Zwölftontechnik: Ungeliebt, unverstanden, das rote Tuch. Eine Aufklärungskampagne.

  • Hallo JR,


    ersteinmal Vielen Dank für Deine ausführliche Antwort!



    Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Vielleicht. Aber sollte man nicht erst einmal (muß nicht technisch sein) die musikalischen Strömungen, die zur "Freitonalität" und 12-Ton führten, klar kriegen?


    Ja- ..und Nein
    Ja, Du hast sicher recht, dass es besser ist auf dem kleinen Teilgebiet, dass uns hier alle besonders Interessiert: nämlich die Musik, einen klaren Überblick zu bekommen.
    Aber nein, andererseits gingen meist philosophische und/oder literarische Strömungen den musikalischen vorraus, und die fände ich schon zum Verständniss sehr wichtig.


    Wer kann mir nochmal den geschichtlichen Hergang genau erläutern?


    Ich schreibe jetzt hier mal meine private Spontan-Theorie:
    Gegen Ende des 19. Jahrh. wurde die Tonalität von verschiedenen Komponisten immer weiter aufgeweitet (Wagner, Reger, Strauss, Skrjabin, Debussy) bis hin zu den ersten atonalen Stücken von Schönberg. Der hat sich dann ein Werkzeug entwickelt, um besser atonal schreiben zu können: die Zwölftontechnik (obwohl es da ja noch andere Kandidaten gibt: Hauer z.B.) Später war im die atonale Schreibweise so vertraut, dass er dieses Schema nicht mehr brauchte und da es ihn auch zunehmend einengte. Wer dann später (also nach Webern) ZZT benutzte, tat das eher als Referenz, so wie man nach Bach noch Fugen schreibt oder schrieb...
    Wäre das eine nachvollziehbare mögliche(!) Theorie?


    Wichtig (und neu) war für mich hier im Thread bisher vorallem die Inforamtion, dass Schönberg selber anscheindend nicht vom Hörer wollte, dass er die Theorie aus dem Musikwerk heraushört. (Sondern das es eher ein "handwerklicher" Trick für ihn selber war.)


    Was ich aber immer noch nicht in Zusammenhang bringen kann sind:
    tonal und atonal,
    ist bitonal tonal oder atonal (und ab wieviel ist es atonal),
    was ist mit Pentatonik,Ganztonsytem, etc.
    Warum verbleibt die Zwölftonmusik bei den zwölf Tönen des DM-Systems.
    Ist Jazz manchmal atonal oder könnte gar ZZT sein.


    Vielleicht kann man ja die ZZT auf folgende zwei generelle Punkte reduzieren:
    1. völliges Loslösen von der Tradition
    2. neue strenge und starre Regeln


    Gab es noch weitere Beispiele in dieser Zeit für soetwas?
    Ja! LC (Le Corbusier)
    Fünf Punkte zu einer neuen Architektur
    Haus auf Stützen, flaches Dach, freie Grundrissgestaltung, das Langfenster, freie Fassadengestaltung


    Hatte man soo große Angst vor der Tradition, dass man solch mächtige Regeln brauchte?


    Tja, und hilft uns (oder mir) das weiter?


    ?( ?( ?(


    pt_concours

    Hören, hören und nochmals hören: sich vertraut machen, lieben, schätzen.
    Keine Gefahr der Langeweile, im Gegensatz zu dem, was viele glauben, sondern vielmehr Seelenfrieden.
    Das ist mein bescheidener Rat. (S. Richter, 1978)

  • Zitat

    Original von pt_concours
    Ist Jazz manchmal atonal oder könnte gar ZZT sein.
    pt_concours


    Dazu kurz (für längeres sind Andere qualifizierter):
    Der Jazz hat interessanterweise an dieser Stelle eine ähnliche Entwicklung genommen wie die zu dem Zeitpunkt schon längst nicht mehr "klassische" Musik: auf eine immer komplizierter werdende Harmonik im Bebop der 40er und 50er Jahre folgte der Durchbruch zum atonalen "Free Jazz" (der wird im allgemeinen auf das Erscheinungsjahr der gleichnamigen Platte von Ornette Coleman 1960 datiert) - andererseits aber eine neoklassizistische Gegenbewegung ("Hard Bop"). Und auch Jazzmusiker fühlten sich in der ganz freien Atonalität unwohl, weil sie ihnen bald zu beliebig erschien, und suchten nach neuer Struktur. Wenn ich mich nicht irre, hat zumindest Anthony Braxton in diesem Zusammenhang auch mit Zwölftonreihen experimentiert. Ornette Coleman entwarf ein Konzept, das er "harmolodics" nannte und dessen Grundkonzept an das der seriellen Musik erinnert ("harmony, melody, speed, rhythm, time and phrases all have equal position in the results", Zitat Coleman), das aber letztlich wohl eher eine spirituelle Philosophie als ein System war.


    Grüße,
    Micha

  • Hallo pt_concours,

    Zitat

    Gegen Ende des 19. Jahrh. wurde die Tonalität von verschiedenen Komponisten immer weiter aufgeweitet (Wagner, Reger, Strauss, Skrjabin, Debussy) bis hin zu den ersten atonalen Stücken von Schönberg.


    Bis hierher zweifellos richtig.


    Zitat

    Der hat sich dann ein Werkzeug entwickelt, um besser atonal schreiben zu können: die Zwölftontechnik (obwohl es da ja noch andere Kandidaten gibt: Hauer z.B.)


    Kann sein, aber es wird anders - oder zumindest mit mehr Zwischenstufen - überliefert. Schönberg bedurfte eines ordnungstiftenden Systems, das ihm die Möglichkeit bot, größere Stücke zu schreiben. Seine atonalen Stücke sind ja allesamt Miniaturen bzw. textgebunden. Er strebte etwas an wie eine sinnstiftende Einheit. So kam es es zur Idee einer gesetzmäßigen Monothematik, die jedoch die Atonalität garantieren sollte. Und das führte zur Idee der Zwölftontechnik.



    Zitat

    Später war ihm die atonale Schreibweise so vertraut, dass er dieses Schema nicht mehr brauchte und da es ihn auch zunehmend einengte. Wer dann später (also nach Webern) ZZT benutzte, tat das eher als Referenz, so wie man nach Bach noch Fugen schreibt oder schrieb...


    Wenn "ihm" Schönberg ist, stimmt das nicht ganz. Schönberg hat in seiner zwölftönigen Schaffensperiode immer wieder tonale Werke komponiert, jedoch keine atonalen.
    Da die Reihentechnik sich wandelte aber bis heute existiert, glaube ich auch nicht, daß jeder Komponist, der mit Reihen arbeitet, mit Absicht "in memoriam" komponiert. Die Reiehentechnik ist zu einem festen Bestandteil des Vokabulars geworden.


    Zur Polytonalität
    Es kommt darauf an, wie der Komponist sie verwendet. Wenn er polytonale Akkordsäulen aus Dreiklängen auftürmt, sie in weitem Abstand lagert und so instrumentiert, daß sie tatsächlich Blöcke bilden, ist meiner Meinung nach bei allerhöchstens drei Schluß. Wenn er die Töne der Dreiklänge eng oder gemischt lagert, kann er mit zwei Dreiklängen einen atonal wirkenden Akkord erzielen. Z.B.: Wenn die Dreiklänge von C-Dur und Fis-Dur gleichzeitig erklingen, und zwar C-Dur im Baß der Posaunen und Fis-Dur in Hoher Lage in Streichern oder Holzbläsern, wird man die Bitonalität hören. Wenn der Klang aber (vom tiefsten Ton aus gelesen und ohne Oktavabstände) so gelagert ist: c-fis-ais-e-g-cis, die Trompeten c-fis spielen, Streicher ais-e und Oboen und Klarinetten g-cis (oder eine noch verschränktere Instrumentierung), wird man den Akkord nicht als aus zwei Dreiklänghen zusammengesetzt wahrnehmen sondern als einen atonalen Akkord.


    Wenn die Polytonalität hingegen rein horizontal durchgeführt wird, liegt die Sache anders: Wenn man sechs verschiedene Melodielinien im sechs verschiedenen Tonarten gleichzeitig hat, also einen polytonalen Kontrapunkt, und keine Stützakkorde, dann wird man die am stärksten hervortretende Linie (das kann die am intensivsten instrumentierte oder die in der Lage exponierteste) als tonalitätsgebend hören und die restlichen wird man als dissonanten Kontrapunkt wahrnehmen. Hier kann es hilfreich sein, die "Petites Symphonies" von Milhaud zu hören, die konsequent polytonal geschrieben sind: Man nimmt den Kontrapunkt als dissonant wahr, hat das Gefühl, massenhaft "Störtöne" zu hören, der Gesamteindruck ist aber nicht der einer atonalen, sondern der einer sehr dissonanten tonalen Musik.


    Polytonalität und Zwölftontechnik
    Die akkordische Form der Bi- und Polytonalität wird von einigen Komponisten mit der Zwölftontechnik kombiniert. Es ist möglich, eine Reihe aus vier Dreiklängen zu bauen, beispielsweise C-e-g-f-a-D-FIS-ais-cis-h-dis-GIS. Nun kann man eine Reihe nicht nur horizontal verwenden, sondern auch vertikal. Man kann also aus der Dreiklangsreihe theoretisch eine Abfolge reiner Dreiklänge (C-Dur - d-Moll - Fis-Dur - gis-Moll) formen, aber auch die Dreiklänge übereinander stapeln. Wenn man das Zwölftonsystem mit der entsprechenden Virtuosität handhabt, kann daraus eine Musik entstehen, die völlig anders klingt, als man es sich von Zwölftontechnik erwarten würde. Liebermann etwa arbeitet auf diese Weise, und aiuch Henze in den "Bassariden".


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Jacques Rideamus
    Voraussetzung dafür war jeweils, dass mich die Musik überhaupt erst einmal intensiv genug ansprach, dass ich mich mit ihr auseinandersetzen WOLLTE. Das meinte ich mit dem Anspruch, dass mich Musik überzeugen muss, damit ich sie mögen kann. Insofern sehe ich das auf gleicher Ebene: der Komponist fordert oder wünscht: "Interessiere Dich". Nichts anderes setze ich dagegen: "Interessiere mich". Wenn das misslingt, ist das auch kein Beinbruch.


    Zitat


    Es lässt sich sehr schwer vorher sagen, ob (oder auch nur wann) einem ein Werk nicht doch gefallen könnte, weil das eben auch mit Qualität zu tun hat. Nicht (nur) mit der ab einer gewissen Fallhöhe, sondern mit Qualität im Sinne von bestimmten Eigenschaften, die berühren - oder auch nicht.


    Ja, das sehe ich alles im Wesentlichen genauso. Deswegen finde ich es ja so wichtig, sich möglichst offen einem Stück zu nähern, ihm zweite,... 10. Chancen zu geben. Natürlich hat nicht jeder bei jedem Werk dieselbe Geduld und manchmal lohnt sich auch eine n-te Chance nicht. Und ich fürchte eben, daß diese Offenheit bei bestimmten Musikstücken, -stilen, oder -gattungen nicht gegeben ist. Weil ihnen entweder schon der Ruf des außergewöhnlich Schwierigen oder Sperrigen vorauseilt, oder weil sie beim Erstkontakt so wirken.


    Zitat


    Eigentlich ging es mir aber überhaupt nicht darum, irgendwelche Forderungen zu postulieren, geschweige denn Musikrichtungen pauschal zu kritisieren sondern nur darum, ein verbreitetes Unbehagen in den Griff zu bekommen, indem ich versuchte, mögliche Gründe dafür zu formulieren.


    Zitat


    Kurz: ich werde missverstanden, wenn man mir eine Pauschalverurteilung irgendeiner Musik unterstellt. Edwin hat das Problem schon richtig erkannt und beschrieben, und dafür bin ich ihm dankbar, auch wenn ich mir seinen Umkehrschluss nicht anziehe. Ich sage nicht, dass Zwölftonmusik und ihre Weiterentwicklungen davon aus Prinzip unemotional ist, weil ihre Grundlagen mathematisch definiert sind.


    Das sind sie nicht mehr oder weniger als bei anderer Musik. Daß man eine Tonfolge rückwärts spielen darf oder spiegeln usw. kann man natürlich als eine Art mathematische Transformation sehen, aber diese Operationen sind ja Jahrhunderte alt und wurden nicht von den 12tönern erfunden. Ich wollte Dir ganz gewiß keine Pauschalverurteilung unterstellen. Nur die anscheinend gut gemeinte, aber m.E. dem Ziel dieses Threads massiv zuwiderlaufende Setzung des Klischees der "mathematischen" Musik, die nur dem Analysierenden eine intime Freude bereiten könnte usw. Und ich kann mich selbst nach dem obigen Zitat noch immer nicht des Eindrucks erwehren, daß Du das völlig aufgegeben hast...
    "damning with faint praise", zu Tode loben nennt man das wohl: "Es ist genial konstruiert..." "Ich bewundere seine musikwissenschaftliche Forschung..." usw.


    Zitat


    Der Riss verläuft ganz woanders, manchmal durch das Werk eines einzelnen Komponisten von kurzer Lebenszeit wie Alban Berg. Sowohl sein Violinkonzert als auch die Oper (!) LULU erregen mich. Nur regt mich das eine an und das andere auf. Ich weiß inzwischen, dass beide zwar dodekaphonisch informiert, aber keine Zwölftonmusik sind. Nur hat das nichts damit zu tun, dass mich das eine an- und das andere aufregt, was bei dem Thema nicht einmal die falsche Reaktion ist. Wie lässt sich das erklären? Sicher nicht mit Regelwerken. Nennt es eine Sache des Geschmacks, aber der ist auch nicht einfacher zu definieren und sogar noch schwerer zu analysieren, geschweige denn annähernd vollständig zu begründen.


    Muß und soll er ja auch nicht. Aber das Ganze bedeutet eigentlich, daß Edwins prinzipiell zu begrüßende "Aufklärung" bestenfalls sekundäre Bedeutung haben kann, vermutlich irrelevant ist oder schlimmstenfalls sogar abschreckend wirkt, weil dadurch, daß einige technische Sachen skizziert werden, bei manchen der Eindruck entsteht, darin bestünde die Point dieser (und besonders diese) Musik. (Wohlgemerkt soll das kein Vorwurf an Edwin sein, dessen Ziel ja ist, zu zeigen, daß das vergleichsweise simple Operationen sind, die einiges an Freiheit lassen)
    Keine einfache Darstellung der Methoden kann wohl den Eindruck, den man beim Hören hat, wirkungsvoll aufheben oder relativieren. Es sei denn, bei jemandem wird durch die Skizze der Verfahren eine intellektuelle Neugierde geweckt, über die er/sie sich der Musik nähern kann.
    Eher könnte vielleicht der Enthusiasmus, den einige in den entsprechenden Threads zu Werken der Wiener Schule u.a. ausgedrückt haben, deutlich machen, daß hier nicht irgendwelche Konstrukte bewundert werden, sondern einfach die Musik. Mich fasziniert natürlich nicht an jedem Stück Ähnliches, aber an der Lyrischen Suite nichts prinzipiell anderes als an einer Brahms-Sinfonie.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von teleton
    Leider muß ich darüberhinaus aber feststellen, das gerade viele Werke der ZTT mich nicht ansprechen; sie sind eher für mich ungenießbar.
    Insbesondere die Werke der sogenannten "Wiener Schule" langweilen mich vollends. Dazu gehören auch die kurzen Webern-Orchesterstücke.
    Wo soll hier eine Spannung aufkommen ???
    Wie kann man daran nur gefallen finden ??
    Mathematik in Tönen ?


    Ich kann ehrlich gesagt nicht sagen, wie man an den Webern-Stücken gefallen finden kann, aber ich habe Ihn zumindest gefunden. Das begann sozusagen eher harmlos mit einer Faszination aufgrund der rigoros verdichteten Kompositionsweise und war eine Zeitlang in der Tat nicht mehr, als die Lust am Bizarren. Diese ist dann aber doch einer durchaus emotionalen Involviertheit gewichen. Die 6 Orchesterstücke op. 6 beispielsweise finde ich geradezu erschreckend verdichtete Emotion und sie sind wohl auch in engem Zusammenhang mit dem Tod von Weberns Mutter zu bringen.


    Wie auch immer, ich kann leider nicht mit so eindrücklichen Analysen wie Edwin für diese Musik werben. Ich glaube aber, dass einfach ein zentrales Problem darin besteht, dass viele Hörer innerhalb des gesamten Stückes keine Organisation mehr wahrnehmen. Bei vielen modernen Stücken hingegen, die nicht streng zwölftönig komponiert sind, lassen sich dagegen Motive in Wiederholung und Variation verfolgen, sind meist zumindest kleine Rettungshaltegriffe eingestreut, an die man sich klammern kann. Aber ohne diese zerfällt dann das Gesamtbild in viele Einzelereignisse, die dann offenbar nicht mehr emotional konsumiert werden können. Ein weiteres Problem spiegelt sich in der aktuellen Wetterlage: Wenn ich vor die Tür gehe und mich über die Kälte und den Schnee ärgere, weil doch Sonne und Trockenheit so schön sind, werden ich mich im Winter nie recht wohl fühlen. Man muß halt erfahren, dass jede Jahreszeit seinen Reiz hat.


    Gruß
    Sascha

  • Lieber Johannes,

    Zitat

    Wohlgemerkt soll das kein Vorwurf an Edwin sein, dessen Ziel ja ist, zu zeigen, daß das vergleichsweise simple Operationen sind, die einiges an Freiheit lassen


    Genau darum geht es mir: Zu zeigen, daß die Zwölftontechnik eine thematische Arbeit ist, die von nicht-zwölftönigen Praktiken gar nicht so arg weit entfernt ist. Schönberg konstruiert im wesentlichen nicht mehr als Brahms. Wenn man das verstanden hat, so meine Hoffnung, kann man sich auf die Werke anders einlassen. Die Technik sollte aufgrund des Verständnisses keine Barriere mehr darstellen.
    :hello:

    ...

  • Liebe Fairy Queen,
    hier eine Ad-hoc-Auswahl:
    Schönberg: Haringer-Lieder op. 48
    Berg:„Schließe mir die Augen beide“, zweite Version (1925)
    Webern: Drei Lieder aus „viae inviae“ op.23; Drei Hildegard-Jone-Lieder op.25
    Martin: Drey Minnelieder
    Apostel: Zwei Alfred-Mombert-Gesänge
    Hartzell: Gryphius-Lieder; am besten auf die Homepage schauen: http://www.eugene-hartzell.org/, alle Werke dieses Komponisten sind sehr empfehlenswert
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    ...Deswegen finde ich es ja so wichtig, sich möglichst offen einem Stück zu nähern, ihm zweite,... 10. Chancen zu geben. Natürlich hat nicht jeder bei jedem Werk dieselbe Geduld und manchmal lohnt sich auch eine n-te Chance nicht. Und ich fürchte eben, daß diese Offenheit bei bestimmten Musikstücken, -stilen, oder -gattungen nicht gegeben ist. Weil ihnen entweder schon der Ruf des außergewöhnlich Schwierigen oder Sperrigen vorauseilt, oder weil sie beim Erstkontakt so wirken.


    Volle Zustimmung. Die etwas apodiktische Forderung nach intensiver Auseinandersetzung gerade mit dem auf Anhieb "Schwierigen" erinnert mich an eine Tendenz der Zeitschrift "Filmkritik" der 70er Jahre, die ihre sozialkritisch geprägten Gegner leicht spöttisch die "Sensibilisten" nannten. Einer von denen schrieb einen Satz, den ich nicht vergessen habe: "Ein Film ist der Pflug, mit dem ich mich umgrabe". Ich finde, dieser Satz passt noch viel besser auf die Musik. Nur ist es nicht jedem jederzeit gegeben, jede Herausforderung anzunehmen oder gar zu suchen und sich damit auseinanderzusetzen. So wie ein Lubitsch und ein Tarkowskij völlig verschiedene Wege suchen, unterschiedliche Fragen zu stellen und nur manchmal zu beantworten und dennoch beide in ihrer Weise großartig sind, so geht es auch mit der Musik. Der Fehler beginnt erst dort, wo man das eine gegen das andere ausspielt und dafür gering schätzt, weil es nicht erreicht, was es gar nicht will.


    Zitat


    Nur die anscheinend gut gemeinte, aber m.E. dem Ziel dieses Threads massiv zuwiderlaufende Setzung des Klischees der "mathematischen" Musik, die nur dem Analysierenden eine intime Freude bereiten könnte usw. Und ich kann mich selbst nach dem obigen Zitat noch immer nicht des Eindrucks erwehren, daß Du das völlig aufgegeben hast...
    "damning with faint praise", zu Tode loben nennt man das wohl: "Es ist genial konstruiert..." "Ich bewundere seine musikwissenschaftliche Forschung..." usw.


    Nein, aufgegeben habe ich es nicht, denn auf manche Musik trifft es m. E. zu. Das heißt ja nicht, dass diese Musik unemotional sein muss. Antracis hat gerade ein sehr schönes Beispiel dafür gegeben, dass man sich die Emotionalität eines Werkes auch über die Analyse erschließen kann - und sei es als Nebenwirkung des häufigen Hörens. Um noch einmal auf Filmbeispiele zurück zu greifen: ich bewundere Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN oder Orson Welles' CITIZEN KANE unendlich und könnte Bände mit der Analyse ihrer Großartigkeit (nach-)schreiben. Dennoch berühren sie mich nachhaltig auch nach sehr häufigem Ansehen nur mit dem kalten Glanz ihrer Virtuosität. Das ist wahrlich keine Verdammung mit schwachem Lob. Nur eine Kennzeichnung ihrer Wirkung auf mich. Die hat nicht nur mit Geschmack zu tun.


    Zitat


    ...das Ganze bedeutet eigentlich, daß Edwins prinzipiell zu begrüßende "Aufklärung" bestenfalls sekundäre Bedeutung haben kann, vermutlich irrelevant ist oder schlimmstenfalls sogar abschreckend wirkt, weil dadurch, daß einige technische Sachen skizziert werden, bei manchen der Eindruck entsteht, darin bestünde die Point dieser (und besonders diese) Musik.
    Eher könnte vielleicht der Enthusiasmus, den einige in den entsprechenden Threads zu Werken der Wiener Schule u.a. ausgedrückt haben, deutlich machen, daß hier nicht irgendwelche Konstrukte bewundert werden, sondern einfach die Musik. Mich fasziniert natürlich nicht an jedem Stück Ähnliches, aber an der Lyrischen Suite nichts prinzipiell anderes als an einer Brahms-Sinfonie.


    Bei der Korrektur dieses Eindrucks der Irrelevanz oder Abschreckung, wäre sie denn nötig, habt Ihr mich ganz auf Eurer Seite. Braucht Ihr aber nicht, denn allein der - hoffentlich nicht nur bisher - erfreulich seriöse und aufrichtige Verlauf dieses Threads spricht Bände. Ich bin sicher nicht der Einzige, der das Gefühl hat, dass mit diesem Thread wenigstens ein Weg aufgezeichnet wird, diesen vertrackten Knoten aus widersprüchlichen Emotionen, Neugier und (manchmal widerwilliger) Faszination aufzudröseln, vor dem sie sich sehen. Mein Dank dafür gilt allen Beteiligten, besonders denen, die sich damit schwer tun, aber natürlich besonders Edwin und seinem pädagogischen Geschick.


    Womit hoffentlich nur ein Ende des Anfangs markiert ist und keines des Threads.


    :hello: Jacques Rideamus

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  • Zitat

    Original von Antracis


    Ich kann ehrlich gesagt nicht sagen, wie man an den Webern-Stücken gefallen finden kann, aber ich habe Ihn zumindest gefunden. Das begann sozusagen eher harmlos mit einer Faszination aufgrund der rigoros verdichteten Kompositionsweise und war eine Zeitlang in der Tat nicht mehr, als die Lust am Bizarren. Diese ist dann aber doch einer durchaus emotionalen Involviertheit gewichen. Die 6 Orchesterstücke op. 6 beispielsweise finde ich geradezu erschreckend verdichtete Emotion und sie sind wohl auch in engem Zusammenhang mit dem Tod von Weberns Mutter zu bringen.


    Wobei bei Weberns Orchesterstücken opp. 6 & 10 wiederum gilt, dass sie keine 12-Ton-Musik sind. Es kann also nur das Idiom sein und nicht die Technik, zu dem man hier keinen Draht findet.


    Viele Grüße

  • Meine Gedanken zur Zwölftonmusik:
    Wenn ich mal an einen Schriftsteller denke, der es sich ganz analog auferlegt, alle 26 Buchstaben nacheinander zu verwenden, bevor er eine neue Reihe mit 26 Buchstaben beginnt... Dann können die Ergebnisse zweifellos faszinierend sein, wenn es ihm dennoch gelingt, mit dieser "Spielregel" trotzdem noch einen halbwegs vernünftigen Text zu verfassen.


    Aber sie sind eben nur dann faszinierend, wenn man diese Spielregel begeistert verinnerlicht. Ich gehe davon aus, dass der selbe Künstler ohne derartig beschränkende Regeln ein Ergebnis erzielen kann, dass über "halbwegs vernünftig" hinausgeht. Und da fällt mir persönlich die Wahl dann leicht... =)


    Mir fällt gerade noch ein anderer Vergleich ein: Reime sind in gewisser Weise ja eine ähnliche Beschränkung der Ausdrucksmöglichkeit. Der Grund ist allerdings einsichtig: Es klingt gut, wenn ähnliche Wortpaare möglichst in einem gleichmäßigem Versmaß aufeinandertreffen.
    Nehmen wir nun mal einen "Neim": Für einem Neim sollen die letzten drei Buchstaben eines Wortes jeweils um einen Konsonanten bzw. Vokal nach hinten verschoben werden. Also "neimt" sich z. B. -fer auf -gis oder -los auf -mut.
    Ob man damit den gemeinen Hörer in ähnlicher Weise faszinieren kann...? Anscheinend nicht, denn ich bin wohl nicht der erste mit dieser Idee.


    :untertauch:
    So, jetzt könnt ihr schmeißen.


    :hello:

  • Hallo Honigschlecker und alle anderen,


    Deine Beschreibung - ähnlich wie Blackadders weiter oben - geht ja in die Richtung, dass die Regeln in der Zwölftontechnik vollkommen beliebig aufgestellt wurden. Ich glaube genau gegen diese Meinung (Vorurteil) will Edwin ja angehen.


    Aber das können andere hier viel besser argumentieren und die historische Entwicklung, die zu diesen Regeln fühlte begründen.


    Denn ich höre, wie viele hier, auch hauptsächlich emotional und ohne eine Analyse der Musik. Ich habe meistens auch keine Ahnung, ob das, was ich höre atonal, ZTT (schöne Abkürzung), seriell oder sonst was ist. Wenn man mich bei manchem meiner Lieblingsstücke fragte, wäre ich komplett aufgeschmissen und könnte auch nur das wiederholen, was ich im CD- oder Programm-Heft gelesen habe.


    Insofern habe ich eigentlich keinen anderen Zugang zur Musik als viele hier und die gleiche Erwartung, die JRII oben äussert, nämlich dass sie mich anspricht, bewegt, interessiert (ich finde das Zitat gerade nicht).


    Aber bei mir ist das eben auch mit viel Musik des 20. und 21. Jhdt. der Fall, auch bei der als besonders seriell, abschreckend und konstruiert verschrieenen. Z.B. höre ich sehr gerne Musik von Boulez (Répons, Marteau), den späten Nono, manches von Stockhausen auch aus der (vermutlich) noch seriellen Phase, sogar manches von dem sicher sehr abstrakten Lachenmann. Es gibt jetzt sicher wieder Leute, die korrigieren können, wenn hier etwas nicht mehr seriell oder seriell beinflusst ist :-)


    Anderes gefällt mir hingegen (noch?) nicht, bei diesen Werken hat es noch (?) nicht klick gemacht. Das gilt z.B. für Ferneyhough. Hier gibt es wesentlich mehr Besipiele, aber ich kann mich gerade nicht vor meinen CD-Schrank stellen und diese Beispiele heraussuchen. Das gilt im übrigen aber auch für Werke wie "Die Kunst der Fuge" von Bach und da habe ich es schon oft versucht...


    Auch hier möchte ich wieder JR frei zitieren: Entweder die Musik spricht an, oder nicht. Wenn nicht, auch gut...


    Aber ich möchte einen persönlichen, unwissenschaftlichen Appell abgeben: Nicht verunsichern lassen von Berichten/Kritiken/ Büchern über diese angebliche Kopfmusik. Vielleicht hin- und wieder einfach mal versuchen ein paar Werke offen zu hören - geeignete Beispiele gibt es hier ja genug. Vielleicht spricht ja doch etwas an und ohne das geht einem einfach tolle Musik verloren.


    Viele Grüße,


    Melanie

  • Zitat

    Original von honigschlecker
    Meine Gedanken zur Zwölftonmusik:
    Wenn ich mal an einen Schriftsteller denke, der es sich ganz analog auferlegt, alle 26 Buchstaben nacheinander zu verwenden, bevor er eine neue Reihe mit 26 Buchstaben beginnt... Dann können die Ergebnisse zweifellos faszinierend sein, wenn es ihm dennoch gelingt, mit dieser "Spielregel" trotzdem noch einen halbwegs vernünftigen Text zu verfassen.


    Die Analogie hinkt freilich auf beiden Beinen. Es gibt bei der Musik ja keine vorgeordneten bedeutungstragenden "Worte", von denen die Töne Bestandteile gewesen wären, so daß bei einer Vertauschung Nonsens herauskommt. Was Du beschreibst entspräche vielleicht gewissen Typen aleatorischer Musik (zu der ich nichts sagen kann).
    Wie schon gesagt, gibt es die Krebs-/Spiegel etc. Operationen seit der Renaissance oder noch früher bzw. gab es vorher ähnliche noch komplexere Muster; Edwins Beschreibung der ZTT ist gut verständlich, ein recht ausführliches Beiheft konnte mir dagegen die Struktur der isorhythmischen Motette (15. Jhd.) nicht recht klar machen, im MA wurde die Musik ja tatsächlich mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie gruppiert. Es wird ja auch nicht mit einer beliebigen Reihe begonnen. Und durch den Rhythmus usw. lassen sich natürlich auch wiedererkennbare Motive bilden, trotz des Tonwiederholungsverbots. Wobei natürlich richtig ist, daß Musik, die auf Wiederholungen verächtlich herabsieht, oft sehr dicht wird und nicht leicht zu hören ist. Das gilt aber wiederum nicht nur für Dodekaphonie.


    Wie schon wiederholt gesagt, ich zweifle, daß ein Nicht-Experte vom bloßen Hören her 12-Ton-Methode von freier Atonalität (oder sogar extrem erweiterter Tonalität) unterscheiden kann. In Bergs Lyrischer Suite sind einige Sätze 12tönig, andere nicht, ich weiß aber nicht, welche, und höre es auch nicht.


    Wenn Edwin eine ähnliche Skizze bestimmter Kompositionstechniken von Josquin Desprez, Bach oder Bruckner gegeben hätte, würden dann auch alle auf einmal einen Horror vor solch "mathematischer" Musik kriegen?
    (Abgesehen davon, daß es ja auch ein Vorurteil ist, daß "mathematische" Musik irgendwie häßlich sein müsse...)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Honigschlecker,
    Die Analogie mit den Buchstaben ist recht originell, zielt aber an der Zwölftontechnik vorbei, denn man kann die Gesetzmäßigkeiten der Sprache nicht auf die Musik übertragen.
    Aber was hältst Du von der Idee, ein Gedicht ausschließlich aus den Buchstaben seiner ersten Zeile zu entwickeln? Mit solchen Anagrammen arbeitete beispielsweise Unica Zürn.
    Oder was hältst Du von der Idee, einen Roman zu schreiben, in dem der Buchstabe "e" nicht vorkommt - wie es Georges Perec machte?
    Oder überlegen wir einmal, ob nicht diverse manieristische Gedichtformen doch der Reihentechnik nahe kommen, ich denke etwa an Sestinen oder Terzinen, gegen deren Reimschemata die Zwölftontechnik geradezu unbegrenzte Freiheiten bietet.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Die Analogie hinkt freilich auf beiden Beinen. Es gibt bei der Musik ja keine vorgeordneten bedeutungstragenden "Worte", von denen die Töne Bestandteile gewesen wären, so daß bei einer Vertauschung Nonsens herauskommt. Was Du beschreibst entspräche vielleicht gewissen Typen aleatorischer Musik (zu der ich nichts sagen kann).
    JR


    Auf einem Bein gestehe ich gerne zu. =) Musik ist halt keine Liteartur. Aber auch in der Musik gibt es doch gewissermaßen Wörter bzw. Wendungen mit einer vorgegebenen Bedeutung (Chromatik, Tonleitern, Akkorde, Tonwiederholungen). Die Töne sind allerdings bei weitem nicht so abhängig voneinander wie die Buchstaben in der Schrift, ok.


    Ich will noch ergänzen, dass mein Musikgeschmack relativ eingeschränkt ist und ich Neuem gegenüber auch nicht wahnsinning aufgeschlossen bin. (Allerdings auch eine Geldfrage, manchmal.)
    So habe ich bisher von ZTT und/oder atonaler Musik nur eine sehr übersichtliche Anzahl von Werken gehört. Überzeugt hat mich keines. Bergs Violinkonzert ist noch das hörbarste, das mir bisher begegnet ist. Aber gerade da stellt sich mir die Frage: Wäre da nicht ohne die Einschränkung durch ein Kompositionsschema noch mehr drin gewesen?


    Möglicherweise nicht, denn du hast mit deinem Einwand, dass man ZTT von den anderen Kompositionen eines Komponisten vom Hören her kaum unterscheiden kann, wohl Recht.


  • Hallo Edwin,
    du hast natürlich Recht, und ich hatte es oben ja auch angedeutet: das Ergebnis solcher originellen Selbstbeschränkungen kann faszinierend sein - wenn der "Konsument" die Spielregeln begeistert akzeptiert. Was bei einem Buch ohne "e" sicherlich etliche Seiten lang funktioniert. Es ist halt originell. Ob man auf Seite 200 noch genauso begeistert ist, steht auf einem anderen Blatt. Nämlich auf Seite 201. :D
    Man muss doch auch festhalten, dass die von dir genannten Beispiele eine gewisse Berühmtheit besitzen mögen - aber sind sie auch bedeutend?


    Ok, teilweise sind sie das vielleicht, für ein sehr übersichtliches Publikum. Aber was ein größeres Publikum betrifft, bin ich halt bei der ZTT skeptisch, dass sie dieses jemals erreichen wird, eben aufgrund der selbst auferlegten Einschränkungen.

  • Zitat

    Die Frage nach dem breiten Publikum wird immer wieder gestellt. Aber ist das breite Publikum für Bedeutung und Qualität wirklich relevant?



    Um Himmelswillen, bloß nicht, denn ginge es nach dem "breiten Publikum", wären Carl Jenkins und Andrew Lloyd-Webber,Justus Frantz und Gotthilf Fischer, die "3 Tenöre" und AN die "Mount Everests" der klassischen Musik.
    Mit Relevanz, Bedeutung und gar Qualität hat das wahrlich NICHTS zu tun !

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

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  • Zitat

    Original von honigschlecker


    Auf einem Bein gestehe ich gerne zu. =) Musik ist halt keine Liteartur. Aber auch in der Musik gibt es doch gewissermaßen Wörter bzw. Wendungen mit einer vorgegebenen Bedeutung (Chromatik, Tonleitern, Akkorde, Tonwiederholungen). Die Töne sind allerdings bei weitem nicht so abhängig voneinander wie die Buchstaben in der Schrift, ok.


    Ich glaube, man kann Töne nicht mit Buchstaben gleichsetzen, sondern wenn, dann mit Wörtern. Denn ein einzelner Ton hat schon eine Bedeutung für sich, die ein einzelner Buchstabe nicht hat. Aber auch der Vergleich mit Wörtern hinkt, weil es nur zwölf Töne, aber Tausende von Wörtern gibt, so dass man die Zwölftontechnik nicht 1:1 auf die Literatur übertragen kann. Außerdem kann jeder Ton benachbart zu jedem anderen Ton stehen, was bei Wörtern höchstens im Lateinischen (und da nicht immer) der Fall ist, und auch gleichzeitig erklingen, was bei geschriebenem Text gar nicht möglich ist.


    :hello: Martin

  • Zitat

    (Original von Philhellene)
    Ich glaube, man kann Töne nicht mit Buchstaben gleichsetzen, sondern wenn, dann mit Wörtern. Denn ein einzelner Ton hat schon eine Bedeutung für sich, die ein einzelner Buchstabe nicht hat. Aber auch der Vergleich mit Wörtern hinkt, weil es nur zwölf Töne, aber Tausende von Wörtern gibt, so dass man die Zwölftontechnik nicht 1:1 auf die Literatur übertragen kann. Außerdem kann jeder Ton benachbart zu jedem anderen Ton stehen, was bei Wörtern höchstens im Lateinischen (und da nicht immer) der Fall ist, und auch gleichzeitig erklingen, was bei geschriebenem Text gar nicht möglich ist.


    Eigentlich geht es weniger um die Töne, sondern eher um die Intervalle. Die haben natürlich schon allein einen gewissen "Ausdruckswert", eine kleine Septime einen anderen als eine Terz oder Quinte usw. Daher kann ja, wenn ich Edwin richtig verstanden habe, durch geschickte Wahl der Reihe eine Beinahe-Tonalität erreicht werden, oder eben eine sperrige, spannungsreiche Musik.



    Ja, oder mit den von Dir genannten Anagrammgedichten, die mir in der Zwischenzeit auch noch eingefallen waren.


    http://www.iti.fh-flensburg.de…un/anagram/unica/ana1.htm


    Dennoch halte ich das immer noch für irreführend.
    Ich kann nur wieder darauf hinweisen, sich ein Stück wie z.B. Bergs Lyrische Suite anzuhören. Das sind 6 Sätze, jeder ca. 3-6 min lang und alle haben ziemlich unterschiedlichen Charakter, einiges davon ist zwölftönig, anderes nicht. Es klingt für mich niemals nach einer mathematisch-kombinatorischen Kuriosität, sondern nach "normaler Musik" (wohingegen ich mir bei einigen der Kanons im "Musikalischen Opfer" nicht immer ganz sicher bin, ob das nicht eher was fürs Kabinett ist) stellenweise freilich recht spannungsreicher und insgesamt sehr ausdrucksstarker.
    Außerdem ist faszinierend, welche Klangfarben hier aus einem Quartett herausgeholt werden, das scheint mir noch subtiler als bei den Bartok-Quartetten.


    Selbstverständlich muß man sich an die Idiome einiger Komponisten erst gewöhnen und manches mag zuerst sehr sperrig erscheinen. Wiederum wundert mich, daß nicht die meisten hier nicht schon so ähnlich bei ganz anderer Musik erlebt haben, daß sie anfangs unzugänglich erschien, aber nach mehrmaligem intensivem Hören gar nicht mehr.
    Und wiederum hatte Edwin ja eingangs schon auf viel weniger sperrig klingende Stücke wie die von Martin und Liebermann hingewiesen.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Philhellene
    Ich glaube, man kann Töne nicht mit Buchstaben gleichsetzen, sondern wenn, dann mit Wörtern. Denn ein einzelner Ton hat schon eine Bedeutung für sich, die ein einzelner Buchstabe nicht hat. Aber auch der Vergleich mit Wörtern hinkt, weil es nur zwölf Töne, aber Tausende von Wörtern gibt, so dass man die Zwölftontechnik nicht 1:1 auf die Literatur übertragen kann. Außerdem kann jeder Ton benachbart zu jedem anderen Ton stehen, was bei Wörtern höchstens im Lateinischen (und da nicht immer) der Fall ist, und auch gleichzeitig erklingen, was bei geschriebenem Text gar nicht möglich ist.


    Das sehe ich ebenso. Bei allem Bruch zu bekannten musikalischen Strukturen muss man gleichzeitig bedenken, wie viel die Zwölftontechnik übernommen hat. Die gleichstufige Stimmung als solche bleibt erhalten, die bekannten Intervalle sind also gleich. Dadurch bleibAuch die rhythmischen Prinzipien sowie die Notation ist gleich geblieben. So viel hat sich also gar nicht geändert. :baeh01:


    Übrigens:
    Wenn man hier mal weiterdenkt, wird einem die Willkür des bekannten und geliebten Dur-Moll-Modells deutlich.


    Die Dur-Tonleiter besteht aus einer bestimmten Anzahl von Ganz-und Halbtönen in einer festgelegten Reihenfolge. Genau 8 Töne sollen es sein, die Tonleiter lässt sich in zwei zueinander bezüglich der Tonschritte identische Tertrachorde unterteilen, bei denen nach 3 Ganztonschritten ein Halbtonschritt folgt.
    Derart abständlich betrachtet klingt das alles sehr konstruiert..nicht wahr? Das Argument von der Erfüllung naturgegebener Grundgesetze mit dem bekannten Dur/Moll-System kann man mit dem Verweis auf andere (teilweise viele hundert/tausend Jahre alte) Tonsysteme auf der Erde begegnen.


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:


  • In der Tat, und ich stehe nicht an zu bekennen, dass es ziemlicher Unsinn war, dass ich das Argument der errechneten Musik als Vorwurf gegen die Dodekaphonie erhoben habe, weil das viel mehr über die universale Bedeutung der Mathematik (und meine Abneigung gegen sie) aussagt als über die beschuldigte Musik.


    Wenn man aber noch weiter denkt, kann schon ein konsequent nachfragendes Kind mit einer einzigen Frage unser ganzes bisheriges Weltsystem aus den Angeln heben: "warum ist 1 plus 1 gleich 2"?


    Die letztlich einzig mögliche Antwort ist die einer Konvention, auf die man sich irgendwann in grauer Vorzeit vernünftigerweise geeinigt hat. Dazu gehört die prinzipielle Gleichberechtigung aller Zahlen (mit einer leichten Sonderstellung der Primzahlen).


    Ich möchte in dem Zusammenhang an einen Einwurf von Blackadder erinnern, der für mein Gefühl noch nicht hinreichend beachtet wurde:



    Mein Irrtum bestand darin, die Mathematik in der Musik für etwas verantwortlich zu machen, was allein dem revolutionären Umgang mit ihr zuzuschreiben ist, der in der Tat (jedenfalls in dem "reinen" Konzept Schönbergs) mit einer konsequenten Ausrufung der Égalité zu tun hat.


    Befinden wir uns musikalisch womöglich immer noch im Zustand des Adels vor rund 200 Jahren, der verständlicherweise den Verlust seiner jahrhundertelang von aller Welt als natürlich geachteten Privilegien geißelte und mit aller ihm (noch) zur Verfügung stehenden Macht aufzuhalten versuchte? Ironischerweise macht das Offenbach gleichzeitig zu einem zeitgenössischen musikalischen Revolutionär, der die angemaßte Gewichtigkeit der Regierenden (Musik) seiner Zeit karikierte, indem er großartige leichte Musik schrieb, aus heutiger Sicht aber auch zum wichtigsten Wegbereiter der musikalischen Konterrevolution noch vor der eigentlichen Revolution, weil er damit nicht nur die Operette, sondern auch das volle Potenzial ihrer Dekadenz in die Welt setzte.


    So gesehen, wären die erst hundert Jahre Übergangszeit seit der Verkündung des revolutionären Konzepts des ZTS, in der sich deren Akzeptanz seeehr langsam verbreitet, gar nicht so ungewöhnlich. Schließlich wurde auch die Verbreitung des Gedankengutes der französischen Revolution durch ihre ordnungsfanatischen Robbespierres viel mehr beschädigt behindert, als durch Danton und dessen Vordenker. Vor allem ihrer radikalen "Konsequenz" war es ja zuzuschreiben, dass es geraume Zeit brauchte, bis man die einzelnen Töne dieser Kakophonie wirklich rational würdigen konnte.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Zitat

    Original von Jacques Rideamus
    Mein Irrtum bestand darin, die Mathematik in der Musik für etwas verantwortlich zu machen, was allein dem revolutionären Umgang mit ihr zuzuschreiben ist, der in der Tat (jedenfalls in dem "reinen" Konzept Schönbergs) mit einer konsequenten Ausrufung der Égalité zu tun hat.


    Befinden wir uns musikalisch womöglich immer noch im Zustand des Adels vor rund 200 Jahren, der verständlicherweise den Verlust seiner jahrhundertelang von aller Welt als natürlich geachteten Privilegien geißelte und mit aller ihm (noch) zur Verfügung stehenden Macht aufzuhalten versuchte?


    Ich glaube, dass diese "Gleichberechtigung" wenig sozialistischen Hintergrund hat, sondern mehr mit dem Ideal einer Ausgewogenheit - in dem Sinne, wie Brahms es nicht ausstehen konnte, wenn die Instrumente nicht alle so ziemlich gleichermaßen am Klang beteiligt sind? Oder seine Aufwertung der "Begleitstimmen", die Brahms beim Klavierspielen so einzigartig beglückend macht (wenns nicht so schwierig zu spielen wäre ...) Deshalb ist Brahms ja auch kein Sozialist.


    Außerdem war um die Jahrhundertwende ein statistisch ziemlich gleichmäßiges Auftreten aller Töne Stand der Dinge (Wagner ist Schuld). 1920 war Schönberg unglücklich: Die Tonalität hatte man hinter sich gelassen und man fühlte sich ohne Text im freien Tongeschwader unsicher. Wie konnte nun eine Ersetzung für Harmonielehre und Kontrapunkt erreicht werden, wo nun jeder Akkord und jeder Tonsprung erlaubt war, insbesondere grelle und wilde Klänge und Wendungen das faszinierende Neue und Starke war?


    :hello:

  • Zitat

    Original von Jacques Rideamus
    Wenn man aber noch weiter denkt, kann schon ein konsequent nachfragendes Kind mit einer einzigen Frage unser ganzes bisheriges Weltsystem aus den Angeln heben: "warum ist 1 plus 1 gleich 2"?


    Die letztlich einzig mögliche Antwort ist die einer Konvention, auf die man sich irgendwann in grauer Vorzeit vernünftigerweise geeinigt hat. Dazu gehört die prinzipielle Gleichberechtigung aller Zahlen (mit einer leichten Sonderstellung der Primzahlen).


    Ich will hier keine Diskussion über die Grundlagen der Mathematik anzetteln, aber das ist keineswegs die einzig mögliche Antwort, sondern von den möglichen eine der schlechtesten (und m.E. letztlich unverständlich, wenn es eine Konvention wäre, müßte man diese ändern können! wie? welche Alternativen stünden offen?). Die vermutlich beste, aber vielleicht auch unbefriedigende Antwort ist einfach die, daß man über die Einsicht hinaus, daß die Summe (bei Anwendung der Addition) von eins und eins zwei ist, zur Begründung nichts weiter sagen kann. Wer die Operation "Addition auf den natürlichen Zahlen" erfaßt hat, sollte diese Frage nicht stellen.



    Ich habe diese Analogie mit der politischen Gleichheit zwar schon mehrfach gehört, aber wirklich einleuchten tut sie mir nicht. (Der erzkonservative Bruch sprach IIRC angesichts der Musik Strauss' und Regers von "musikalischer Sozialdemokratie"). Gegen die Atombombenmetapher spricht jedenfalls die historische Entwicklung bis zur Zwölftontechnik, angesichts der diese Methode wie schon mal gesagt eher als konservativer Zug gegenüber der freien Atonalität gewertet werden könnte. (Verglichen mit dem, was etwa gleichzeitig in der bildenden Kunst lief, ready-mades und Dada, ist die Wiener Schule geradezu erzkonservativ: traditioneller Werkbegriff, traditionelle Instrumente, Anknüpfen an uralte Techniken wie Krebs, Umkehrung usw.)


    Daß viele Hörer "musikpsychologisch" dennoch Blackadders Einstellung teilen, mag ja richtig sein, aber daß der Mensch ein Gewohnheitstier ist, haben wir vorher gewußt. Der typische (Nichtklassik-)Hörer von heute findet beinahe jeden klassischen Gesang furchtbar, weil ausgebildete Stimmen für ihn, der die Popmusik gewohnt ist, künstlich klingen. Selbst viele Hörer klassischer Musik mögen oft keine Opern (Gejaule) oder keine Lieder (affektiert) oder keine Streichquartette (spitzer Klang), ihnen ist Tristan viel zu dissonant, Debussy Klangchaos, vorbachsche Musik zu unmelodisch usw.
    Solche Erfahrungen hat wohl jeder von uns schon mehrfach gemacht. Klar, Zwölftonstücke können harte Brocken sein. Manchmal wollen sie das vielleicht sogar sein. Aber der Unterschied ist doch eher graduell.


    Und wenn Hörer denken, es gäbe akustische Naturgesetze, so ist das vielleicht nicht völlig falsch. Aber die sind so allgemein, daß die ZTT und noch ganz andere Dinge hineinpassen.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ich habe diese Analogie mit der politischen Gleichheit zwar schon mehrfach gehört, aber wirklich einleuchten tut sie mir nicht. (Der erzkonservative Bruch sprach IIRC angesichts der Musik Strauss' und Regers von "musikalischer Sozialdemokratie"). Gegen die Atombombenmetapher spricht jedenfalls die historische Entwicklung bis zur Zwölftontechnik, angesichts der diese Methode wie schon mal gesagt eher als konservativer Zug gegenüber der freien Atonalität gewertet werden könnte. (Verglichen mit dem, was etwa gleichzeitig in der bildenden Kunst lief, ready-mades und Dada, ist die Wiener Schule geradezu erzkonservativ: traditioneller Werkbegriff, traditionelle Instrumente, Anknüpfen an uralte Techniken wie Krebs, Umkehrung usw.)


    Parallelen zwischen musik- bzw. kunstgeschichtlichen und "realhistorischen" Entwicklungen kann man natürlich sinnvoll konstruieren, allerdings ist das eine ziemlich komplexe Angelegenheit, die sich keinesfalls mit metaphorischen Vergleichen wie "Gleichberechtigung aller Töne = gesellschaftliche egalité" in den Griff kriegen lässt. Die eher "musikimmanente" Erklärung des KSM leuchtet mir in diesem Fall weitaus mehr ein.


    Was sich in unserem Fall anbietet und ja auch schon immer gesehen wurde, ist der relativ enge Zusammenhang zwischen freier Atonalität/ZTT und der (bzw. einer bestimmten) Entwicklung der malerischen Abstraktion. Nicht nur weil die Beziehung und Zusammenarbeit zwischen Schönberg und Kandinsky zeitweise relativ eng war - auch sonst lassen sich Parallelen zwischen zunehmender Verabschiedung von Tonalität und Gegenständlichkeit aufzeigen.


    Interessant ist dabei, dass sich auch Kandinsky relativ früh bemühte, "Abstraktion" nicht als Schritt zur totalen Freiheit erscheinen zu lassen, sondern sie bestimmten Regeln zu unterwerfen. Wiederum halbwegs parallel zur Entwicklung der Dodekaphonie in der Musik steht ja dann die Ablösung freier, expressionistischer Spielarten der malerischen Abstraktion durch strenger regulierte, geometrisch konstruktivistische Formen in den 20er Jahren (auch, aber nicht nur bei Kandinsky).


    Man muss das nicht überstrapazieren, auch intermediale Vergleiche geraten schnell an ihre Grenzen. Es ist aber interessant, dass selbst beim Dadaismus eine Entwicklung von ganz "freien" frühen Stufen hin zu einer stärkeren Organisiertheit und Institutionalisierung zu beobachten ist.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Und wenn Hörer denken, es gäbe akustische Naturgesetze, so ist das vielleicht nicht völlig falsch. Aber die sind so allgemein, daß die ZTT und noch ganz andere Dinge hineinpassen.


    Wie schon geschrieben kann man hier die natürliche Obertonreihe ins Feld führen. Diese beruht auf physikalischen Effekten und gibt Töne relativ zum Grundton und damit Intervalle vor. Bis auf die Oktave als einzig rein verbliebenes Intervall nutzen wir diese nur nicht mehr so ganz.


    Wieso die Oktave als der gleiche Ton (nur irgendwie höher) wahrgenommen wird, das wäre noch eine spannende zu klärende Frage, vielleicht kann man hier auch ein akkustisches Phänomen aufstellen?


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ich kann nur wieder darauf hinweisen, sich ein Stück wie z.B. Bergs Lyrische Suite anzuhören. Das sind 6 Sätze, jeder ca. 3-6 min lang und alle haben ziemlich unterschiedlichen Charakter, einiges davon ist zwölftönig, anderes nicht. Es klingt für mich niemals nach einer mathematisch-kombinatorischen Kuriosität, sondern nach "normaler Musik"


    Ich denke, der Lyrischen Suite werde ich mal eine Chance geben. Bei meiner heutigen JPC-Bestellung konnte ich mich aber noch nicht duchringen. ;)

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