"Wie historisch korrekt ist HIP wirklich ?" - Kritische Gedanken über heutige Interpretationspraxis

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Die interessantesten Überlegungen zur Modernität der HIP-Bewegung (im weiteren Sinne seit Beginn des 20. Jhds.!), die mir bekannt sind, stammen von Richard Taruskin (Text and Act, Oxford 1995).


    Grundlegendes und sehr viele Details zum Thema findet man bei Gutknecht: Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis. Köln, 1997.


    Dort reicht die Geschichte mit 340 Seiten bis zum zweiten Weltkrieg. Es muss also schon vor 1945 allerhand los gewesen sein.


    Harnoncourt hat seinen Concentus Musicus 1953 gegründet, allerdings blieb der viele Jahre eine eher konspirative Veranstaltung (wahrscheinlich als getarnte Verschwörung zur Förderung des Regietheaters :D ).


    Breiten- und medienwirksam begann die Geschichte 1954 mit der Gründung der Capella Coloniensis (die Namen Gröninger und Wenzinger sollte man sich hier mal merken), einer Unterformation aus HIPlern des WDR-Orchesters, die mit dem Sender natürlich eine ideale Plattform hatten.


    Ein weiterer Hort der Verschwörung ist übrigens nahezu unbemerkt (wie das Verschwörungen so an sich haben sollten) mittlerweile seit über einem Dreiveirteljahrhundert aktiv: Die Schola Cantorum Basiliensis wurde 1933 von Paul Sacher gegründet (auch ein Name, den man kennen sollte, wenn man von hip spricht).


    Das erst einmal zu Datierungen.


    Derzeit grüble ich noch, wie man ein Zeitalter, in dem es mühelos gelungen ist, die Halbzeitpause zwischen 30- und 7jährigem Krieg mit regionalen Scharmützeln – wahlweise flächendeckenden Epidemien – aufzufüllen, bezeichnen sollte. Harmonie & Schönheit fallen mir da eher spät ein.


    Aber zu den neueren hip-(Fehl)entwicklungen vielleicht noch was: Es fällt durchaus auf, dass sich inzwischen einige Solisten/Ensembles mehr dem Schönklang und damit den besseren Marktchancen verpflichtet fühlen als dem, was vielleicht einmal als Aufbruch, Wahrheitssuche, Pioniertätigkeit und mit ähnlich hochtrabendem Vokabular gekennzeichnet wurde.


    Darunter rechne ich weniger die Bestrebungen , mit 'modernen' (modern sind sie nicht) Instrumenten zu hipisieren. Das geht nun mal nicht anders, wenn man altes Repertoire mit einigem (mir zu wenigem) Gewinn und konventionellen Klangkörpern erschließen will.

    Auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis gibt es noch derart viele weiße Flecken, dass es schon verwunderlich ist, wieviel von dem erschlossenem Terrain mittlerweile schon wieder fröhlich zubetoniert wurde.


    Wahrscheinlich ist das kein Problem der unzulänglichen Musikanten, sondern eher eine Folge des Umstandes, dass Musiker auch essen und trinken müssen. Zwar können viele ihr Leben als Orchestermitglieder fristen, aber gerade bei den Spezialisten wird es öfter mal eng, bis die erste eigene Yacht beisammen ist. Also wird gespielt, was und auch wie gewünscht wird.


    Und überhaupt: Wie oft wollen wir das hier noch durchkauen?

  • Hallo Hildebrandt,


    "Harnoncourt hat seinen Concentus Musicus 1953 gegründet, allerdings blieb der viele Jahre eine eher konspirative Veranstaltung (wahrscheinlich als getarnte Verschwörung zur Förderung des Regietheaters )." (Hildebrandt)


    Ich vermute, als offene Rebellion gegen Karajan...Stichwort ist gegeben... ;)


    Bis dann.

  • Zitat

    Original von keith63
    "Harnoncourt hat seinen Concentus Musicus 1953 gegründet, allerdings blieb der viele Jahre eine eher konspirative Veranstaltung (wahrscheinlich als getarnte Verschwörung zur Förderung des Regietheaters )." (Hildebrandt)


    Ich vermute, als offene Rebellion gegen Karajan...


    Irgendwo gibt es ein ausführliches Interview mit Harnoncourt, in dem auch diese Geschichte zur Sprache kommt.
    Wie sich das genau verhielt, weiß ich jetzt nicht mehr, aber ich glaube, Animositäten sind daraus noch nicht entstanden, die kamen erst später.

  • Guten Abend


    Zitat

    Original von Hildebrandt


    Irgendwo gibt es ein ausführliches Interview mit Harnoncourt, in dem auch diese Geschichte zur Sprache kommt.
    Wie sich das genau verhielt, weiß ich jetzt nicht mehr, aber ich glaube, Animositäten sind daraus noch nicht entstanden, die kamen erst später.


    Siehe:


    -> " Er sah mich als Verräter"


    Interessant zu lesen :yes:


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Dass damals nicht geprobt wurde, ist mir aber neu.


    Haydn wünschte sich nach seiner Rückkehr aus London, man möge doch seine neuen Sinfonien in Wien wenigstens einmal vor der Aufführung durchspielen...


    Quelle zur Zeit nicht auffindbar, aber definitiv vorhanden.


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • Meines Wissens nach wurde bis weit in das 19.Jhdt. hinein nur wenig bis gar nicht von den Orchestern geprobt.


    Gestern haben wir(das Turina -Quartett und Gregor Hollmann am Cembalo) ein Konzert gegeben, dessen erster Teil aus barocken und frühklassischen Werken bestand.


    Alleine unsere Benutzung des Barockbogens ergab ein wesentlich raueres Klangbild, dieser Bogen reagiert völlig anders als ein moderner Bogen, bietet ganz andere Artikulationsmöglichkeiten, man spielt von alleine weniger Legato und auch ein Dauervibrato wird durch einen solchen Bogen wenig unterstützt.
    Es ist einfach unpassend und man läßt es automatisch.


    Die Musiker damals hatten darüberhinaus einfach ein selbstverständliches Wissen darum, wie eine bestimmte Phrase zu spielen ist, welche Verzierungen und Artikulationen sinnvoll sind.



    Dies alles steht darum überhaupt nicht in den Noten, und genau das muß man sich wieder neu heutzutage aneignen.


    Es war z.B. lange Zeit im 19. und 20.Jhdt. üblich, ganze Passagen gebunden zu spielen, jede Note zu melken, also so lange auszuhalten, wie notiert ist.


    Aber in Wirklichkeit stehen in den orginalen Notentexten kaum Bindebögen für die Streicher und das "melken" jeder langen Note mit dem Barockbogen ist schwer, dagegen ist das gezielte Ansteuern der darauffolgenden Note mit dem Barockbogen leichter.


    Cembalist und Hip-Spezialist Gregor Hollmann meinte sehr oft zu uns, wir mögen eine Passage legato spielen.
    Wir haben dann Bindebögen gespielt, aber dies war meistens falsch, gemeint war eher ein "dichtes" Spiel, welches fast Legato-Charakter hatte, und dies kann man mit einem Barockbogen sehr gut nachvollziehen und auch umsetzen.


    Der Barockbogen klingt natürlich dünner, durchaus auch kratziger.


    Sehr schön finde ich, daß es heute durch die Erkenntnisse der HIP-Spezialisten eigentlich nicht mehr möglich ist,z.B. eine schnelle Passage einfach metronomgenau durchzuhecheln, sondern daß es darauf ankommt, daß die Musik atmet, lebt......


    Ich habe keine Ahnung, wie ich das schriftlich beschreiben kann, jedenfalls hat mir die Arbeit mit Jaap ter Linden vor einem Jahr sowie die Zusammenarbeit mit Gregor Hollmann sehr die Augen und Ohren geöffnet, wie es klingen sollte und klingen kann.


    Wenn man als Streicher diese Möglichkeiten einmal entdeckt hat, gibt es eigentlich keinen Weg mehr zurück zu der sämigen, Gutsherrenhaften Art und Weise, welche man gewohnt war.


    Ich empfinde dies alles als große Bereicherung, auch mein Spiel mit dem modernen Bogen hat es sehr beeinflußt. Und letztendlich dreht sich die Welt, die Geschmäcker ändern sich immer wieder.


    Hauptsache ist doch, daß überhaupt etwas passiert, was alte Gewohnheiten in Frage stellt, was den persönlichen Horizont erweitert.
    Das ist das Leben.


    Und was das historisch korrekte angeht:


    Meiner Meinung nach sollte man dies nicht so eng sehen, wir können uns heute einfach nicht mehr exakt in die vorindustrielle Zeit zurückbegeben, wir sind Menschen des 21.Jhdts. .


    Aber das sollte uns nicht daran hindern, immer wieder altes neu zu lernen, zu durchdenken und uns mit der damaligen Zeit und ihrer Spielpraktiken auseinanderzusetzen.


    Ob es dann wirklich so klingt wie damals, interessiert mich eigentlich überhaupt nicht.
    Mich interessiert nur, ein wenig näher daran zu sein, wie es damals möglicherweise geklungen haben könnte und was uns Musikern heutzutage wieder den musikalischen Horizont erweitern hilft.


    Alles andere wäre Stillstand, und davon gibt es noch genug, wenn man einmal tot ist.


    Gruß,
    Michael

  • Hallo Micha,
    danke für deinen Beitrag, der für mich als totalen Laien in diesen Dingen äußerst lehrreich ist, weil ich mir nun unter dem barocken Klangbild wesentlich mehr vorstellen kann. Ich merke natürlich schon den Unterschied zwischen einer HIP und Nicht-HIP-Einspielung, was aber genau diesen Unterschied ausmacht, kann ich nur selten nachvollziehen. Deshalb sind Erklärungen wie die deine sehr wertvoll für mich, weil sie auch versteckte Anleitungen enthalten, worauf ich besonders achten muss.
    lg Severina :hello:

  • Hallo severina,


    es freut mich sehr, daß Dir meine m.M. nach etwas unbeholfenen Zeilen gefallen haben.


    Ich finde es ausgesprochen wichtig, daß man sich als heutiger Musiker mit den Erkenntnissen der HIP-Bewegung auseinandersetzt.
    Insoferne bin ich recht stolz darauf, daß unser gestriges Konzert sehr positiv aufgenommen wurde.


    Wenn es Dich interessiert, hier kannst Du die wie ich finde sehr nette Kritik, was uns "normale" Orchestermusiker im Umgang mit der HIP-Materie angeht, lesen:


    "http://www.westfaelische-nachrichten.de/lokales/muenster/kultur/951075_Mal_mit_und_mal_ohne_Vibrato_spielen.html"


    Ich bitte dies nicht als Selbstbeweihräucherung zu verstehen, es soll nur ein Beispiel unter unzähligen anderen sein, daß die HIP-Erkenntnisse mittlerweile zum allgemeinem und selbstverständlichem musikalischen Gebrauch gehören.


    lg
    Micha :hello:

  • Hi Micha,


    finde Deine Zeilen überhaupt nicht unbeholfen und auch für mich lehrreich.


    Vor allem gefällt mir die persönliche Note. Ich finde es sehr spannend, wenn Musiker über ihre Begegnungen mit anderen Musikern und inspirierende Momente reden bzw. schreiben.


    Vor allem aber möchte ich den letzten Sätzen Deines Postings beipflichten - auch für mich ist die Frage, ob es wirklich so geklungen hat irrelevant. Die Möglichkeit, daß man sich ein Stück näher an einem evtl. vergleichbaren Klangbild befindet, ja: die ist spannend.


    Panta rei (oder wie das da heißt!)


    :hello:
    Wulf

  • Sehr interessant war auch, in die musikalische Gedankenwelt eines Cembalisten wie Hollmann einzutauchen.


    Der Cembalo-Klang verklingt nun ja recht schnell, darum kommt es auf eine sehr, sehr genaue Unterstützung der linken Hand des Cembalisten vom Continuocellisten an.
    Wir haben daran Tage gefeilt, denn dieses Zusammenspiel sollte absolut synchron und mit allen dynamischen Abstufungen, welche dem Cembalo unmöglich sind, ablaufen.


    Für mich ist eine Continuo-Gruppe absolut vergleichbar mit der Rhythmus-Sektion einer Jazz-Combo.


    Das Zusammenspiel muß wie ein Uhrwerk ablaufen und den Melodieinstrumenten den Raum schaffen, in welchem sie agieren können.
    Harmonisch wie rhythmisch.


    Gerade die harmonischen Akzente sind ausgesprochen interessant.
    Man kann auch damit eine Interpretation beruhigen oder vorantreiben, nur muß es stilistisch sinnvoll sein.


    Z.B. habe ich bisher immer einen Dominant-Akkord vor der Schlußtonika extra hervorgehoben.
    Dies haßte Hollmann, und so habe ich die jeweilige Dominante nun schwächer gespielt und die Tonika hervorgehoben.


    Irgendwie leuchtet mir das jetzt auch ein...... :pfeif:


    Auf ein Cembalo zu reagieren ist etwas völlig anderes, als auf einen Flügel zu reagieren.
    Ein Cembalo ist wesentlich knackiger, und wenn man als Streicher versucht, auf diesen Klang wirklich adäquat einzugehen, dann wird das Klangbild von selber wesentlich rauer, knackiger und...... spannender. :yes:


    Alles andere wäre nur Matsche.


    Jedenfalls habe ich bisher noch keine Zusammenarbeit erlebt, wo derartig penibel und genau vom Cembalisten darauf geachtet wurde, daß die Artikulation eines jeden Tones absolut "richtig" ist.


    Und zwar nicht, was ich heutzutage als richtig empfinde, sondern was richtig im Sinne des 18.Jhdts. und des Cembalos ist.


    :hello:


    Micha

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  • Zitat

    Alte Instrumente, die im heutigen Gebrauch entfallen sind, Gamben, Bachtrompeten, verschiedenste Hörner und dergleichen sind unheimlich faszinierend und könnten bei sinnvollem Einsatz eine bereichernde Klangfacette darstellen, auch, was inzwischen ziemlich häufig vorkommt, in der Mischung mit "modernen" Orchesterinstrumenten.



    Die Bachtrompete ist ein Instrument des beginnenden 20. Jahrhunderts, wenn ich mich nicht irre.
    Sie wurde erfunden, weil man Barocktrompeten nicht spielen konnte (man kann sich nie sicher sein, ob auch der Ton raus kommt, den man gerne hätte - aber wenn, dann ist das ein Klang, an den keine moderne Trompete der Welt herankommt :D )



    Ich denke auch das von der Epoche des Barock und auch des Rokoko recht seltsame Vorstellungen existieren, mir fällt es schwer diese Epoche 1600-1800 aufzuspalten, es gehört irgendwie alles zusammen.
    Natürlich war man auf der Suche nach Schönheit, allein um dem Elend zu entfliehen das überall herrschte, vor allem nach dem großen Krieg.
    Aber nichts manifestierte sich sosehr in der Geisteshaltung wie der Vanitas Gedanke, Leben und Vergänglichkeit.


    Im Rokoko verliert sich das etwas, aber ich kenne Gedichte aus dem 18. Jahrhundert, da fällt einem gar nichts mehr zu ein.
    Das 18. Jahrhundert war nicht nur harmlose Schäferspiele, ich glaube da erlebte die Pornographie ihren ersten Höhepunkt.
    Leider werden diese Bilder von den meisten Museun unter Verschluss gehalten.


    Vor kurzem habe ich aber ein angeblich verbranntes Bild von Boucher gesehen - und ich denke, da es Kunst ist, darüber hinaus von Boucher, darf man es wohl zeigen:



    es gibt eine ganze Reihe von Gemälden dieser Art, die der Dauphin Louis (Sohn Louis XV und Vater des späteren Louis XVI) in Auftrag gab.
    Napoleon III ließ sie in seinem Badekabinett aufhängen, wo dann auch die Photographien entstanden.
    Angeblich sind die Bilder bei dem großen Brand der Tuillerien zerstört worden.


    Aber ich finde alein diese Bilder werfen schon ein ganz anderes Licht auf diese vermeintlich süße Epoche......


    Ich hege ja den Verdacht, wenn die Bilder aus Barock und Rokoko aus diesem Genre gezeigt würden, wären die Museen auf einmal voll und viele Leute würden sich auf einmal für diese Zeit interessieren :D:D:D



    Diese Kunst dieser Zeit ist voller Leidenschaft.
    Das nicht in der Musik auch auszudrücken, allein auf Harmonie und Wohlklang zu setzen, ist ein Fehler.



    so ich hoffe ich werde jetzt nicht ermahnt wegen Verbreitung pornographischer Inhalte....aber zumindest habe ich mir die Gedichte verkniffen :O :O :O

  • Liebe Diskussionsteilnehmer,
    habt herzlichen Dank für diesen tollen Thread und Eure Argumente, die mir – als langjährigem „Anhänger“ dieser Musik – mein (Basis-) Wissen endlich mal abrunden. Ich mach mir schon seit bestimmt 20 Jahren Gedanken über das Für und Wider dieser Diskussion und hab mir da natürlich – mangels Diskussions- und Weiterlernköglichkeit, meine eigene (sicher höchst unvollkommene, vielleicht sogar dumme) Meinung gebildet. Die möchte ich hier einfach mal ganz naiv in den Raum stellen:


    Ich könnte mir gut vorstellen, daß Ensembles im Barock, im 18. und auch noch Anfang 19. Jhrd mit weit weniger „Schönklang“ und „Tiefgang“ gespielt haben, wie dies heute üblich ist; daß diese Musiker (Komponisten)nicht sooo viel Wert darauf legten, wie ihre Stücke en detail zu spielen seien. Man spielte spontan drauf los mit den Mitteln, die die Musiker damals hatten. Bitte nicht falsch verstehen: ich meine nicht vollkommene Freiheit der Interpretation, sondern ich glaube eher, daß die Partitur eine Art „Gerüst“ war, wonach sich die Musiker orientieren konnten. Ich denke da ganz speziell auch an Mozart, dessen Musik m.E. spontan und ohne akademischen Ansatz gespielt wesentlich interessanter und damit „echter“ rüberkommt als wenn die Partitur bis ins kleinste seziert und aufgedröselt wird – jede Phrase mit absolutem Schönklang musiziert wird.


    In den 1980er Jahren wurden die Mozartschen Opern vom Drottningholm Festival mit Östman nicht nur auf CD veröffenlicht, sondern auch im Theater des Schloßes life mitgeschnitten und (später)im Fernsehen übertragen (es ist ein original erhaltenes Barocktheater in der Größe ähnlich dem Münchner Cuvilliertheater). Sehen konnte ich damals (leider nur) die Zauberflöte. Die Macher des Drottningholm –Festivals nahmen sich vor, Mozarts Opern mit den zu seiner Zeit machbaren technischen und musikalischen Möglichkeiten aufzuführen: Die Orchestermusiker musiziert in den „Kostümen“ der damaligen Zeit (einschließlich der weißen Perücke), und – was hier wesentlich wichtiger ist – das Bühnenbild und die Bühnen-„action“ wurde ebenfalls mit den damals möglichen Mitteln gestaltet. Was heißt das nun? Die Königin der Nacht stand, da die Bühne ja nicht allzugroß war, als „Mensch“ auf der Bühne und nicht als entrückte, glorifizierte Göttin; das Gefährt der drei Knaben, mit dem sie aus der Luft herein schwebten, wurde von dicken Seilen gehalten; Bühnenprospekte waren holzgeschnitzte und bemalte Tafeln, die über die Bühne geschoben wurden; die Protagonisten auf der Bühne waren natürlich zu stark geschminkt und, was das augenfälligste und vielleicht wichtigste war, die Bühnenbeleuchtung bestand ausschließlich (!) aus Kerzen! Vorne am Bühnenrand hinter einer Muschelverkleidung und – was für ein Graus für jeden eitlen Musiker heute – auch noch von unten! Ein Garant, daß jedes Gesicht durch den Schattenfall nach oben zur Fratze werden muß. Nach ein paar Metern war die Bühne schon um einiges düsterer und wurde von Kerzenlicht aus der Seite „beleuchtet“. Man kann sich leicht vorstellen, daß eine Aufführung damals sicher ein ganz anderes „Erlebnis“ war als wir es heute in der Hochglanz-Oper erwarten.


    Ich fand das damals auf der einen Seite erstmal etwas befremdlich (wir denken, sehen und hören heute ja ganz anders), andererseits war das dann doch ein Hochgenuß allererster Sahne, hier eine „menschelnde“ Aufführung zu sehen – es standen „Menschen“ auf der Bühne und keine „Figuren“. Alles wirkte durchdacht und ausgefeilt (wie es damals halt möglich war), hinterließ andererseits aber das Gespür fürs Spontane, Unmittelbare. Warum ich das hier erzähle? Ich schloß dann die Augen und hab mir vorgestellt, wie sich die Berliner Philhamoniker und Karajan mit ihrem Hochglanz-Fomel-1-Sound hier hätten einbringen können. Oder jedes andere heutige Orchesterspiel „der modernen“ Art. Grausame Vorstellung; meines Erachtens ein klares No-Go. Nun mag dieser Vergleich vielleicht hinken, aber m.E. ist er so weit gar nicht soweit hergeholt. Die Komponisten haben ihre Werke mit den ihnen damals zur Verfügung stehenden Mitteln verfaßt und durchdacht (das ist hier sicher schon anderweitig breitgetreten worden), da hilft es auch nichts, daß Mozart gefärbtes Scheinwerferlicht verwendet hätte, wenn es ihm zur Verfügung stände. Es stand ihm nicht zur Verfügung, er kannte es nicht und er berücksichtigte es nicht.


    Bitte sorry, daß der Text jetzt ein bischen länger wurde als geplant, aber diesen Sachverhalt zugrunde legend, glaub ich, daß die (populären) HIP-Protagnisten der ersten Stunde (Harnoncourt, Pinnock, Gardiner, Hogwood …), die ja die Problematik der damals modernen Spielweise für solche Werke erkannt haben und hinterfragten, hier trotz der gerechterweise genannten Einschränkungen erheblich näher an der Sache waren (siehe Eingangsthread) als die nachfolgende Generationen HIP-Musiker, die letztendlich die „Fehler“ und Gegebenheiten dieser Interpretationen in die heute Zeit (für unseren heutigen Geschmack!) „hinüberkorrigieren“ und so wiederum ihren eigenen Sound kreieren wollen.


    :untertauch: So, jetzt duck ich mich mal ganz schnell weg :untertauch:
    Herzliche Grüße
    Thomas

  • Servus,


    mir scheint es nötig, ein paar Dinge auseinander zu nehmen, die der Themenersteller unzulässigerweise vermengt hat.


    Zum Ersten wäre da die Einordnung von Spielweise und Klangästhetik von HIPpen Musikern/Orchestern generell unter Benutzung von Reinhardt Goebels Musica Antiqua Köln als Paradebeispiel. Zwar pflegte dieses Ensemble tatsächlich einen aggressiven Ton, der gerade in den Streichern auch schonmal kratzig werden konnte, jedoch gibt und gab es kaum ein anderes Ensemble, was dazu vergleichbar gewesen wäre - der frühe Harnoncourt wäre vielleicht noch zu nennen. Die Klangästhetik von Musica Antiqua Köln ist eine Ausnahme gewesen! Weder Les Arts florissants, weder Les Talens lyriques, weder Les Amis de Philippe, weder das Freiburger Barockorchester, weder die Akademie für Alte Musik Berlin, weder das Ensemble Alte Musik Dresden, weder die schon genannten englischen Orchester einschließlich das Gardiners, weder Savall mit seinen Ensembles, weder das Ensemble Tafelmusik, weder das Ricercar Consort, weder Ars Antiqua Austria, weder Le Concert Spirituel, weder Armonico tributo Austria, weder Sonatori De La Gioiosa Marca, weder La Petit Bande noch das Orchestra at the Age of Enlightenment - um nur ein paar zu nennen, diese kleine Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen - haben einen auch nur annähernd so aggressiven Ton wie Musica Antiqua Köln.


    Dieses Beispiel des Themenerstellers taugt also nicht zur Unterfütterung seiner These. Im Gegenteil, es läßt die These in sich zusammenstürzen. Dass es gleichwohl Unterschiede im Klang gibt, hat Michael sehr schön dargelegt. Und ich finde seine Umschreibung "knackiger" pass ganz ausgezeichnet. Das hat aber nullkommanix mit den Analogien zu tun, die der Themenersteller so mühsam versucht herzustellen.



    Zweitens muß meines Erachtens klar benannt werden - und vielfach ist das schon angeklungen - um welche Musik bzw. Musik aus welcher Epoche wir uns hier eigentlich streiten. Es dürfte nur wenige Gegenstimmen geben wenn ich behaupte, dass Musik, die älter als 250 Jahre ist, durch HIP eindeutig gewinnt. Streitpunkt ist doch eher alles was jünger ist. Man sollte also ganz explizit von Mozart in HIP, Beethoven in HIP, Mendelssohn in HIP, Bruckner in HIP usw. sprechen anstatt alles über einen Kamm zu scheren.



    Zitat

    Original von Ulrica
    In einer Aufführung des WO in meiner Gegend konnte ich mich von dieser Wirkung überzeugen. Trotzdem veranlasste mich ein ziemlich nervige Knebelung der Solo - Gesangsstimmen (im Fall einer der Stimmen, die ich anderweitig kenne, weiß ich, dass dies so war) froh zu sein, dass ich nur im ersten Teil dort war. Warum diese Auffassung bezüglich des Gesangs immer noch so sein muss (entgegen Harnoncourts Aussage), ist mir unverständlich und dies ist einer der großen Kritikpunkte.


    Das ist nicht ein Problem von HIP, sondern das der Sänger, die Aufträge annehmen, die nicht zu ihren stimmlichen Gegebenheiten passen. Wenn ein sonst Evangelisten singender Sänger bei Wagner zum Siechfried wird, schimpft doch auch keiner auf die Art und Weise, wie man da zu singen hat, sondern es heißt nur lapidar, dass der Sänger hat sich schlicht an der Rolle verhoben hat.



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Michael Schlechtriem
    Vielen Dank für die interessanten Beiträge! Sehr gut auch die Passagen mit dem Barockbogen und dem "ziehenden" Quasi-Legato.


    Nun zur Diskussion:
    Die Überschrift hört sich vielversprechend an, allerdings wurde schon in den Einleitungsworten klar, dass zu Gunsten der Platzierung einer altbekannten Position wieder einmal eine Chance zu einer interessanten Diskussion verpasst wurde, denn den nachfolgenden Autoren blieb ja -wieder einmal- nichts anderes übrig, bestimmten Behauptungen so nicht im Raume stehen zu lassen.


    Die musikwissenschaftlichen Erkenntnisse zur alten Aufführungspraxis und auch das Musizieren der HIP-Protagonisten können und sollen durchaus immer wieder neu im Lichte neuer musikwissenschaftlicher und aufführungspraktischer Erkenntnisse hinterfragt, korrigiert, bestätigt oder neu bewertet werden.


    Mit solchen Aussagen wie dieser hier


    Zitat


    Original von Alfred
    Der mehrheitlich (wenn auch nicht immer) handelt es sich um eine Spielweise, die mit agressiven Tempi, sprödem Ton und krassen Dynamiksprüngen agiert. Meiner Ansicht nach widerspricht ein solcher Interpretationsansatz so ziemlich allen Eigenarten des 17. und 18. Jahrhundert, wo alles ziemlich überladen, geziert und langatmig war, "Behübschung" war erstes Gebot, sei es die Anreder in einem Brief, die Einleitung eines Buches, die Ausführung eines Gemäldes, die Architektur eines Gebäudes. Überall fand sich Schönheit und (übertriebene?) Harmonie. Gerade in der Musik jedoch, der harmonischesten aller Künste (zumindest bis ins 20. Jahrhundert)soll ein rauher und aggressiver Ton vorherrschend gewesen sein.



    ...oder dem Zeigen von alten Gemälden fährt man doch am eigentlichen Thema vorbei.
    Damit wird nicht eine der heutigen Spiel- oder Besetzungspraktiken der HIP-Musiker benannt, geschweige denn aus dem historischen Blickwinkel kritisch beleuchtet, obwohl der Titel des Threads darauf Hoffnung macht.


    Vielmehr wird wieder einmal (zur kurzfristigen Belebung des Forums?) die
    uralte Diskusssion ( HIP Pro und Kontra, vermeintlicher Schönklang gegen den angeblich hässlichen Klang, Böhm/Karajan gegen den bösen Harnoncourt)


    Es fehlt nur noch, dass sich jemand berufen fühlt, Herrn Harnoncourt für seinen zu langsamen und auch ansonsten ganz furchtbaren Figaro persönlich zu verklagen (andere klinken sich daraufhin in eine A.N.-Nebendiskussion ein...) und dass dieser....wie hiess er noch (?) Glockenton anfängt, über Mattheson, Quantz, Klangrede, Artikulation und Einzeltondynamik zu schreiben.


    Zurecht schrieb Hildebrandt hierzu:


    Zitat


    Original von Hildebrandt
    Und überhaupt: Wie oft wollen wir das hier noch durchkauen?


    Diese Diskussion war schon uralt und hat sich in der heutigen musikalischen Wirklichkeit schon seit Jahrzehnten erledigt, bevor man bei Tamino überhaupt anfing, diese Fragen ritualisiert aufzuwerfen.


    Für Neueinsteiger biete ich daher folgende Tamino-Threads zum Nachlesen an:


    HIP HIP Hurra


    Alte oder neue Instrumente?


    HIP oder HOP


    Werke der Wiener Klassik "HIP" oder "modern"


    Nikolaus Harnoncourt : pro und contra


    Rilling Richter Harnoncourt Bachkantaten


    Harnoncourts Lebenswerk


    Als Beispiel unter vielen haben wir uns hier zu bestimmten Werken detailiert und teilweise wieder einmal kontrovers ausgelassen:


    Bachkantaten:


    BWV 140


    BWV 61


    ( hier wurde auch die HIP-Typische Überpunktierung bei Ouvertüren im französischen Stil diskutiert)


    Mozarts Figaro
    Mozarts Figaro live aus Salzburg


    Ich kann mich an noch mehr Threads erinnern, bei denen ich zu solchen Fragen Stellung im Einzelnen ausführlich Stellung genommen habe, weswegen ich es jetzt und hier nicht noch einmal tun will.


    Die Positionen sind ja altbekannt, doch wer ist eigentlich bereit, seine Meinungen ernsthaft zu hinterfragen und sich auf neue - von mir aus auch alte - Klangwelten, ggf. auch auf Empfehlung von Taminos einzulassen?
    Brauchen wir oder braucht Tamino diese wiederholten Rituale?


    Interessanter und und profitabler (weil lehrreicher) fand ich da schon unseren Meinungsaustausch zu den Themen Continuobesetzung, Continuospiel und Vokalbesetzung bei Bach.
    Da waren wir auch dichter an der aktuell geführten Diskussion, als beim immer wieder neu aufgewärmten und längst entschiedenen Uralt-Streit, der schon in den 70ern ausgefochten wurde.


    Nun denn, lange Rede kurzer Sinn, hier ein Diskussionsbeitrag zum eigentlichen Thema des Threads:


    Wenn man sich z.B. Bach unter Harnoncourts (sagen wir ab den 80er-Jahren) oder Suzukis Leitung anhört, dann gibt es einen entscheidenen, fast schon grundlegenen Unterschied im Bereich der instrumentalen "Aussprache" der "Rede in Tönen".
    Suzuki artikuliert zwar deutlich, doch strebt er m.E. stets ein ausbalanciertes Ebenmass der Linien an. Das kleindynamische Auf- und Ab ist nicht besonders stark ausgeprägt, so dass alles als in einen grösseren Kontext eingebunden erscheint.
    Alles klingt auswogen und herrlich durchsichtig, Extreme werden möglichst vermieden.
    (Suzuki ist übrigens ein Dirigent, dem ich früher nie ernsthaft zugehört hätte. Durch Tamino habe ich meinem Meinungsbild neue Aspekte hinzugefügen können. )


    Bei Harnoncourt hört man viel deutlicher die einzelnen Tonfiguren; die Töne zielen auf bestimmte kleine Höhepunkte, die Auflösungen sind schwächer und die gesetzen Bögen können stärker als Gegenakzente zu den Taktbetonungen gehört werden.
    Die Einzeltöne werden dynamisch mehr ausgeformt ( z.B. die abklingende Glockenton-Kurve oder das Messa di Voce) und der Unterschied zwischen den kürzer zu spielenden grossen Intervallen und den eher Legato zu nehmenden Sekund-Intervallen wird deutlicher und oft sehr emotional ausgespielt.


    Überhaupt führt er z.B. seine Streicher an die Grenzen dessen, was ausdrucksmässig möglich ist ( ich möchte jetzt nicht über die alten Aufnahmen mit technisch überforderten Hornisten reden)
    Auch die Agogik wird stärker benutzt.
    Man kann diese Harnoncourt-typischen Dinge übrigens sehr gut am Geigenspiel seiner Frau nachhören:


    Dies hier bitte in den Browser kopieren:


    " http://www.youtube.com/watch?v=Tnu6WIwlSDI "


    In der neueren WO-Version klingt es mit Höbarth wieder anders, etwas flüssiger, doch immer noch sehr sprechend:



    hier Track 31, und bitte von der zu viel vibrierenden Altistin weghören.


    Leider finde ich Suzukis Version nicht Online, aber der Unterschied wird auch gut im Vergleich zu Herreweghe deutlich, denke ich:


    " http://www.youtube.com/watch?v=g2XXJnRRW7Q&feature=related "


    Hier sind sogar die Noten zu sehen - sehr schön!


    Bei Herreweghe wird die zweite Note nicht dynamisch zurückgenommen wie bei Harnoncourt, sondern im grösseren Zusammenhang gesehen, die meisten werden es wohl logischer finden. Ich kann aber auch gut das verstehen und nachempfinden, was Harnoncourt hier meint.


    Doch was ist nun richtiger? Manchmal erfreue ich mich mehr am viel körperhafteren, viel mehr gestikulierenden Tonfall Harnoncourts, zu anderen Zeiten gefällt mir das grössere Ebenmass der Herren Suzuki oder Herreweghe mehr...
    Kann sich hier jemand dazu entsprechend äussern?


    Ich habe diese Beispiele und Musiker übrigens gewählt, weil sie recht weit auseinanderliegen und alle Dirigenten der HIP-Bewegung angehören.


    Wer hat nun "recht" und vor allem warum?
    Ist es so, dass heute wieder langweilig eingeebnet wird, was anfangs richtig erkannt und herausgearbeitet wurde, gibt es Verständnisdefizite bei der Klangrede?
    Oder liegen Harnoncourt und seine Anhänger ( die muss es ja irgendwo geben) historisch gesehen ganz falsch, indem sie sich an diesen Dingen berauschen, ja besaufen?


    Vielleicht ist auch beides legitim, und wenn ja, warum?


    Eine andere Frage wäre noch, ob es ein historischer Irrtum vieler HIP-Cembalisten ist, dass sie auf Takt-Einsen oder anderen vermeintlichen Betonung oder nach Einschnitten mehr oder weniger dauernd anhalten und die Musik so manchmal zum wogenden Agogik-Meer wird.
    Ich denke, diese "Manier" ist als Reaktion auf die Nähmaschinen-Barockmusik früherer Jahre mit den unsäglichen "Eierschneider-Cembali" etc. entstanden. Ist sie aber heute noch historisch gesehen haltbar?


    Der Aspekt des rhythmischen Pulsierens, ( sozusagen der barocke "Groove") scheint mir rein empfindungsmässig auch wichtig und vorhanden zu sein, wird aber beim starken, schon gewohnheitsmässigen Rubato-Spiel in den Hintergrund gedrängt.
    Auch Pianisten schauen sich das dann ab ( anstatt nachzuforschen!) und verbinden es dann mit ihrem von Chopin und Schumann bekannten Pianisten-Rubato.


    Ich habe z.B. den schwingenden Puls des mit 8tel-Triolen durchsetzten ersten Satzes der ersten Englischen Suite von Bach noch nirgendwo störungsfrei gehört und nachempfinden können.


    Alle - auch die Pianisten, die ja auch die Dynamik als Ausdrucksmittel einsetzen könnten- setzen recht viele Anhaltepunkte.
    Wenn ich es selbst auf dem Klavier spiele, muss ich zugeben, dass es schwer ist, dies durchgängig hinzukriegen, ohne selbst z.B. in Leonhardts Agogik zu "verfallen".


    Kann man eigentlich die schnellen Sätze des Italienischen Konzerts auf dem Cembalo ausdrückend und nicht nähmaschinenhaft spielen, ohne ein pulsierendes Timing zu verletzen? Muss nach dem ersten Teilschluss in F-Dur ein agogischer "Anhalter" kommen?


    Ist dies alles -wenigstens im übertriebenen, gewohnheitsmässigen Einsatz- ein historischer, und kaum noch reflektierter Irrtum?


    Ähnliche Fragen könnte man zum Thema Arpeggio beim Cembalo, zum nachklappernden Spiel der rechten Hand sagen...usw.


    Ich denke nicht, dass man solchen wirklich kritischen Fragen zur HIP-Praxis mit Querverweisen auf" Karajan oder Böhm vs XY", oder "HIP pro und Kontra-Schlachten" gerecht werden kann.
    Mit Schönklang oder nicht und solchen Dingen kommt man da nicht weiter.


    Diese Fragen müssen wohl auch historisch informiert diskutiert werden, allerdings kann man ja hier sehr wohl seine persönlich empfundene Beurteilung zum Besten geben, und in seine Begründungen rein musikalische, und nicht unbedingt gleich immer musikwissenschaftliche Argumente einfliessen lassen.
    Dabei ginge es also um musikalische Erkenntnisse aus der eigenen Hörerfahrung und/oder Musizierpraxis.
    Nicht jeder hat gleich die entsprechende Fachliteratur im Regal stehen.


    Wer ohnehin nur öffentlich machen will, dass er den Karajanschen Schönklang oder Böhms appollinschen Mozart immer noch am liebsten hört, (und der meint dass Harnoncourts Karriere und ihre Folgen eigentlich das grösste musikalische Unglück in der klassischen Interpretationsgeschichte ist) der kann dies ja gerne weiterhin tun, aber die eigentliche Debatte, bei denen gewisse standardisierte HIP-Positionen oder auch gegensätzliche HIP-Interpretationsstile neu reflektiert werden, müsste dann wohl doch von jenen geführt werden, die dem ganzen Thema gegenüber innerlich aufgeschlossener sind, so scheint mir.


    Bin gespannt, ob hierzu etwas Substanzielles kommt...


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Original von salisburgensis
    mir scheint es nötig, ein paar Dinge auseinander zu nehmen, die der Themenersteller unzulässigerweise vermengt hat.


    Zum Ersten wäre da die Einordnung von Spielweise und Klangästhetik von HIPpen Musikern/Orchestern generell unter Benutzung von Reinhardt Goebels Musica Antiqua Köln als Paradebeispiel. Zwar pflegte dieses Ensemble tatsächlich einen aggressiven Ton, der gerade in den Streichern auch schonmal kratzig werden konnte, jedoch gibt und gab es kaum ein anderes Ensemble, was dazu vergleichbar gewesen wäre - der frühe Harnoncourt wäre vielleicht noch zu nennen.


    Wobei die frühen Aufnahmen, längst nicht nur Harnoncourts, aus unterschiedlichen Gründen manchmal kratzig klingen, nicht immer sind das ästhetische Entscheidungen. Bei MAK muß man m.E. auch noch dazu sagen, daß es sich um ein, gerade auch für HIP-Verhältnisse sehr präzises und intonationssicheres Ensemble handelte; hier dürfte die Aggressivität wohl eine bewußte Entscheidung gewesen sein.


    Zitat


    Die Klangästhetik von Musica Antiqua Köln ist eine Ausnahme gewesen! Weder Les Arts florissants, weder Les Talens lyriques, weder Les Amis de Philippe, weder das Freiburger Barockorchester, weder die Akademie für Alte Musik Berlin, weder das Ensemble Alte Musik Dresden, weder die schon genannten englischen Orchester einschließlich das Gardiners, weder Savall mit seinen Ensembles, weder das Ensemble Tafelmusik, weder das Ricercar Consort, weder Ars Antiqua Austria, weder Le Concert Spirituel, weder Armonico tributo Austria, weder Sonatori De La Gioiosa Marca, weder La Petit Bande noch das Orchestra at the Age of Enlightenment - um nur ein paar zu nennen, diese kleine Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen - haben einen auch nur annähernd so aggressiven Ton wie Musica Antiqua Köln.


    Dieser Hinweis auf die große stilistische und klangliche Vielfalt der HIP-Ensembles war auf jeden Fall notwendig!
    Als ziemlich aggressiv (a la MAK) würde ich die Aufnahmen der Akad. f. Alte Musik mit Stücken von CPE Bach und teils auch Vivaldi u.a. Italiener unter Alessandrini und vom Giardino Armonico einordnen. Ebenso die (längst vergriffene) Aufnahme von Haydns op.33 mit den ersten Pulten des Freiburger BO (Apponyi-Quartett)
    Alfred dürfte einiges von Mozart oder Zeitgenossen wie Kraus vom Concerto Köln im Blick gehabt haben. Hier besteht der "Vorwurf" ebenfalls nicht völlig zu unrecht. (Er ist jedenfalls für mich, der ich diese Spielweise durchaus goutiere, durchaus nachvollziehbar)


    Überdies scheint mir "kratzig/aggressiv" allerdings hier auch oft als eine vage Umschreibung all dessen, was persönlich nicht gefällt, zu dienen. Harnoncourt z.B. ist jedenfalls seit den 80ern vielleicht der HIPist, bei dem am meisten legato gespielt wird und der Klang der von ihm dirigierten Orchester auf modernen Instrumenten wie dem Concertgebouw oder dem Chamber Orch of. Europe ist vielleicht ungewohnt und gewiß nicht gesättigt philharmonisch, aber Kratzigkeit und Intonationsmängel wird man diesen Spitzenensembles kaum vorwerfen können.


    Zitat


    Zweitens muß meines Erachtens klar benannt werden - und vielfach ist das schon angeklungen - um welche Musik bzw. Musik aus welcher Epoche wir uns hier eigentlich streiten. Es dürfte nur wenige Gegenstimmen geben wenn ich behaupte, dass Musik, die älter als 250 Jahre ist, durch HIP eindeutig gewinnt. Streitpunkt ist doch eher alles was jünger ist. Man sollte also ganz explizit von Mozart in HIP, Beethoven in HIP, Mendelssohn in HIP, Bruckner in HIP usw. sprechen anstatt alles über einen Kamm zu scheren.


    Bingo. Es gibt ja fast nur bei Bach überhaupt irgendwelche ernsthaften Nicht-Hippen Alternativen. Schon bei Händel oder Vivaldi ist fast alles aus den 60ern mindestens "Proto/Pseudo-HIP" und die meisten dieser Sachen werden tatsächlich nur noch von wenigen gegenüber den HIP-Einspielungen verteidigt... (Es gibt einige sehr beachtliche Einspielungen z.B. unter Marriner, aber das werte ich Proto-HIP gegenüber Furtwängler oder Karajan)
    Ich ziehe keine feste Grenze, aber schon bei Beethoven verliert der HIP-Zugang für mich einiges von seinem Reiz, viele Unterschiede erscheinen mir weitgehend bedeutungslos gegenüber denen, die zwischen verschiedenen Interpretationen ohnehin bestehen. Damit will ich aber keineswegs sagen, daß ich HIP bei Schubert usw. sinnlos finde und recht viele HIP-Aufnahmen der Musik von Haydn bis Schubert schätze ich sehr hoch (freilich nicht unbedingt ihrer HIP-heit wegen)


    :hello:


    JR

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  • Einspruch, Euer Ehren! :D


    Aber, vielleicht fehlte eine Information. Die Aufführung fand entgegen früherer Gewohnheit nicht in der großen Kirche statt, die eh gewltig hallt und somit von jedem Musizierkörper eine Senkung des Klangpotentials erfordert hätte, sondern in ziemlich großen und akustisch trockenen Stadtsaal. Es war somit auch ein Raum- und Proportionenproblem. Da muss ein Solist einfach mehr geben (dürfen).


    Ich denke wir gehen aber in der Bewertung der gegensätzlichen Gesangsschiene - Wagner etc. darin konform, dass auch nicht überall, wofür der Meister der Bühnenweihe gezeichnet hat, ein Siegfried - Volumen her muss. Forcieren ist genauso gräßlich wie drosseln.


    Ob der Bachtrompeten bin ich nun erstaunt. Habe wohl den falschen terminus verwendet. Ich meinte die historischen Instrumente


    Hallo, Glockenton,


    dass man bei der Altistin aus dem zweiten File weghören soll, finde ich reichlich unfair. Ich finde, dass ihr eine sehr gerade Stimmführung hervorragend gelingt, m. E. besser als dem Knaben. Was einem besser gefällt, ist eine Geschmacksfrage, aber unberechtig abwerten braucht man niemanden.



    LG
    :hello:


    Ulrica

  • @ Ulrica


    Zitat

    Hallo, Glockenton,
    dass man bei der Altistin aus dem zweiten File weghören soll, finde ich reichlich unfair. Ich finde, dass ihr eine sehr gerade Stimmführung hervorragend gelingt, m. E. besser als dem Knaben. Was einem besser gefällt, ist eine Geschmacksfrage, aber unberechtig abwerten braucht man niemanden.


    OK.Statt dieses Nebensatzes


    Zitat

    ...und bitte von der zu viel vibrierenden Altistin weghören.


    hätte ich dann wohl präziser schreiben müssen:


    ...und bitte von der meiner Ansicht nach etwas zu viel vibrierenden Altistin, und anderen Ansichten nach mit sehr gerader Stimmführung singender Altistin weghören, weil es mir jetzt nicht darum geht.


    Wenn man meinen Text liesst, dann sollte eigentlich klar werden, dass es mir um den Vortrag des Instrumentalvorspiels ging. Mit dem Nebensatz wollte ich ausschliessen, dass man sich an Fragen des Sängervibratos verbeisst und nicht genug auf die Instrumente hört.


    Wie man sieht, ist mir genau das Gegenteil gelungen. :wacky:


    Ich habe die Frau nicht abgewerten wollen, berechtigt oder unberechtigt, und schon gar nicht persönlich.
    "Reichlich unfair" ist daran also gar nichts, es sei denn, man will es herauslesen und mit-betroffen sein.


    Exkurs:


    Michael Chance singt hier durchaus auch mit gelegentlichem Vibrato. Das was er macht, hört sich für mich nach gerader Stimmführung an, unabhängig davon, ob man den Klang eines Altus jetzt mag oder nicht.
    Bei Bernada Fink höre ich schon beim "seligen Wunder" auf der ersten Sylbe des Wortes "selig" ein ziemlich starkes Vibrato, dass ich nicht mehr wirklich unter "gerade Stimmführung" einsortieren würde.


    Exkurs Ende


    Aber, wie gesagt: So interessant dieses Thema auch sein mag, es hat mit den von mir aufgeworfenen Fragen absolut nichts zu tun und führt ganz wo anders hin.


    Mit anderen Worten, ich hätte von Dir und anderen lieber eine begründete Stellungnahme zur Verschiedenartigkeit der heute praktizierten "barocken Spielweise" im Hinblick auf das Thema des Threads " Wie historisch ist HIP" anhand der von mir angeregten Beispiel gelesen.


    Vielleicht kommt hierzu dann doch noch etwas.


    Gruss :hello:
    Glockenton


    PS.: Ich muss jetzt zum Orgel-Üben, weiter mitdiskutieren kann ich wahrscheinlich erst wieder ab morgen - schade, weil es ja spannend ist ;(

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Servus Glockenton,


    Zitat

    Original von Glockenton
    Manchmal erfreue ich mich mehr am viel körperhafteren, viel mehr gestikulierenden Tonfall Harnoncourts, zu anderen Zeiten gefällt mir das grössere Ebenmass der Herren Suzuki oder Herreweghe mehr...
    Kann sich hier jemand dazu entsprechend äussern?


    Ich meine mich zu erinnern, von Harnoncourt sinngemäß gelesen zu haben, dass er die Mittel der Klangrede bewußt übertrieben angewandt hat, um die Hörer mit der Nase (bzw. Ohren) auf diese Dinge zu stoßen. Die Klangrede war ja irgendwann in der Musikgeschichte verloren gegangen. Harnoncourt wollte eine neue Basis für das Verständnis der Klagrede legen.


    Dass dabei das Ebenmaß, wie du schreibst, gelegentlich zurücktreten muß, dürfte einleuchtend sein. Sicher betreibt er das heute bei Weitem nicht mehr so überdeutlich wie vor 30 Jahren, aber man merkt noch immer wo er herkommt.


    Herreweghe und Suzuki sind eine Generation jünger als Harnoncourt und damit Profiteure der H'schen Basis. So konnten sie es sich leisten, einen Schritt weiter zu gehen und Klangrede mit eben jenem Ebenmaß zu verbinden.


    Und das Pendel bewegt sich noch immer weiter in Richtung Schönklang. Vor allem die jüngeren Ensembles aus dem französischen Sprachraum wie La Chappelle Rhenane oder Akademia sind das beste Beispiel dafür.



    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Zitat

    Original von salisburgensis
    ...Ich meine mich zu erinnern, von Harnoncourt sinngemäß gelesen zu haben, dass er die Mittel der Klangrede bewußt übertrieben angewandt hat, um die Hörer mit der Nase (bzw. Ohren) auf diese Dinge zu stoßen.


    Reinhard Goebel hat sich ähnlich über manche seiner frühen Aufnahmen geäußert.


    Glenn Gould hat diese Methode, wenn ich mich richtig an die Conversations erinnere, doch auch angewandt - um alte Hörgewohnheiten anzukratzen, gerne!

  • Zitat

    Original von miguel54


    Reinhard Goebel hat sich ähnlich über manche seiner frühen Aufnahmen geäußert.


    Es ging erstmal freilich darum, dem Hörer klarzumachen, daß überhaupt eine Klangrede besteht...


    Wobei man oft natürlich nicht weiß, was übertrieben ist... Alle zeitgenössischen Handbücher gehen ja davon aus, daß der Musiker mit der Praxis im Grunde vertraut ist, was innerhalb der geschmacklichen Grenzen und was eine Übertreibung (sagen wir beim Geräuschanteil, den die Klänge der Bratsche, die den bellenden Hunde in den 4 Jahreszeiten darstellen sollen, haben dürfen) gewesen wäre. Wenn Leopold Mozart zuviel oder zu weites vibrato geißelt, können wir daraus erstmal nur schließen, daß es Geiger gab, die nach seiner Ansicht zuviel vibriert haben. Aber was ist zuviel? usw.


    Ähnliches gilt ja auch für viel Musik des 19. Jhds.; Rosen schreibt irgendwo mal, daß Chopin mit dem Metronom unterrichtete, nach Ohrenzeugenberichten aber selbst rhythmisch sehr frei und mit viel rubato spielte, sich andererseits furchtbar ereifert haben soll, als Liszt oder ein anderer Kollege eine Mazurka oder so angeblich zu frei gespielt haben soll...
    Hier hat man über zwei Schülergenerationen sogar eine "mündliche Überlieferung" einiger Stilelemente bis ins 20. Jhd. (mit allen Ungenauigkeiten solch einer Überlieferung)
    Bei Bach eben nicht.

    M.E. gibt es daher am Ende kein Herausreden. Nach allem Wissen, bei allen Ungenauigkeiten muß eine letztlich künstlerisch, ästhetisch begründete Entscheidung stehen. Und es wird immer Dinge geben, die man nicht gleichzeitig gleichermaßen deutlich machen kann.


    :hello:


    JR

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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Meiner Ansicht nach widerspricht ein solcher Interpretationsansatz so ziemlich allen Eigenarten des 17. und 18. Jahrhundert, wo alles ziemlich überladen, geziert und langatmig war....


    Das läßt sich auch ganz leicht als falsch entlarven, wenn man Überlieferungen zu Tempi und Dauer von Aufführungen in besagter Zeit nachschlägt. So ist von Aufführungen des Messias durch Händel selbst eine Dauer von 2 Stunden überliefert. Aktuelle HIP-Aufnahmen, die normalerweise unverdächtig bezüglich schleppender Tempi sind, benötigen in der Regel 140 Minuten, also 20 Minuten mehr als Händel selbst. Lediglich Minkowski kommt in die Nähe von Händels Dauer.


    Vom alten Bach ist ebenfalls überliefert, dass er für gewöhnlich seine Tempi sehr flott nahm.


    Zitat

    Zitat aus Forkels Bach-Biographie
    Bey der Ausführung seiner eigenen Stücke nahm er das Tempo gewöhnlich sehr lebhaft, wußte aber außer dieser Lebhaftigkeit noch so viele Mannigfaltigkeit in seinen Vortrag zu bringen, daß jedes Stück unter seiner Hand gleichsam wie eine Rede sprach.



    Und sein Sohn Carl Philipp Emanuel hielt es ebenso:


    Zitat

    Zitat aus CPE's Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen
    Einige Personen spielen zu klebricht, als wenn sie Leim zwischen den Fingern hätten.


    J.J. Quantz hat in seinem Werk Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen ziemlich konkrete Angaben darüber gemacht, wie schnell man bei jeweiligen Tempobezeichnungen zu spielen hätte. Heutige Aufnahmen brauchen in der Regel deutlich länger.


    Es gibt noch ein ganze Reihe weiterer derartiger Beispiele, die allesamt in die gleiche Richtung gehen. Es ist also in der Tat so, dass im 17./18. Jh. schneller musiziert wurde, als das bei heutigem HIP der Fall ist. So gesehen sind Aufnahmen von Christie, Jacobs, Gardiner et al. überladen und langatmig...



    herzliche Grüße,
    Thomas

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  • Guten Tag


    Zitat

    Original von Michael Schlechtriem
    Meines Wissens nach wurde bis weit in das 19.Jhdt. hinein nur wenig bis gar nicht von den Orchestern geprobt.


    Gruß,
    Michael


    Der Umfang der Probenarbeit wird wohl ein Rätsel bleiben, zu wage sind die wenigen Aufzeichnugen.
    Quantz schreibt über seine Erfahrungen 1716 in Dresden:
    "Hier wurde ich bald gewahr, daß das bloße Treffen der Noten, so wie sie der Componist hingeschrieben hat,
    noch lange nicht der größte Vorzug eines Tonkünstlers sey"

    Die Dresdner Hofkapelle bereitete gründlich ihre Aufführungen vor, ihr Konzertmeister Pinsendel leitete nicht nur die Probenarbeit,
    er bezeichnete im Voraus auch die Stimmenmaterialien und ihre musikalische Gestaltung genau und detailiert.
    Die Weimarer und Köthner Hofkapelle probten ganzjährig mehrmals wöchentlich.
    Über die Köthner Hofkapelle ist bekannt:
    "daß auch die berühmtesten Virtuosen ihre Sachen vorher zusammen probierten und exerzierten,
    dessen wir ein klar Exembel an hiesieger Fürstl. Capelle, so alle Woche ihr Exercitium musicum hält"
    .


    Wie weit dies aber für die Masse der verschiedenen Hofkapellen, Collegia musice, Stadtpfeiferensemble etc. gültig war ?


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard


  • Hallo,


    vielen Dank!


    Ich selbst vermute dieses auch; aber ebenso für das 19. Jahrhundert.
    Trotzdem sind Deine Genannten - Christie, Jacobs und Gardiner - schon mal ein richtiges Abbiegen auf die - wahrscheinlich - wahre Spur.


    Jacobs und Gardiner kann ich persönlich nicht als langatmig ausmachen.


    Polemik: M. E. sollten gerade die meisten heute aktiven Dirigenten erstmal die 'Tempi' studieren, bevor sie anfangen zu interpretieren.


    Polemik: Verlangsamte Tempi - gewillkürte Rubati, Temporückungen und Tempoverzögerungen - sind "Zur-Schau-Stellung" des Dirigenten und sonst meist nichts anderes - ich glaube es handelt sich um Manierismus und Eitelkeit (Polemik: siehe Furtwängler, Mengelberg, Knappertsbusch, Klemperer, Barenboim und Bernstein etc.; wenn es trotzdem auch aufregend klingt...).


    Bis dann.

  • Zitat

    Original von salisburgensis


    Das läßt sich auch ganz leicht als falsch entlarven, wenn man Überlieferungen zu Tempi und Dauer von Aufführungen in besagter Zeit nachschlägt. So ist von Aufführungen des Messias durch Händel selbst eine Dauer von 2 Stunden überliefert. Aktuelle HIP-Aufnahmen, die normalerweise unverdächtig bezüglich schleppender Tempi sind, benötigen in der Regel 140 Minuten, also 20 Minuten mehr als Händel selbst. Lediglich Minkowski kommt in die Nähe von Händels Dauer.


    Minkowskis Messiah ist ziemlich gekürzt (kann gerade nicht nachschauen, was genau fehlt, aber einiges). Die Zeitangabe aus Händels Zeit halte ich ebenfalls für unzuverlässig, da es zig Fassungen des Messiah gibt und wir nicht wissen, welche Arie vielleicht mal weggelassen wurde. Oder ob mit "etwa 2 Stunden" nicht ebensogut 2h 15 min gemeint gewesen sein kann.


    Aber in der Sache gebe ich Dir recht. Es wird ja auch häufig von der allgemeinen Beschleunigung heute gesprochen, aber eine Kutsche mit 20 km/h auf Kopfsteinpflaster fühlt sich allemal schneller an als 200 im Daimler auf der Autobahn...


    Zitat


    Es gibt noch ein ganze Reihe weiterer derartiger Beispiele, die allesamt in die gleiche Richtung gehen. Es ist also in der Tat so, dass im 17./18. Jh. schneller musiziert wurde, als das bei heutigem HIP der Fall ist. So gesehen sind Aufnahmen von Christie, Jacobs, Gardiner et al. überladen und langatmig...


    Meinem Eindruck nach ist bei einigen schnellen Tempi heutiger HIP-Musiker oft schon die Grenze des vernünftig Spiel/Singbaren erreicht. Hier glaube ich kaum, daß man seinerzeit schneller war. Eine andere Sache sind mittelschnelle Tanzsätze, andante- und "langsame" Sätze. Hier werden vielleicht mitunter noch (oder schon wieder) tendenziell zu breite Tempi genommen. (Wenn man eine Sarabande noch als Tanz erkennen soll, sind viele Interpreten in solchen Sätzen eher zu langsam.)
    Die oft sehr breiten Tempi der Vor-HIP-Zeit sind aber gewiß noch viel problematischer.


    :hello:


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Die Zeitangabe aus Händels Zeit halte ich ebenfalls für unzuverlässig, da es zig Fassungen des Messiah gibt und wir nicht wissen, welche Arie vielleicht mal weggelassen wurde. Oder ob mit "etwa 2 Stunden" nicht ebensogut 2h 15 min gemeint gewesen sein kann.


    Zur Genauigkeit der Zeitabschätzung des damaligen Ohrenzeugen kann natürlich nur spekuliert werden. Nicht spekulativ ist jedoch, welche Fassung er gehört hat: es war eine Aufführung im Foundling Hospital im Jahre 1753.



    Zitat


    Meinem Eindruck nach ist bei einigen schnellen Tempi heutiger HIP-Musiker oft schon die Grenze des vernünftig Spiel/Singbaren erreicht.


    Das meine ich auch, und ich bin froh, dass sich eben nicht sklavisch an den Überlieferungen orientiert wird. Ein Beispiel, das ja immer gern für Hochgeschwindigkeitsmusik herangezogen wird, ist der schnelle Schlußsatz vom 3.Brandenburgischen in der Goebelsche Aufnahme. Trotz des unglaublichen Tempos spielen die das hochpräzise und mit traumwandlerischer Sicherheit. Wirklich schön ist das meines Erachtens nicht mehr, aber höchst beeindruckend. Goebel meinte einmal in seiner typischen Art dazu, dass sie das so gemacht haben, einfach weil sie es konnten.



    herzliche Grüße,
    Thomas

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  • Nur kurz zum Tempo:


    es gibt eine recht ausführliche Arbeit zu dem Thema. Leider weiß ich Autor und Titel nicht auswendig, reiche das aber demnächst nach.


    Danach bewegen sich die heutigen hip-Tempi etwa im Rahmen dessen, was auch damals üblich war. Wobei es natürlich auch zu jenen Zeiten schnellere und langsamere Zeitgenossen gab.


    Nachdem Glockenton hier schon eine gewaltige Vorlage – vor allem zum Aspekt der Klangrede – geliefert hat, lassen sich ein paar Nachbarthemen ergänzen.


    Da ist einmal die Klangfarbe, bedingt natürlich durch die Verwendung entsprechender Instrumente bei angemessener Spielweise. Aber als Ergebnis bekommt man zusätzlich eine andere Balance sowohl im Ensemble als auch im Solo. Klangfarben in der Alten Musik speisen sich aus Obertonsprektren, die sehr viel umfangreicher sind als bei späteren Instrumenten – auch bei gleicher Benennung.
    Wenn man sagt, dass die Klangfarben damals das waren, was heute die Dynamik ist, geht man nicht ganz falsch (auch wenn's natürlich ein bisschen hinkt).


    Eine zweite Sache, die noch gar nicht richtig bis in die letzten hip-Winkel vorgedrungen ist, betrifft den Generalbass. Selbst heute wird oft noch ein dreistimmiges Geklingel exekutiert, das ja nicht die Oberstimmen übersteigen darf – und das von Viadana bis CPE Bach.
    Einmal wird der B. c. wesentlich stabiler und bestiimmender für den Klang gewesen sein, als viele sich das denken.
    Und zum anderen gibt es in der Musikhistorie kaum etwas differenzierteres als die Handhabung des B. c. – von 1580 bis 1780 und von Neapel bis St. Petersburg.
    Haben wir nach dem musikalischen Barock das Primat der Oberstimme, beherrscht bis in die Mitte des 18. Jhs. (und auch ein bisschen darüber hinaus) der Bass und der darauf aufbauende mehrstimmige Continuo-Satz das Feld.


    Es gäbe noch eine ganze Reihe weiterer Themen, über die man sich Gedanken machen könnte – Ensemblestärken, Verzierungstechniken, Affektenlehre etc. –, aber das schreibt jetzt wieder mal jemand anderes.

  • Zitat

    Original von salisburgensis


    Das meine ich auch, und ich bin froh, dass sich eben nicht sklavisch an den Überlieferungen orientiert wird. Ein Beispiel, das ja immer gern für Hochgeschwindigkeitsmusik herangezogen wird, ist der schnelle Schlußsatz vom 3.Brandenburgischen in der Goebelsche Aufnahme. Trotz des unglaublichen Tempos spielen die das hochpräzise und mit traumwandlerischer Sicherheit. Wirklich schön ist das meines Erachtens nicht mehr, aber höchst beeindruckend. Goebel meinte einmal in seiner typischen Art dazu, dass sie das so gemacht haben, einfach weil sie es konnten.


    Ich finde diese Interpretation ja ziemlich faszinierend ;)
    Es sind in der Tat die Ecksätze des 3. und des 6. Konzerts, die noch heute bei MAK verblüffen, während die restlichen Tempi inzwischen Standard geworden sind. Beim 6. sind sie mir allerdings auch etwas zu schnell und zu ruppig, wiewohl auch das als Alternative zu den sonst oft sehr bedächtigen Lesarten dieses eher introvertierten Stücks interessant ist.


    Es ist auch gewiß richtig, daß seinerzeitige Solisten, gleich ob Gesang, Violine oder Tasteninstrument selbstverständlich Profis waren und man keinesfalls davon ausgehen sollte, daß sie heutigen Musikern technisch unterlegen gewesen seien. Andererseits mußte ein guter Teil der Musik auch für Amateure noch gut spielbar sein.


    :hello:


    JR

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  • Vielen Dank für die interessanten Antworten :)


    Zitat


    Original von salisburgensis
    Und das Pendel bewegt sich noch immer weiter in Richtung Schönklang. Vor allem die jüngeren Ensembles aus dem französischen Sprachraum wie La Chappelle Rhenane oder Akademia sind das beste Beispiel dafür.


    La Chappelle Rhenane ist für mich eine spannende Entdeckung.
    Ich finde aber auch, dass sie bei Schütz eigentlich nicht geglättet auf reinen Schönklang hin spielen, sondern die Sache zwar nicht ruppig, aber doch recht feurig und mitreissend angehen. Englischen Schütz- Interpretationen fand ich im Vergleich hierzu relativ zahm.


    Auf mein Fragen zum Thema, wie man denn die Rede in Tönen "aussprechen", und vor allem wie stark die Ausschläge und der Gebrauch von interpratorische Zutaten aus historischer Sicht denn sein solle, gab Johannes Roehl eine schöne Antwort:


    Zitat


    Original von Johannes Roehl
    Nach allem Wissen, bei allen Ungenauigkeiten muß eine letztlich künstlerisch, ästhetisch begründete Entscheidung stehen. Und es wird immer Dinge geben, die man nicht gleichzeitig gleichermaßen deutlich machen kann.


    So ist es. Ähnlich wie beim Kochen gibt es auch in HIP-Kreisen verschiedene Geschmacksrichtungen, und von der Vorstellung, bei einem Meisterwerk als Interpret alle Aspekte beleuchten zu können, muss man sich wohl verabschieden, ohne es nicht trotzdem zu versuchen...


    Das sich die allgemeine Notwendigkeit des sprechendes Spiels historisch nachweisen lässt, kann niemand, der auch nur einen Funken Kenntnis über diese Dinge hat, ernsthaft bestreiten. Das angeführte Forkel-Zitat geht ja auch in diese Richtung und zeigt, dass diese Dinge auch bei einer Bach-Interpretation sehr wichtig sind.


    Das Ebenmässige, die ausbalancierte innere Statik der Linien, ist sicherlich auch ein wichtiger musikalischer Faktor, jedenfalls wird es von den Meisten so empfunden.
    Um einen musikwissenschaftlichen Nachweis hierfür beizubringen, wird man aber wohl etwas mehr ausholen müssen, oder weiss da jemand mehr?


    Mir viele jetzt z.B. Mattheson mit seinen Analyse und Analogien der Klangrede im Verhältnis zur gesprochenen Rede ein.
    Wenn ich einen Satz spreche, so muss ich ja auch darauf achten, nicht einzelne Worte und Sylben derart überdeutlich auszusprechen, dass der Zusammenhang des Satzes, des gesamten Textes darunter leidet.


    Ähnlich dem guten Geschmack und dem Ziel des Affektausdruckes unterworfen, verhält es sich wohl auch mit dem instrumentalen Vibrato.
    Als Gegenreaktion zum Dauervibrato ( = Vibrato als ständige Klangzugabe) z.B. bei Streichern entstand bei manchen HIP-Gruppen/Dirigenten die Ansicht, dass man es, wenn überhaupt, dann nur sehr selten benutzen dürfe.
    Ein Dirigent verbietet es meines Wissens sogar völlig, und das bei Komponisten nach Beethoven.
    Historisch ist dies aus meiner Sicht genauso wenig haltbar wie das ebenso einfallslose Dauervibrato.
    Die Ausdrucksvibrati (nicht nur ein Vibrato!) sind es, bei denen man nicht nur der historischen Wahrheit, sondern vor allem auch einem wunderbar expressiven und abwechslungsreichen Klangbild für jetzt lebende Menschen m.E. am nahesten kommt.


    Näheres hierzu im Vibrato-Thread, bei dem auch die Frage des Vibratos bei Sängern ausgiebig diskutiert wurde.


    Wenn ich, um beim o.g. Beispiel zu bleiben, die Streicher von La Chappelle Rhenane mit Schütz höre, gefallen mir deren Lösungen auch in dieser Hinsicht ziemlich gut.


    Um noch einmal auf das Thema Klangrede bei Suzuki zurückzukommen:
    Wenn es um die Stärke des von mir oben genannten kleindynamischen "Auf- und Abs" bei Bach geht, dann höre ich bei Suzuki davon noch etwas weniger als z.B. bei Herreweghe.
    Obwohl ich ja (mit meiner Harnoncourt-Prägung) hin und wieder nach mehr giere, höre ich Suzuki trotzdem sehr gerne, weil er z.B. sehr oft ein derart ausgewogenes, für mein Gefühl nahezu ideales Tempo- und Formgefühl hat, die Musik beim ihm in der Tat immer seriös und doch nicht langweilig nach Kirchenmusik klingt, weil sein Chor so durchsichtig klingt, er sich als Interpret uneitel verhält, ... uvm.
    Lahm und langweilig sind diese Aufnahmen beileibe nicht.


    Ob es instrumental noch etwas sprechender ginge, ohne die Statik seiner schönen Linien zu verletzen, müsste im Einzelfall ausprobiert werden.
    Ich würde mich sehr gerne einmal mit ihm ausgiebig an konkreten Beispielen darüber unterhalten, warum er bei gewissen charakteristischen Zieltönen durchaus weniger als andere dynamisch zurückfedert (Glockentondynamik)....und ich hätte sicher noch viele andere Fragen.


    In seinen Aufnahmen höre ich übrigens nicht sehr viel " Harnoncourt -HIP-Style" und auch nicht allzuviel den tendenziell leichtgewichtigeren und schneller nach vorne treibenden Koopman ( der ihn ja auch am Cembalo unterrichtet hat).
    Manchmal fühle ich mich da schon eher an den immer uneitlen Leonhardt und auch an den Ästheten Herreweghe erinnert, obwohl er deren Eigenheiten nicht kopiert und gegenüber Herreweghe auch ein etwas anderes, ebenfalls sehr ansprechendes Klangideal hat.


    Doch hierzu könnte man sich seperat auslassen.


    Zum Schluss noch zur Stützung einer Argumentationslinie von Thomas:


    Selbst die von Dir zurecht als manchmal ruppig bezeichnete MAK konnte ja auch sehr warm, singend und mit erstaunlichem Vibrato klingen, wenn sie z.B. Schütz musizierten: siehe das wunderbare Instrumentalvorspiel der Streicher zu " Erbarm Dich mein, o Herre Gott" ;)
    Richtig ruppig wurde es bei Bach - manchmal schade eigentlich. Auch bei der BWV 51-Aufnahme mit C. Schäfer höre ich immer noch etwas aus dieser Richtung.


    keith63


    Selbst Barenboim spielt seine Beethovensymphonien heute klarer artikuliert und transparenter als noch zu jenen Zeiten, bei denen man alle kleinen Bögen und Akzente möglichst unhörbar machte, um die grossen "erhabenen" Linien herauszuarbeiten - manche empfinden dies ja noch heute klanglich als schön....
    Dass er bei Brahms recht "furtwänglerisch" im agogischen Bereich arbeitet, habe ich schon mitbekommen, bei Beethoven konnte ich derartiges noch nicht anhand von Ausschnitten feststellen. Auch an Interpreten wie ihm sind die Folgen der HIP-Entwicklungen nicht spurlos vorbeigegangen - und das finde ich auch gut.


    Zurück zum Thread-Thema


    Gute HIP- Musiker wollen ja viel mehr, als nur, wie im Thread-Namen angegeben, "historisch korrekt" zu sein. Soviel wie möglich im Sinne einer bestmöglichen heutigen Aufführung zu wissen, ist das Eine, aber es im Moment des Konzerts zu vergessen und nur noch eine beseelte und ins Herz treffende Musik zu machen, ist das Andere.


    HIP hätte seinen Siegeszug niemals antreten können, wenn es von akademisch steifen Musikertypen mit Staub in den Adern praktisch umgesetzt worden wäre.
    Es bedurfte starker Persönlichkeiten mit dem durchaus heftigem Temperament eines Vollblut-Musikers, die auch Mut zum interpretatorischen Risiko hatten.
    Ja, sie hatten und haben sogar den Mut, ihre eigenen ehemals vermeintlich gewonnenen sicheren Erkenntnisse und Ergebnisse wieder neu in Frage zu stellen.
    Harnoncourt und Goebel gehören sicher dazu, viele Andere auch.


    Die selbstkritische Debatte über die historische Korrektheit bei HIP wird damals wie heute hauptsächlich von denen geführt, die der HIP-Bewegung nahestehen, bzw. dazugehören.
    Sehr interessant finde ich die von Hildebrandt angesprochenen Themen, besonders die Geschichte mit dem Continuo-Bass. Ich denke nicht, dass wir da schon am Ende einer Entwicklung angekommen sind. Mir wäre hierbei nur wichtig, dass man die Erkenntnis, dass eine gute Continuobasslinie auch sehr ausdrucksvoll ( wenn nicht liebevoll) vom Bassinstrument artikuliert und vorgetragen werden sollte nicht wieder aufgibt, und sich nur noch auf das vollgriffige Spiel der gleichzeitig spielenden Harmonieinstrumente konzentriert. Lieblos heruntergeschrubbte 8-tel-Bässe gehören für mich zu den schlimmsten Aspekten der Pre-HIP-Ära und sollten sich nicht wieder einschleichen.


    Die auf mich relativ bemüht und konstruiert wirkende Frage, ob die heile Schönklangwelt aus Böhms und Karajans- Zeiten nicht sogar historisch gesehen doch das Richtige war - und damit die ganze Geschichte mit der Klangrede ein Riesenirrtum darstellt ( im Beethoven-Symphonien-Thread wird von "Verballhornung" gesprochen) ist faktisch schon seit Jahrzehnten durch die Wirklichkeit beantwortet.


    Warum diese Thesen hier immer wieder neu in verschiedenen Aufmachungen auf den Tisch kommen, will mir nicht mehr so recht einleuchten.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Es ist auch gewiß richtig, daß seinerzeitige Solisten, gleich ob Gesang, Violine oder Tasteninstrument selbstverständlich Profis waren und man keinesfalls davon ausgehen sollte, daß sie heutigen Musikern technisch unterlegen gewesen seien. Andererseits mußte ein guter Teil der Musik auch für Amateure noch gut spielbar sein.


    Für die Profis des Barock waren die Fähigkeiten der sog. Dillettanten wohl kein Maßstab - bei Quantz steht eindeutiges z.B. über die Tempoanforderungen beim Presto.

  • Zitat

    Original von Glockenton
    Die auf mich relativ bemüht und konstruiert wirkende Frage, ob die heile Schönklangwelt aus Böhms und Karajans- Zeiten nicht sogar historisch gesehen doch das Richtige war - und damit die ganze Geschichte mit der Klangrede ein Riesenirrtum darstellt ( im Beethoven-Symphonien-Thread wird von "Verballhornung" gesprochen) ist faktisch schon seit Jahrzehnten durch die Wirklichkeit beantwortet.


    Vielleicht kein Irrtum, aber ein Abschnitt in der Geschichte der Musikinterpretation. Die rückwärtsgerichtete Orientierung der Kultur hin zum Musealen hat sich zuerst nur auf das Repertoire ausgewirkt, aber die Interpretation wurde völlig ahistorisch von der Gegenwart aus betrieben. Mit der HIP ist die Historisierung auch zur Musizierpraxisvorgedrungen.
    Ich finde das nur konsequent. Früher war Geschichte eine Ansammlung von Heroen und Schlachten, seit den 1960er Jahren haben die Historiker auch das Alltagsleben von Hinz und Kunz entdeckt (s. z.B. Duby, Leroi Ladurie). Ich sehe da in der Entwicklung der HIP eine Parallele.


    In der Musik und darstellenden Kunst haben wir dadurch aber das Paradoxon einer lebendigen Kunstpraxis der Gegenwart, deren Repertoire von vorgestern ist.
    Die Diskussion über die HIP ist wie die über die Frage, ob man Michelangelos Fresken in der Capella Sistina jetzt vom Ruß und Staub der Jahrhunderte befreien soll, damit die Farben wieder leuchten, oder nicht. Da fragt keiner nach den Augen früherer Jahrhunderte.


    Ich für meinen Teil liebe die kräftigen Farben der "alten" Instrumente ...


    Zitat

    Warum diese Thesen hier immer wieder neu in verschiedenen Aufmachungen auf den Tisch kommen, will mir nicht mehr so recht einleuchten.


    Same here - es könnte doch jeder nach seinem Gusto einfach hören, was gefällt - warum eines immer richtiger als etwas anderes sein muß, habe ich nie verstanden, aber die Bestätigung des eigenen Geschmacks scheint für so manchen eine existentielle Frage zu sein. Das ist eigentlich so überflüssig wie Glaubenskriege.

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