Die Aktivierung des Zuschauers in der Oper vor dem Hintergrund der performativen Wende

  • Lieber Alviano,


    ich hatte zugesagt, dir etwas zu meinen Überlegungen zum oben genannten Thema mitzuteilen. Entschuldige bitte, dass ich erst jetzt dazu komme. Bevor ich aber einsteige, möchte ich zunächst einmal für alle Interessierten die relevanten Beiträge in Erinnerung rufen:



    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Lieber Thomas,
    im Sprechtheater geht das wohl etwas leichter; im Musiktheater verlieren die Protagonisten dadurch zu leicht den Kontakt zur musikalischen Leitung. Zumindest besteht eine gewisse Gefahr dazu.
    Ich kenne lediglich ein paar Aufführungen mit den schon bekannten Auftritten durch die Publikumsreihen. Die Musikhochschule hat einmal auf ihrer Probebühne Brittens "Albert Herring" gebracht, und zwar so, daß im zweiten Akt das Publikum an den Rändern der gesamten Spielfläche saß und dadurch "Teilnehmer" der Maifeier wurde. In Menottis "Globolinks" trieben sich die Außerirdischen natürlich im Publikum herum. In Ligetis "Grand Macabre" im Jugendstiltheater fand der Umzug durch die Zuschauerreihen statt etc.
    :hello:



    Zitat

    Original von Gurnemanz


    Möglicherweise paßt die Neuinszenierung in Darmastadt (John Dew) hier hinein; ich habe sie (noch) nicht gesehen, wohl aber Matthias Pfütz, der sie anschaulich besprochen hat:



    Näheres hier.



    Zitat

    Original von Alviano


    Lieber Thomas aus Norderstedt,


    was irgendwie schade ist, was fängst Du denn mit den angebotenen Beispielen an? Mir hat das Überlegen, was so in etwa Deine Frage beantworten könnte, viel Spass gemacht. Das kann ich vom Lesen der neuesten Beiträge hier nicht in jedem Fall behaupten.


    Wie es so meine Art ist, hatte ich eigentlich vor, zunächst die grundlegenden Erkenntnisse der Kulturwissenschaften, speziell der Theaterwissenschaft zur Performativität darzulegen, sodann meine Gedanken dazu zu äußern und auf dieser Basis einige Thesen zur Diskussion zu stellen. Nur musste ich erstens in den letzten Tagen erkennen, dass bei dieser Vorgehensweise mein Beitrag viel zu lang geworden wäre und habe ich zweitens bei nüchterner Betrachtung festgestellt, dass nur wenige Forianer an diesem Thema interessiert sein dürften, so dass Aufwand und Ertrag in keinem gesunden Verhältnis mehr stehen. Zudem sei nicht verschwiegen, dass angesichts des Themas mit derart viel Querschüssen und Störmanövern zu rechnen ist, dass es mir schon jetzt die Freude verleidet, mich hier zu diesem Thema näher zu äußern. Aber wie heißt es so schön: Versprochen ist versprochen. Hier also eine Kurzfassung meines eigentlichen Vorhabens (Verkürzungen in der Darstellung bitte ich mir nachzusehen):


    Die im Titel dieses Threads angesprochene performative Wende bezeichnet die sich in den Kulturwissenschaften seit etwa fünfzehn Jahren immer stärker durchsetzende Erkenntnis von der Besonderheit der jeweiligen Aufführungssituation. Stärker denn je wurden der Zuschauer und sein Beitrag zur Aufführung in den Blick genommen. Man hat erkannt, dass eine Aufführung immer aus der Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern entsteht. Weil die jeweilige Aufführungskonstellation jeweils anders ist, ist die jeweilige Aufführung unwiederholbar und somit auf besondere Weise gegenwärtig. Wegen mit der Aufführungssituation verbundener Präsenzerfahrungen wie z. B. Assoziationen des jeweiligen Zuschauers aufgrund von Aktionen des jeweiligen Akteurs bringt die jeweilige Aufführung zudem eine je eigene Bedeutung hervor. Diese Bedeutungserfahrung ist aufgrund der besonderen Präsenz des Ereignisses besonders intensiv. Wesentlich für eine Aufführung ist somit die Flüchtigkeit sowohl des Ereignisses Aufführung als auch der Bedeutungsentsehung und -erfahrung.


    Soweit ganz kurz zur Ästhetik der Performativen (so der Titel eines zentralen Werkes zu diesem Thema von Fischer-Lichte, das ich hier gern empfehle).


    Mich interessiert an dieser Theorie zurzeit vor allem der Status des Zuschauers. Seine Funktion ist nach der o. g. Theorie eine gänzlich andere als bisher. Bisher war er ein am Bühnengeschehen nicht teilnehmender, passiver Betrachter, dessen Rolle sich auf den intellektuellen Nachvollzug beschränkte. Nach der o. g. Theorie kommt dem Zuschauer eine viel bedeutendere Funktion zu: Indem er die jeweilige Aufführung mit hervorbringt, wirkt er selbst bedeutungskonstituierend. Nicht Passivität, sondern Teilhabe an der Aufführung beschreibt somit seine Rolle.


    Folgerichtig wird der Blick auf den Zuschauer gelenkt und danach gefragt, wie der Zuschauer aktiviert werden kann. Wichtig dabei ist, dass der Zuschauer ohnehin immer an dem ästhetischen Prozess beteiligt ist, weil er als Zuschauer einer Aufführung notwendigerweise aktiv ist. Gleichwohl gibt es Möglichkeiten den Zuschauer noch mehr als im eben genannten Sinne ohnehin immer schon an dem jeweiligen Aufführungsgeschehen teilnehmen zu lassen.


    Nun ist die Idee der Zuschauerpartizipation nicht neu. Z. B. Brecht hat mit seinen Lehrstücken ähnliches theoretisch fundiert. Mitmachtheater, Laientheater verfolgten und verfolgen ähnliche Ziele, wenn auch auf anderer theoretischer Grundlage.


    Vor diesem Hintergrund habe ich mir die Frage gestellt, ob und inwieweit Teilhabe bzw. Aktivierung des Zuschauers in der Oper möglich ist. Davon, dass sie wünschenswert ist, bin ich überzeugt. Für mich soll Oper keine rein unterhaltende, museale Veranstaltung, sondern eine lebendige, mich als im Heute lebenden Menschen ganzheitlich ansprechende Erfahrung sein. Zweifellos führt eine Zuschaueraktivierung zur Verlebendigung des Opernereignisses.


    Mehrere Gesichtspunkte erschweren in der Oper im Vergleich zum Sprechtheater solche Teilhabe bzw. Aktivierung:


    Zuallererst ist zu beachten, dass in der Oper musiziert wird. Edwin hat einen dabei eine wichtige Einschränkung der Möglichkeiten der Regie bereits genannt, indem er darauf hinwies, dass die Musiker den Kontakt zur musikalischen Leitung behalten müssen.


    Wichtiger als die Frage, wie gespielt wird, scheint mir jedoch die Frage, was gespielt wird. Die Oper natürlich, scheint die Antwort zu lauten. Aber ist das wirklich so? Im Theater ist es durchaus üblich, das jeweils gespielte Stück nur als Material anzusehen, mit dem nach Belieben umgegangen werden kann. Es ist interessant sich zu überlegen, ob das in der Oper auch so sein kann.


    Eine Aktivierung der Zuschauer kann dadurch erfolgen, dass man das Bühnengeschehen und den Zuschauer örtlich näher zueinander bringt, entweder indem man die Musiker inkl. der Sänger in den Zuschauerraum oder gar ins Foyer spielen oder indem man die Zuschauer auf der Bühne zuschauen lässt. Solcherlei Beispiele sind oben zu lesen. Bei diesen Vorgehensweisen bleibt der Zuschauer jedoch Zuschauer.


    Eine deutlich stärkere Aktivierung würde der Zuschauer erfahren, wenn er zum Mitmusizierenden würde. So berichtete mir ein Arbeitskollege von einem Opernbesuch in der Arena von Verona. Es wurde Nabucco gegeben. Die Zuschauer wurden aufgefordert, den Gefangenenchor nicht mitzusingen. Aber alle haben es getan! Ein ähnliches Geschehen ist bei der last night of the Proms zu erleben, wenn das Publikum ebenfalls lautstark mitsingt (ja, ich weiß, keine Oper).


    Man stelle sich vor: Es wird der Freischütz gegeben. Der Text und die Noten des Jägerchores werden auf die Bühne projiziert und der Dirigent wendet sich an das Publikum: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte singen Sie mit!“


    Denkbar wäre es auch, das Publikum oder einzelne Zuschauer entscheiden zu lassen, ob bestimmte Teile der Oper gespielt werden, z. B. bei unterschiedlichen Fassungen der Oper.


    Oder man könnte z. B. bei Donizettis Liebestrank auf die Idee kommen, „Una furtiva lagrima“ wegzulassen mit der Bemerkung, das sei viel zu abgeschmackt. Oder man könnte beim Tannhäuser den Chor nicht „Landgraf Herrmann, Heil!“ singen, sondern nur „Landgraf Herrmann“ singen und beim „Heil!“ jeweils schweigen lassen.


    Oder, oder, oder …


    Vor diesem Hintergrund, lieber Alviano, erschienen mir die von mir erlebten Beispiele von Zuschaueraktivierung sehr zurückhaltend. Von daher interessierte mich, was ihr in dieser Hinsicht zu berichten wisst.


    Was fange ich nun mit euren Beispielen an, hast du gefragt. Nun, zunächst stelle ich fest, dass die Opernregisseure sehr zurückhaltend sind. Sodann finde ich, dass es noch sehr viel Potential für die Oper als Aufführung gibt. Mehr Experimentierfreude in diese Richtung wäre mir lieb.


    Viele Grüße


    Thomas

  • Lieber Thomas,


    über das hier


    Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    Wichtiger als die Frage, wie gespielt wird, scheint mir jedoch die Frage, was gespielt wird. Die Oper natürlich, scheint die Antwort zu lauten. Aber ist das wirklich so? Im Theater ist es durchaus üblich, das jeweils gespielte Stück nur als Material anzusehen, mit dem nach Belieben umgegangen werden kann. Es ist interessant sich zu überlegen, ob das in der Oper auch so sein kann.


    habe ich heute auch nachgedacht. Der Begriff "Regietheater", der hier in letzter Zeit sehr strapaziert wird, scheint mir auf kaum eine Operninszenierung, die ich je wahrgenommen habe, zu passen, wenn ich dazudenke, was im Sprechtheater mit dem Begriff "Regietheater" beschrieben wird. Ich bin theatralisch mit den Regisseuren Jürgen Kruse und Frank Castorf Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre sozialisiert worden, habe bei beiden als Jungspund auch hospitiert und ihre Arbeitsweise von innen erlebt. Den frei-assoziativen Umgang mit dem Text-Material, den ich bei diesen (und als Zuschauer auch bei anderen) Regisseuren erlebt habe, gibt es in Musiktheaterinszenierungen praktisch nicht. Am ehesten wohl noch in Operetteninszenierungen an Sprechtheaterbühnen: in Christoph Marthalers Inszenierung von "La vie parisienne" an der Volksbühne und wohl auch in Castorfs Hamburger "Fledermaus" von 1997 (die ich leider nicht gesehen habe, aber das Programmheft erwähnt u.a. Baudrillard, Rammstein und Q. Tarantino als Textdichter des Abends).


    Heute ist es vor allem der in Deutschland lebende und arbeitende Ungar David Marton, der Opernpartituren sehr intensiv auseinandernimmt, neu zusammenbaut und durch Fremdes ergänzt. Von ihm habe ich in Berlin eine "Freischütz"-Version 2004 und "The Fairy Queen" 2005 gesehen. Spätere Arbeiten wie "Der feurige Engel" und "Wozzeck" kenne ich nur vom Hörensagen. Marton arbeitet allerdings nicht in Opernhäusern (wohl weniger, weil er nicht wollen würde), sondern im "Edel-Off" (Sophiensaele Berlin, Kampnagel Hamburg) und in letzter Zeit auch in Schauspielhäusern (Volksbühne, schauspiel hannover).


    In Opernhäusern bleiben Partituren unangetastet (von durch Tradition legitimierten Strichen abgesehen), und das Dogma von der "Werktreue" ebenfalls - das wird ja, auch hier im Forum, von Anhängern "moderner" Inszenierungen ebenso vehement in Anspruch genommen wie von denen "konservativer". (Warum "Werktreue" ein unhinterfragbarer Wert an sich sein soll, ist mir, aber das liegt an meiner oben skizzierten Theatersozialisation, schleierhaft.) Es sind die "Modernen", die vielfach gegen eine "verschlampernde Tradition" die "Originalgestalten" der Werke (Urfassungen, zu öffnende Striche undsoweiter) ins Feld führen. Zu Recht natürlich, wenn es gegen eine unbegriffene Tradition geht. Zu Unrecht, finde ich, wenn es gegen eine konkrete Aufführungssituation geht, die m. E., wenn es dafür Argumente gibt, jeden Eingriff in die Partitur legitimieren kann.


    Paradoxerweise scheint es mir so zu sein, dass alle Modernisierungen in der Aufführungspraxis der letzten Jahrzehnte eben gerade vom Performativen weg geführt haben, das im "Staubi"-Zeitalter auf eigentümliche Weise längst bestand:


    die berühmte "Vierte Wand", deren Fall im Sprechtheater den Umschwung vom realistisch-naturalistischen zum narrativen (Brecht-)Theater bedeutete, war ja in der Oper in Zeiten, da die Protagonisten ihre Arien von der Rampe aus ins Publikum schossen, gar nie vorhanden.


    Die Interaktion "von unten nach oben" fand, oben habe ich's schon erwähnt, mit Beifalls- oder Missfallenskundgebungen mitten in der Aufführung ganz unmittelbar statt.


    Die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Oper war, da sie in Übersetzung gesungen wurden, viel unmittelbarer möglich als heute, da ein Originalsprachendogma (und der internationale Starbetrieb) die Zuschauer zu Übertitellesern macht.


    Das "Aus-der-Rolle-fallen" des Darstellers, die Publikumsbeschimpfung habe ich oben mit der Vickers-Anekdote beschrieben. Sicher war es nicht das einzige Mal, das in der Oper so etwas vorkam. Dass ich es erwähnte, war nicht bloß anekdotisch gemeint. Eigentlich in jeder Castorf-Inszenierung der 90er Jahre war es meist der wundervolle Herbert Fritsch, der mindestens einmal (inszeniert) aus der Rolle fiel und sich in wundervollen Beschimpfungen des Publikums oder des Regisseurs oder seiner Kollegen erging.


    Nicht gesehen habe ich leider Michael Thalheimers Operninszenierungen: "Katja Kabanova" in Berlin und "Rigoletto" in Basel. Thalheimer hat in seinen Sprechtheaterinszenierungen das An-der-Rampe-direkt-ins-Publikum-sprechen zu ungeheurer Intensität entwickelt. Wäre kurios zu erfahren, ob er diesen virtuosen Sprechtheater-Kunstgriff in die Oper, wo er auf eine alte Tradition des An-der-Rampe-Singens traf, hat übersetzen können.



    Grüße,
    Micha


    der hofft, nicht missverstanden zu werden:
    Nein, das hier ist kein "Früher-war-alles-besser"-Beitrag. Ganz im Gegenteil.

  • Wenn jemand an die Grundsubstanz des Werkes geht - egal ob Musik- oder Sprechtheater, dann ist das immer und immer wieder abzuhlehnen.


    Für das, was die Leute mit diesen Werkverunglimpfungen aussagen möchten, sollen neue Werke geschrieben werden.

  • Ich bin einfach zu müde, um noch heute in diese Diskussion einzusteigen, werde dies aber nachholen.


    Lieber Micha, wenn Du Thalheimers "Katya" oder "Rigoletto" nicht gesehen hast, kannst Du Dir eventuell "Entführung" in Berlin anschauen, die Oper wird in dieser Saison in der Lindenstrassenoper in der Inszenierung von Michael Thalheimer Premiere haben. Ich habe die "Katya" gesehen und Thalheimer bleibt sich treu - aber: die unglaubliche Reduktion, die man von ihm im Schauspiel gewohnt ist, findet selbstverständlich nicht statt, Thalheimer ist in der Oper "gefangen" und damit in seiner künstlerischen Kraft auch gebremst.


    Marthaler kommt die Oper stärker entgegen, seine Erzählweise ist eine andere, das funktioniert deutlich besser.


    Ich weiss nicht, ob Castorf nach "Otello" (in Basel) überhaupt nochmal Oper gemacht hat - aber ich würde vermuten, dass sich seine Vorstellung von Theater in der Oper nur unzureichend umsetzen lassen.


    Mich hätte immer interessiert, wie der von mir hochgeschätzte Einar Schleef Oper inszeniert hätte...


    Herbert Fritsch war immer genial - nach vier langen Stunden setzte dann das ein, was Du beschrieben hast - der Dialog mit dem entfliehenden Publikum, Sternstunden, sag ich da nur...


    Demnächst gerne mehr.

  • Lieber Alviano,


    danke für die Anmerkungen; du weißt, nach langen postings ist man dankbar, nicht ins Leere geschrieben zu haben


    Zitat

    Original von Alviano


    Ich weiss nicht, ob Castorf nach "Otello" (in Basel) überhaupt nochmal Oper gemacht hat - aber ich würde vermuten, dass sich seine Vorstellung von Theater in der Oper nur unzureichend umsetzen lassen.


    Jaaa, aber WARUM? Liegt es wirklich nur am "Betrieb"?


    Zitat

    Original von Alviano
    Mich hätte immer interessiert, wie der von mir hochgeschätzte Einar Schleef Oper inszeniert hätte...


    Mich auch. Andererseits: war das nicht schon viel zu opern-affin, was er im Sprechtheater tat? Mehr noch als bei Thalheimer? Wären nicht seine unglaublich starken uniformierten Sprechchöre notwendigerweise zu 08/15-uniformierten Opernchören mutiert, wie sie in nahezu jeder Inszenierung heute zu sehen sind?


    Zitat

    Original von Alviano
    Demnächst gerne mehr.


    Darauf freut sich
    Micha

  • Lieber Micha,


    eines habe ich vergessen: "Werktreue" ist für mich ein leerer Begriff, der beschreibt nichts, aber das nur am Rande.


    Schleefs Inszenierungen waren auch "Sprechopern", klar, nicht nur, aber auch. Nur hätte seine Form des Umgangs (z. B.) mit den Kollektiven in der Oper nicht funktioniert. Diese enormen Repetitionen, auch in der Bewegung, wären mit der Musik nicht gegangen. Dazu die Rhythmisierung des Textes, wo der Ausdruck (oft) über dem Inhalt steht, die extremen Dynamikwechsel, das ist in der Oper nicht abbildbar - und wie der Zuschauer auf unter grauen Militärmänteln bis auf die Militärstiefel nackte Männer, die sich stampfend über eine Bühne bewegen, reagieren würde, möchte ich nicht zu jedem Preis erfahren.


    So viel für heute, ich reiss mich jetzt mal los.

  • Zitat

    Original von Alviano
    Diese enormen Repetitionen, auch in der Bewegung, wären mit der Musik nicht gegangen. Dazu die Rhythmisierung des Textes, wo der Ausdruck (oft) über dem Inhalt steht, die extremen Dynamikwechsel, das ist in der Oper nicht abbildbar


    Ist es wohl - man muss nur den Mut haben, in die Partitur einzugreifen. EIN in dieser Hinsicht aufgeschlossener Dirigent an entscheidender Stellung in einem Opernhaus, und vieles wäre möglich.


    Mir fällt die "Turandot" aus Peking ein, die letztens im Fernsehen lief. Einzig interessant an dieser Inszenierung schien mir (zumindest während der halben Stunde, die ich sie verfolgte) das eindrucksvolle asiatische Trommeln zwischen den Akten. Natürlich KÖNNTE man ALLES auch IN einen Opernakt einbauen, wollte man denn.


    Aber allmählich bekomme ich ein schlechtes Gewissen und hoffe, dass es morgen gelingt, diesen thread wieder zu der eigentlichen Intention des thread-Starters zurückzuführen.


    Gute Nacht,
    Micha

  • Zitat

    Original von Michael M.


    Aber allmählich bekomme ich ein schlechtes Gewissen und hoffe, dass es morgen gelingt, diesen thread wieder zu der eigentlichen Intention des thread-Starters zurückzuführen.


    Gute Nacht,
    Micha


    Hallo Micha,


    für ein schlechtes Gewissen besteht überhaupt kein Anlasss. Vielmehr verschaffen mir die oben angesprochenen Begriffe der Werktreue und der Grundsubstanz des Werkes die willkommene Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass der Begriff Werktreue nach heutigem theaterwissenschaftlichen Stand problematisch ist, und zwar aus zwei Gründen:


    Zum einen habe ich oben bereits darauf hingewiesen, dass aufgrund der je eigenen Aufführungssituation je eigene Bedeutungen entstehen. Es wird mithin nicht das Werk dargeboten, sondern es ereignet sich eine Aufführung. Der Begriff der Werktreue entstammt der aus Sicht der Performativität überholten Ordnung der Repräsentanz, bei der Aufführung geht es jedoch um die Ordnung der Präsenz, die ganz anderen Beurteilunsmaßstäben unterfällt.


    Zum anderen unterschlägt die Sichtweise von der Werktreue die Zeichenhaftigkeit des Theaters. Das ursprüngliche Werk steckt voller - im Falle der Oper im wesentlichen musikalischer und textlicher - Zeichen. Diese Zeichen - Fischer-Lichte spricht in ihrem Standardwekr "Semiotik des Theaters, Bd. 1 von dem theatralischen Code - müssen von den jeweiligen Akteuren dekodiert und dann wieder in aufführungspraktische Zeichen wie z. B. Sprachzeichen, Kostümzeichen, Verhaltenszeichen wie z. B. Gestik usw. enkodiert werden. Aufgrund dieses Vorgangs kommt das Werk vereinfacht gesprochen nie ungefiltert auf die Bühne, sondern wird die Aufführung auch unabhängig von dem dann noch hinzukommenden Beitrag des Zuschauers im obigen Sinne immer wieder neu und anders.


    Vor diesem Hintergrund ist es sehr naheliegend, das aufzuführende Werk eben doch nur als Material zu verstehen. Es freut mich sehr, dass du, lieber Micha, dich ebenfalls für das Thema interessierst. Ich hatte in meinem Startbeitrag zu diesem Punkt noch einige Absätze mehr geschriebeben, diese aber wieder gelöscht, weil ich befürchtete, für viele hier zu weit zu gehen. Vielleicht schreibe ich sie demnächst neu.


    :hello: Thomas

  • Hallo Thomas, hallo an alle anderen, die sich hier geäußert haben,


    vielen Dank für Euere Ausführungen.


    Ohne weiteres akzeptiere die These, dass in jeder individuellen Aufführung jeweils ein individuelles Werk entsteht.


    Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    [quote]Original von Michael M.
    Vor diesem Hintergrund ist es sehr naheliegend, das aufzuführende Werk eben doch nur als Material zu verstehen.


    Hier liegt für mich der Punkt, wo ich zumindest im Moment dem Gedankensprung nicht mehr folgen mag, zumal ich fürchte, dass aus dem "naheliegend" sehr schnell über das "kann man als Material verstehen" ein "muss man als Material verstehen" werden könnte.


    Das wiederum widerspricht erstens schon mal meiner ganz persönlichen Lebenserfahrung, denn ich habe schon einige paar bewegende Opernabende erlebt, ohne dass dem Original neuer Text/neue Musik hinzugefügt wurde. Zu behaupten, dass mit dem Aufführungstext, der Partitur als Material umgegangen werden muss, klingt für mein Empfinden so, als wolle man sagen, dass das Material, was uns der Komponist und Librettist hinterlassen haben, nicht ohne Hinzufügungen für sich alleine stehen könnte, und auch das entspricht zumindest nicht meiner Lebenserfahrung.


    Ich halte solche Eingriffe durchaus für legitim und geeignet, neues Licht auf ein Werk zu werden, aber ich sehe doch einen deutlichen qualitativen Unterschied zwischen dem, was natürlich zwangsläufig bei dem In-Szene-Setzen mit einem Stück passieren muss, d.h. die Ausdeutung des Textes, die im Sprechen/Singen des Textes, in der Gestik, in der Realisierung des Bühnenbilds, etc. liegt, und aus dem Werk die jeweilige individuelle Aufführung macht, und andererseits einer bewußten Manipulation des Textes bzw. der Musik, und das letztere folgt für mich zumindest nicht zwingend aus ersterem.

  • Zitat

    Original von bachiana


    Thomas' Zitat, nicht meins. Ich würde es (ich glaube, auch in Einklang mit Erika Fischer-Lichte) etwas anders formulieren - vor allem ohne das einschränkende "nur":


    Was uns vorliegt, in Form der Partitur und des Librettos, möglicherweise deren verschiedenen Fassungen, Vorstudien des Komponisten etc., in Form unseres Wissens um die Entstehungsgeschichte und die Aufführungstradition, in Form unseres Mitdenkens und Mitrezipierens von Kontextuellem jeglicher Art, ist Material. Werk wird daraus in dem Moment der Aufführung, und zwar in jeder Aufführung neu - aufgrund der inszenatorischen Entscheidungen eines Regieteams, aber auch aufgrund der spezifischen Aufführungssituation des Abends, zu der das Publikum maßgeblich beiträgt.


    Das so zu sehen, impliziert nicht eine Entscheidung darüber, welche Teile dieses Materials (und mit obigem Hinweis auf Kontextuelles ist Material eingeschlossen, das nicht vom "Autor" stammt) ein Regisseur/Dirigent als Grundlage einer Aufführung hernimmt. Es impliziert allerdings, dass der Begriff der Werktreue zur Tautologie wird, da das Werk eben in der Aufführung je erst entsteht und also nur zu sich selbst treu sein kann.


    Grüße,
    Micha

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  • Zitat

    Original von Michael M.
    Aber allmählich bekomme ich ein schlechtes Gewissen und hoffe, dass es morgen gelingt, diesen thread wieder zu der eigentlichen Intention des thread-Starters zurückzuführen.


    Lieber Micha,


    da wären wir schon zwei gewesen, ich habe nämlich auch schon darüber nachgedacht, wie wir hier wieder die Kurve zum Thema hin bekommen. Aber es ist sehr erfreulich, dass beides, also die Frage, wie das Publikum in die Inszenierung einbezogen werden und wie der Umgang mit dem Stück selbst möglich sein kann, hier diskutiert werden soll.


    Wie ich an den letzten Postings feststellen kann, gibt es bei den vorgestellten Positionen abslolut keine Diskrepanz zu meiner eigenen Haltung, das ermutigt doch, in diesem Sinne weiterzudenken.


    Die Sorge von Thomas, hier zu weit zu gehen, kann ich ein wenig verstehen, aber wir müssen in der Diskussion auch nicht bequem sein.


    Die Oper funktioniert ein klein wenig anders, als das Schauspiel - aber natürlich würde der Oper die Radikalität eines Schleef oder Castorf sehr gut tun. Es müsste nur ein Weg gefunden werden, der der Oper adäquat ist, die 1 : 1 Umsetzung der theatralischen Mittel funktioniert meiner Meinung nach nur bedingt. Nehmen wir Schleef oder Kruse: beide rhythmisieren den Text sehr eigenwillig - das ist in der Oper so kaum möglich, nicht unmöglich, aber halt schon schwerer zu realisieren.


    Ansonsten wirklich nur ganz kurz: auch ich bin für weitestgehende Freiheit in der Assoziation, das Stück ist das Spielmaterial, das nicht sakrosankt ist, Brüche oder Ergänzungen wären da noch das harmloseste, was ich mir vorstellen kann.


    Macht Spass!

  • Liebe Alle,


    zur Frage nach dem Status des Zuschauers fiel mir als erstes eine Unterscheidung ein, die hier auch schon angesprochen wurde:


    Zitat

    Original von ThomasNorderstedt:


    Eine deutlich stärkere Aktivierung würde der Zuschauer erfahren, wenn er zum Mitmusizierenden würde. So berichtete mir ein Arbeitskollege von einem Opernbesuch in der Arena von Verona. Es wurde Nabucco gegeben. Die Zuschauer wurden aufgefordert, den Gefangenenchor nicht mitzusingen. Aber alle haben es getan! Ein ähnliches Geschehen ist bei der last night of the Proms zu erleben, wenn das Publikum ebenfalls lautstark mitsingt (ja, ich weiß, keine Oper).


    Man stelle sich vor: Es wird der Freischütz gegeben. Der Text und die Noten des Jägerchores werden auf die Bühne projiziert und der Dirigent wendet sich an das Publikum: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte singen Sie mit!“


    Hier werden ja zwei Richtungen angesprochen: einmal die gelenkte, "von der Bühne zum Publikum", zum anderen die Richtung "vom Publikum zur Bühne", die einen größeren Improvisationsspielraum beinhaltet.


    Von Micha wurden ja schon weitere Beispiele für die vom Publikum selbst initiierte Publikumsbeteiligung gebracht, mir fällt da noch die berühmt-berüchtigte "Da capo-Arie" ein, bei der die Zuschauer durch Beifallsstürme teilweise auch das mehrfache Wiederholen eines Musikstückes durchsetzten, also den dramatischen Kontext eigentlich durchbrachen.
    Also auch schon eine "Renitenz" ( ;) ) seitens des Publikums, ähnlich wie das vielstimmige "Va', pensiero" in Verona.


    Auf jeden Fall ist das ein spannendes Thema!


    :hello: Petra

  • Zitat

    Original von ThomasNorderstedt
    Man hat erkannt, dass eine Aufführung immer aus der Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern entsteht. Weil die jeweilige Aufführungskonstellation jeweils anders ist, ist die jeweilige Aufführung unwiederholbar und somit auf besondere Weise gegenwärtig.


    [...]


    Mich interessiert an dieser Theorie zurzeit vor allem der Status des Zuschauers. Seine Funktion ist nach der o. g. Theorie eine gänzlich andere als bisher. Bisher war er ein am Bühnengeschehen nicht teilnehmender, passiver Betrachter, dessen Rolle sich auf den intellektuellen Nachvollzug beschränkte. Nach der o. g. Theorie kommt dem Zuschauer eine viel bedeutendere Funktion zu: Indem er die jeweilige Aufführung mit hervorbringt, wirkt er selbst bedeutungskonstituierend. Nicht Passivität, sondern Teilhabe an der Aufführung beschreibt somit seine Rolle.


    Ein spannendes Thema, für mich auch insofern, als ich selbst - als nichtprofessioneller Chorsänger - in Konzerten auf der (Kirchen-)Bühne stehe und das Publikum vor mir habe und beobachten kann: Und da frage ich mich, ob es das überhaupt gibt: nämlich den passiven, nicht teilnehmenden, nur auf Nachvollzug beschränkten Zuschauer/Zuhörer? Selbst derjenige Opern/Theater/Konzertbesucher, der "nur" dasitzt und das Geschehen vor (oder auch neben, hinter) ihm verfolgt, ist doch in irgendeiner Weise aktiv! Ich habe jedenfalls schon oft erfahren, daß es eine ungeheure Spannung für mich selbst (als Mitwirkenden) schaffen kann, wenn ich in eine große Schar aufmerksam gespannter Gesichter schaue, von Menschen, die ernsthaft daran interessiert sind, was ich (als Teil des großen Ensembles aus Dirigent, Orchestermusikern und Chor) anbiete. Umgekehrt wirkt sich natürlich auch ein abgelenktes, unkonzentriertes, gelangweiltes Publikumsverhalten auf die Künstler aus, die dann irgendwie damit umgehen müssen, ihr Programm herunterspulen oder rebellieren oder andere Lösungen finden.


    Den passiven Zuschauer kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen; insofern ist mir der qualitative Sprung der "performativen Wende" nicht ganz klar. Besteht er nur darin, daß die Snger/Schauspieler/Musiker ihren angestammten Platz auf der Bühne bzw. im Orchestergraben verlassen und dann räumlich in eine andere Art der Interaktion mit dem Publikum eintreten oder geschieht da noch anderes?


    Nachtrag: Ich bemerke gerade, daß ich nicht genau genug gelesen und das Thema auf Konzerte erweitert habe: Wobei die mich interessierende Frage wäre, ob sich Erfahrungen mit Opernaufführungen generalisieren ließen (Aktivierung des Publikums in Symphoniekonzerten beispielsweise)?

  • Also Werktreue...
    ...ist Quatsch.
    Das Werk entsteht immer im Kopf des Betrachters. Was der Autor/Komponist vorgibt, ist eine Anregung, nicht eine geschlossene, unveränderliche Einheit.
    Obwohl z.B. Alviano und ich in sehr vielen Punkten übereinstimmen und beide z.B. Wagners "Ring" schätzen, wage ich zu behaupten, daß Alviano den "Ring" völlig anders sieht als ich. Es gibt lediglich eine gemeinsame Schnittmenge von Interpretationen - und auch bei diesen ist die Frage, ob es wirklich gleiche Interpretationen sind, oder ob wir nur von unterschiedlichen Standpunkten aus zu gleichen Aussagen kommen. Da die Begründung aber eine andere wäre, sind es in Wirklichkeit nicht gleiche Aussagen.


    Wenn ein Interpret an ein Werk herangeht, dann geschieht dies aus seiner persönlichen Sicht.
    Der Interpret kann gar nicht anders.
    "Werktreue" besteht lediglich darin, dem Werk gegenüber treu zu sein, es also genau zu kennen und eine bewußte Entscheidung für den Interpretationsansatz zu treffen.


    Die meisten, die immer wieder "Werktreue" einfordern, meinen indessen nicht "Werktreue", sondern Bedienung des Publikumsgeschmacks.
    Was meiner Meinung nach nicht werktreu ist sondern werkfeindlich.
    Denn auch der Publikumsgeschmack hat sich längst gewandelt, wir hören Wagner und Verdi und Puccini etc. nicht mehr mit den Ohren des den Komponisten zeitgenössischen Publikums.
    Wir sind Geprägte unserer Gegenwart.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Gurnemanz


    Den passiven Zuschauer kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen.


    Ich schon, und er ist gar nicht so selten, wie wir aus vielen Romanen und Filmen wissen. Er schläft nämlich.


    Wenn er dabei allerdings schnarcht, greift er doch wieder in das Geschehen ein.


    Trotzdem stelle ich mir gerade vor, ob es nicht eine hübsche Idee wäre, bei einer Inszenierung des ZAR UND ZIMMERMANN das Publikum mitsingen zu lassen:


    "Heil sei der Tag an welchem Du bei uns erschie-hie-nen!"


    Die dabei entstehende Kakophonie wäre sogar werkgerechter als das rhythmische Klatschen des Publikums beim wiener Neujahrskonzert. Das aber ist natürlich auch keine Oper.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Nur kurz als Antwort zu Jacques Rideamus´ Beitrag, um Missverständnissen vorzubeugen (ich habe vor, noch offene Fragen aufzugreifen, habe im Moment aber nur wenig Zeit):


    Im Sinne der o. g. performativen Sichtweise ist ein Zuschauer, der schläft, überhaupt nicht passiv. Im Gegenteil greift er massiv in das Aufführungsereignis ein. Probehalber stelle man sich vor, das gesamte Publikum würde einschlafen. Dieser Vorgang hätte massiven Einfluss auf die Aufführung. Die Akteure auf der Bühne würden auf das schlafende Publikum reagieren. Die Aufführung würde massiv gestört.


    Viele Grüße


    Thomas

  • Ich bin ein großer Anhänger des gepflegten Theaterschlafes. Diese Neigung stammt noch aus einer Zeit, in der ich beruflich ständig Premieren besuchen musste, wobei meist die Gespräche hinterher von erheblich größerer Bedeutung waren als die Aufführung selbst.


    Es ist eine wunderbare Weise, sich ein Werk neu anzueignen, wenn man es, während der Aufführung in den Halb- bis Dreiviertelschlaf, dieses Zwischenreich zwischen Wachen und Träumen, versinkend, quasi weiterträumt. Oft bin ich tatsächlich aus solchen Theater-Träumen erwacht und musste feststellen, dass das Stück auf der Bühne viel langweiliger weitergegangen war als in meinem Traum. Auch das ist eine, wenn auch schwer mit Anderen zu teilende, Möglichkeit, das Werk im Kopfe des Betrachters neu entstehen zu lassen. Solange der Schläfer nicht schnarcht, halte ich sie für absolut zulässig.


    Ich weiß nicht mehr, von wem das Zitat stammt, aber ich glaube, es war ein zeitgenössischer Regisseur (Tabori vielleicht?):
    "Im Theater schlafen heißt dem Regisseur vertrauen."


    Grüße,
    Micha

  • Wenn es um Kinder geht, ist es gang und gäbe oder mindestnes nciht unüblich (hier in Frankreich....), das Publikum mit in die Aufführungen einzubeziehen, um Interesse zu wecken, wachzuhalten, anzuregen.
    Warum sollte man das nciht auch mit einem erwachsenen Publikum versuchen?
    Um die purisitschen Ästehten unter den Opernbesuchern nicht zu verärgern, könnte man z.B. ausgewiesene Werkstatt-Workshops anbieten, in denen es Oper zum Anfassen gibt.
    Dort könnte man dann die Zuschauer, so sie möchten, ins Geschehen einbeziehen.


    Aktives Mitgestalten setzt ganz andere Energien frei als reines Zuhören.
    Ab und an wäre das sciher ene sehr interessante Erfahrung.
    Dei ich allerdings als solche ankündigen udn nciht zwangsverordnen würde, da man die Hemmschwelllen der Menschen respektieren sollte, wenn es um das sich darstellen und sich produzieren auf offenen Bühnen geht.


    Ansonsten sehe ich das ähnlich wie Edwin: jede Aufführung ist zwangsläufig eine Interpretation und kann niemals und nimmer den vielbeschworenen Geist der Ur-Idee 1 zu 1 treffen. Das ist ausgeschlossen.
    Und Jeder, der eine Aufführung mit eigenen Augen und Ohren verfolgt, ist dann wieder ein Interpret des Interpretierten. Passiv ist also niemand. Auch nciht der, der schläft.


    F.Q.

  • Lieber Michael M.

    Zitat

    "Im Theater schlafen heißt dem Regisseur vertrauen."


    Sehr gut! Das erklärt, weshalb das Regietheater bei manchen so unbeliebt ist.
    Sie bekommen einfach zuwenig Schlaf...! :hahahaha:
    :hello:

    ...

  • Ich möchte nochmal kurz auf den Baseler "Orfeo" zurückkommen - der entspricht wohl am ehesten dem, was Thomas intendiert hat. Diese Hochzeitsgesellschaft (also die Opernbesucher/innen) nimmt richtig aktiv an der Handlung teil. Die Leute werden mit Sekt versorgt, Euridice plaudert mit einigen, zum Hochzeitsfoto werden auch einzelne Zuschauer/innen mit auf die Treppe gebeten und dort freundlich begrüsst - und das beste ist: die Leute machen mit, einige etwas schüchtern, aber mit der Spass bei der Sache.


    Ein zweites Element in dieser Inszenierung, ist die Arbeit mit der Videokamera: die ganze Feierlichkeit wird auf Videowände übertragen. Und so kann es passieren, dass man sich plötzlich, riesenhaft vergrössert, selbst auf der Leinwand entdeckt und so Teil der Inszenierung wird.

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  • Es gibt natürlich auch Stücke, in denen der Komponist das Miteinbeziehen des Publikums vorschreibt. Seinen Ursprung mag das in der alten Praxis haben, dass die Choräle der Bach-Passionen vom "Volk" mitgesungen wurden.
    Benjamin Britten hat solche Publikumsbeteiligung in seiner Kantate "St. Nicholas" vorgesehen. In seiner Kinderoper "The little Sweep" soll das Publikum die "Zwischenspiele" mitsingen. Die Probe dafür ist in den ersten Teil des Stücks, "Let's make an Opera" integriert, der (etwas naiv) zeigt, wie eine Oper entsteht.
    Auch in der Kirchenoper "Noye's Fludde" soll das Publikum die Choräle mitsingen.
    Eine Art Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum intendiert auch Leonard Bernstein in "Mass": Am Ende sollen einander alle, ausgehend vom Zelebranten, die Hand reichen. Was übrigens etwas peinlich wirkt...


    Brittens Idee hingegen hat diverse Nachahmer gefunden, unter ihnen Jonathan Harvey. In seiner Kirchenoper "Passion and Resurrection" werden ebenfalls einige Teile vom Publikum gesungen. Das Werk steht heuer beim Carinthischen Sommer auf dem Programm. Vor jeder Aufführung gibt es "Publikumsproben" mit Erwin Ortner.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Michael M.
    Ich bin ein großer Anhänger des gepflegten Theaterschlafes.


    Jetzt verstehe ich auch deien Abneigung gegen die Musik Richard Wagners: Wagner ist für Schläfer oft viel zu laut!


    :hello: :hello: :hello:


    Viele Grüße aus dem Rheinland


    Gerd

  • Ich höre gerade "Carmen" und da bieten sich doch einige zuschaueraktivierende Maßnahmen an: So könnte etwa während des Entr'actes zum vierten Akt und des darauffolgenden Chores dem Publikum textgetreu Fächer, Orangen, Wein und Wasser feilgeboten werden. Das ist bestimmt eh durstig, und Pause gibt es zwischen drittem und viertem Akt in der Regel keine. So hat das Opernhaus auch einen zusätzlichen Gewinn und spart sich auch die Statisterie, da das reale Publikum gleichzeitig das Publikum beim Stierkampf darstellt. :D Natürlich muss der Chor irgendwo im Publikumsraum Aufstellung genommen haben und auch der finale Showdown zwischen Carmen und Don José muss in einer Loge (die Carmen als Geliebte des heroischen Toreros selbstverständlich hat!) geschehen, denn auf der Bühne findet ja der Stierkampf statt!


    Ich selbst habe bei einer Aufführung von "Orphée aux enfers erlebt, dass Flugblätter mit Gerüchten über dem Publikum ausgegossen wurden - und natürlich gab es ein Gerangel unter den Zuschauern, denn jeder wollte eines ergattern, um die neuesten Neuigkeiten aus Olymp und Hades zu erfahren... :D


    :hello:
    Martin

  • Zitat

    Original von Philhellene
    Ich höre gerade "Carmen" und da bieten sich doch einige zuschaueraktivierende Maßnahmen an: So könnte etwa während des Entr'actes zum vierten Akt und des darauffolgenden Chores dem Publikum textgetreu Fächer, Orangen, Wein und Wasser feilgeboten werden. Das ist bestimmt eh durstig, und Pause gibt es zwischen drittem und viertem Akt in der Regel keine. So hat das Opernhaus auch einen zusätzlichen Gewinn und


    Sehr schöne Idee mit Carmen, besonders das mit Stierkampf. Ich meine so etwas ähnliches (aber bei einem anderen Stück) schonmal erlebt zu haben s.u.


    Zitat


    ....


    Ich selbst habe bei einer Aufführung von "Orphée aux enfers erlebt, dass Flugblätter mit Gerüchten über dem Publikum ausgegossen wurden - und natürlich gab es ein Gerangel unter den Zuschauern, denn jeder wollte eines ergattern, um die neuesten Neuigkeiten aus Olymp und Hades zu erfahren... :D


    Leider erinnere ich mich nicht mehr genau, bei welchem Stück das war (keine Oper, vermutlich). Aber ich habe hier im lokalen Theater mehrmals ähnliche Dinge erlebt. Einmal wurde eine Verwandlung des Theaters in ein Kino? suggeriert, mit Eisverkäuferinnen, die plötzlich auftauchten. Einmal gab es eine Aufführung von Wedekinds "Lulu", bei der in der Pause männliche Zuschauer (darunter natürlich auch ich nichtsahnender Depp) betreffs ihrer Sicht der Hauptfigur interviewt wurden, und das wurde dann zu Beginn der zweiten Hälfte vom Rekorder abgespielt.
    (Noch etwas ähnliches, aber vielleicht war das das, was ich oben mit Kino meinte, geschah in von Horvaths "Kasimir und Karoline", das teils auf einem Jahrmarkt spielt, wobei auch das Parkett einbezogen wurde.)


    Keine direkte Integration der Zuschauer, aber in Konwitschnys Inszenierung des Don Giovanni an der Komischen Oper Berlin sind zwei von drei Ensembles im ersten Finale abseits der Bühne, irgendwo am Rande Zuschauerraums oder sogar auf dem ersten Balkon verteilt.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)