Ende des zweiten Akts wehrt sich Wozzeck gar nicht mehr gegen den Tambourmajor, er wird auf den von den Soldaten im Wasser aufgehäuften Matratzen einfach zusammengeschlagen. Dagegen haben die Szenen zwischen Wozzeck und Marie oft betont stilisierten Charakter – die beiden tasten sich aneinander heran, stehen einfach nebeneinander und halten sich an den Händen, berühren sich überhaupt nur vorsichtig (manchmal explodiert es aber dann doch zwischen beiden). Auch gibt es keinen eigentlichen Mord an Marie: Wozzeck ersticht eine Puppe (mit der er schon in der Wirtshausszene hantiert hatte), drückt sie Marie gegen den Unterleib – sie fällt nach hinten auf eine von den Schwarzgekleideten bereitgehaltene Bahre und wird abtransportiert.
Eine Schlüsselrolle hat das Kind Wozzecks und Mariens inne, gespielt von Aurelius Braun. Hier haben wir es nicht wie sonst häufig mit einem Kleinkind zu tun, sondern mit einem fast schon pubertierenden Jungen. Er spielt häufig mit, auch in Szenen, in denen seine Anwesenheit nicht vorgeschrieben ist. So bekommt er hautnah die Demütigungen seines Vaters mit, versucht ihn zu trösten, klammert sich an ihn, sucht seine Zuneigung, wird von Wozzeck aber immer wieder zurückgestoßen. „Papa“ pinselt er an die Rückwand des Zimmers und malt einen Pfeil, der auf seinen Vater zeigt: wütend versucht Wozzeck, die Schrift zu verwischen. Auch andere Schlüsselwörter schreibt der Junge auf: „Geld“ und später „Hure“. Letzteres nimmt schon auf sein sich wandelndes Verhältnis zu Marie Bezug: während in I/3 Vater, Mutter und Sohn sich sogar kurz zu einer „Heiligen Familie“ zusammenfinden, geht der Junge nach der Affäre mit dem Tambourmajor zu seiner Mutter auf Distanz, läuft vor ihr weg, zeigt ihr schließlich offen seine Verachtung: die Szene in III/1, in der Marie in der Bibel liest, gerät zu einem verzweifelten Werben um ihr Kind. Schließlich kann sie sich nur an dessen zerschlissenes Stofftier (wohl ein Affe) klammern, das ihr der Junge aber entreißt, das er schließlich in einer Präfiguration des Mordes „ersticht“ und an einem winzigen Kreuzigungsbild festnagelt, das an der Rückwand des Zimmers hängt (die christologischen Bezüge werden von Kriegenburg subtil ausgeleuchtet).
Wozzeck ertrinkt nicht. Er legt sich auf einer Matratze im Wasser in embryonaler Stellung zum ewigen Schlaf nieder. Zum großen Orchesterzwischenspiel vor der letzten Szene liegt er einfach so da, der Junge kommt hinzu, setzt sich auf seinen Vater (was irgendwie zwischen liebevoller Vertrautheit und Gleichgültigkeit changiert), hantiert mit einer Taschenlampe, kehrt in das schwankende Zimmer zurück und steht am Ende des Stücks reglos mit einem Messer in der Hand da. Ob er es gegen andere oder gegen sich selbst richten wird, bleibt offen.
Diese mit Ausnahme des Bühnenbilds nie spektakuläre, aber ungeheuer dringliche und bewegende Inszenierung hat ihr Zentrum in ihrem Hauptprotagonisten: Michael Volle erfüllt alle in ihn gesetzten Erwartungen – wie er verzweifelt dasteht und sich die Suaden des Hauptmanns und des Doktors mit einem reflexhaften Salutieren anhört, wie er (eigentlich großgewachsen und stattlich) im Laufe der drei Akte zusammenschrumpft, sich immer gekrümmter bewegt und nur noch manchmal, dann aber umso furchterregender explodiert, das ist großartig. Auch stimmlich leistet er Enormes. Trotz der darstellerischen Inanspruchnahme differenziert er zwischen den verschiedenen Formen des Singens und Sprechens sehr genau, hat eine enorme farbliche und dynamische Palette auf Lager (einmal, in II/1, schleudert er pathetisch das Schlüsselmotiv Wir arme Leut markerschütternd ins Publikum). Augezeichnet auch Michaela Schuster als Marie, die mit Ausnahme der Bibelszene von Kriegenburg statischer geführt wird und deshalb nicht soviele Möglichkeiten zur Entfaltung hat. Stimmlich fand ich sie nicht schlecht, sehr schön in der Mittellage, aber in der extremen Höhe deutlich gefährdet und in der Tiefe erstaunlicherweise zu wenig durchdringend. Sehr gut auch, stimmlich weniger chargierend als sonst (und als andere Hauptmänner), Wolfgang Schmidt. Brillant spielend, vom Timbre her gewöhnungsbedürftig und ein paarmal erheblich neben den Noten singend, Clive Bayley als Doktor. Stimmlich und leider auch darstellerisch etwas schmalbrüstig Jürgen Müller als Tambourmajor.
Diese wenigen sängerischen Wermutstropfen wurden aber voll und ganz durch das Dirigat von Kent Nagano wettgemacht. In perfekter Koordination mit der Bühne, nie die Sänger überdeckend, transparent mit vielen Klangfarben, aber auch mit warmem Streicherklang, wo nötig (letztes Zwischenspiel!). Stetig in den Tempi, keine Rubato-Attitüden. Große dynamische Spannweite, gerade auch in den beiden anschwellenden und zerberstenden Unisono-h’s nach dem Mord an Marie bewundenswert. Nach einigen kleinen Unsicherheiten zu Beginn (Trompete) fantastisches Spiel des Orchesters. In II/3 trennt Nagano das Kammerorchester räumlich vom Orchester, was m.W. korrekt ist, aber zu einem etwas entfernten Klang des kleinen Ensembles führt.
Begeisterter Beifall des Publikums, insbesondere für Volle und – in München ungewöhnlich – für das Regieteam. Nachdem sich u.a. der Chordirektor zum Schlussbeifall nur in Gummistiefeln auf die überflutete Bühne gewagt hatte, sorgte dann Nagano nach diesem beklemmendem Abend für fast befreiende Heiterkeit, als er barfuß mit hochgekrempelten Hosenbeinen den Beifall entgegennahm.
Auf der Website der Staatsoper kann man sich wie immer ein kurzes Video und einige Fotos von der Produktion ansehen bzw. -hören (Symbol der Foto- bzw. Videokamera rechts neben dem Bild anklicken).
Viele Grüße
Bernd