Lieber Johannes,
Du hast mit Deiner Argumentation recht. Aber ich verstehe auch Jacques aus eigener Erfahrung mit Freunden und Bekannten sehr gut. Man hört etwas, das einem nicht gefällt, man möchte das Nichtgefallen vor sich selbst und eventuell auch vor anderen argumentieren - und zwar rational, weil reine Geschmacksurteile nach wie vor schief angeschaut werden (was ein Unsinn ist, aber das gehört nicht hierher). Und schon ist man mit den üblichen begriffen zur Hand.
Dazu kommt, daß Musik etwas sehr Unfaßbares ist. Die meisten Menschen nehmen Musik als Empfindungsstimulanz auf. Daraus folgern sie, daß der Komponist aus eben jener Empfindung eben diese Musik komponiert habe. Man muß sich aber bewußt machen, daß ein Komponist nicht lustige Musik schreibt, wenn ihm jemand einen Witz erzählt hat und nicht traurige Musik, wenn er über die Lage der Welt nachdenkt. Es geht wesentlich rationaler zu. Ein Komponist vermag es, Musik eines bestimmten Charakters zu komponieren - und zwar unabhängig von seiner tatsächlichen Gemütsverfassung. Die freilich als Stimulation einfließen kann. Aber es ist ein Irrglaube, daß über die Musik eine geheime Verbindung zwischen der Gefühlslage des Komponisten und der des Zuhörers entsteht.
Wenn nun ein Zuhörer einer bestimmten Musik emotional nicht zu folgen vermag, ist der Zuhörer schnell mit dem Urteil zur Hand, diese Musik sei konstruiert. Trugschluß: Ich kann der Musik emotional nicht folgen -> ergo ist diese Musik nicht emotional -> wenn sie nicht emotional ist, ist sie ein Konstrukt.
Der Teufel dabei ist der Umkehrschluß: Die Musik hat eine definierte konstruktive Basis (Zwölftonsystem) -> ergo ist sie nicht emotional -> ergo kann man dieser Musik nicht emotional folgen.
Gegensteuern kann man meiner Meinung nach nur mit dem Hinweis auf die Musik der großen Klassiker, die ebenfalls konstruktiv ist und auf einer rein rationalen Ebene entschlüsselbar (nämlich analysierbar) ist; und mit der Darstellung des Zwölftonsystems, denn dann wird klar, daß dieses System nicht mehr und nicht weniger Freiheiten bietet als jedes andere System.
P.S.: Ich bin jetzt verschiedentlich befragt worden, ob ich ein prinzipieller Anhänger der Zwölftontechnik sei. Sagen wir so: Es gibt massenhaft Werke, die ich grauenhaft finde. Viele davon sind in Zwölftontechnik geschrieben. Viele davon auch nicht.