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Ich weiß kauim wie ich den Bogen zum eigentlichen Thema finden soll. Vielleicht gelingt es, wenn wir mal Stärken gegen Schwächen der beiden Dirigenten vergleichen, musikalische meine ich.
Ich versuche es mal, auch wenn es in beiden Fällen schwierig wird, sie rein musikalisch zu bewerten. Immerhin hatten sie eines gemein: Sie waren die Posterboys der klassischen Musik. Für die Öffentlichkeit und die Industrie ... die Rolling Stones und die Beatles am Taktstock, sozusagen. Einige Jahre nahmen sie auch noch beim gleichen Label auf, was natürlich Einfluss auf die Karriere- und Aufnahmeentscheidungen des jeweils anderen hatte. Beispiel: Bernsteins Aufnahme von Mahler 9 mit den Berlinern. War es nur eine großzügige Geste Karajans, seinen Widersacher (oder den einzigen, den er selbst für ebenbürtig hielt?) ans Pult zu lassen? Oder sollte schlicht das Interesse für die kommende, zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon geplante Mahler 9-Aufnahme von Karajan gewecht werden?
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Auch hier schließe ich mich an: Karajan trat hinter das Werk zurück, Bernstein davor
Helmut liefert einen guten Ansatz. Ich würde sagen, dass beide vor das Werk getreten sind. Das machen Interpreten eigentlich immer. Manche agieren als Anwalt des Komponisten, andere als Co-Komponisten. Und auch hier muss ich sagen, dass auf K. und B. letzteres zutrifft. Beide haben viele Werke in eine Form gegossen, die ihrem ästhetischen Ideal entspricht. Bernstein hat sein Ideal nur schon wesentlich früher gefunden. Seine extrovertierte und emotionale Art ist bei den frühen Aufnahmen mit den New Yorkern schon zu hören.
Karajan hat erst im Laufe der Zeit sein Ideal gefunden. Frühe EMI-Aufnahmen erinnern mich an die Art, wie Wand mit den Kölnern oder NDRSO dirigiert hat. Also eher in Richtung Partiturwiedergabe, ohne Einfärbungen, weil er noch nicht weiß, wohin er will.
Auch in den ersten Jahren nachdem Karajan die Berliner übernommen hat, höre ich noch nichts vom spezifischen Karajan-Sound, der die Ecken und Kanten weichspült, der zugunsten des langen Bogens auf kurzfristige dynamische Effekte verzichtet. Erst in den späten 60er- und den 70er-Jahren kommt der Weichspüler ins Spiel. Man hört, ob Karajan hinterm Pult steht ... so wie man bei Bernstein auch hört, dass Lennie dirigiert.
Während Karajan also versuchte, Bach oder Vivladi in sein Klangideal zu pressen, und ihnen damit einen symphonischen Anstrich zu verpassen versuchte, der nicht in der Partitur zu finden ist, hat Bernstein etwa Tschaikowskij oder Schostakowitsch mahlerisiert.
Beide haben dabei den Bogen überspannt, herausgekommen sind Aufnamen/Interpretationen, die mit der jeweiligen Partitur nicht mehr viel gemein haben. Allerdings entsprach dies ihrem Ideal eines Interpreten, dessen Aufgabe es ja gerade ist, seine Sichtweise zu vermitteln.
In der Bewertung kommt es darauf an, was der Hörer subjektiv von den Werken erwartet. Ich finde es spannend, Aufnahmen beider Dirigenten zu vergleichen (Mahler 9). Keiner von beiden konnte für sich in Anspruch nehmen, eine alleingültige Sichtweise vorzutragen. Die gibt es sowieso nicht, sonst müssten wir ja alle unsere CD- und Plattensammlungen drastisch reduzieren.
Um es auf Schlagwörter zu reduzieren, hat Bernstein auf den kurzfristigen Effekt gesetzt und dabei hin und wieder den roten Faden verloren. Karajan hat diesen Faden gesucht und das Beiwerk links und rechts liegen gelassen hat. Dabei hat er sich aber manchmal auch auf die falsche Fährte führen lassen.
Beide waren übrigens in der Lage, ihre ästhetischen Vorstellungen hervorragend durchzusetzen, bei allen Orchestern, die sie (vor allem im Karriereherbst) dirigiert haben. Mein Urteil wäre deshalb eher Bernstein UND Karajan als Bernstein VERSUS Karajan.