Es war mir schon bewusst, dass sie existiert. Ich habe sie auch wahrzunehmen versucht, mich aber nur so wie mit vielen anderen befasst, sie als eine unter mehreren (durchaus auch Liebenswerten) betrachtet. Wenn ich ihr begegnet bin, habe ich mich teilweise betören lassen von ihr, konnte aber nicht umhin, eigene Vorurteile ihr gegenüber immer wieder aufzuwärmen. Nicht zuletzt deswegen war ich bis vor kurzem nicht wirklich bereit, mich dem Geheimnis ihrer einmaligen Größe, ihrer Pracht und ihrer Schönheit im Ganzen zu öffnen. Ich musste erst einen langen Weg gehen, um frei zu sein für sie – frei vom Ballast großer Zeiten, wertvoller Erfahrungen und Lernprozesse, frei von Irrwegen, die mich von ihr noch mehr entfernten, frei vor allem von jenen Vorurteilen, frei von den Scheuklappen jeglicher Erwartungshaltung.
Und auf einmal stand sie da, in ihrer prachtvollen, herrlichen Erscheinung, in voller Blüte, und ich war umfangen, war verzaubert, war völlig hin und weg, mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Meine Liebe zu ihr brach gleich einem apokalyptischen Tor auf, und ich trat nicht ein in ihre Welt, nein, ich ließ mich hineinfallen, ich ließ mich von ihrer Kraft, ihrer Geborgenheit, auch von ihren Brüchen, ihren Zweifeln forttragen, ganz weit fort, und doch vielleicht gar nicht weit fort, sondern viel näher zu mir selbst hin als ich es mir - selbst jetzt - wirklich zuzugestehen erlaubte. Sie nahm mich unendlich herzlich und beseelt auf, vermittelte mir völlig neue, nie gekannte Geborgenheit, offenbarte mir all das, was ich bisher zu negieren gewohnt war, als auch ihren Organismus ganz wesentlich prägenden Teil ihrer einmaligen Persönlichkeit. Ich ließ mich umfangen von ihr und fühlte mich doch unendlich frei dabei, erlebte die gemeinsamen Stunden wie einen Rausch, einen alles überwältigenden Sinnestaumel des Seins.
Es schien, als hätte ich genau diese meine 45 Lebensjahre benötigt, offen und frei, bereit und gespannt zu sein darauf, mich hineinfallen zu lassen - in die Welt der Symphonien von Anton Bruckner.
Die musikalische Sozialisation auszuklammern war mir dennoch nicht möglich. Sie brachte mich (das gebe ich offen zu, auch wenn es notwendig war, mich von ihr zu lösen, um mich dieser Liebe unbefangen hingeben zu können) ja erst zu jenem Tor, durch das durchzugehen mir beschieden war.
Musikalisch aufgewachsen in der Welt zwischen Wiener Musikverein, Konzerthaus und Staatsoper, fürs Leben fasziniert vom Klangbild der Wiener Philharmoniker, unvergesslich intensiv in der Studentenzeit die Direktionsära Drese/Abbado als Stehplatzbesucher mitgelebt habend, wurde mir über viele Jahre hinweg Gustav Mahler zum wesentlichsten Komponisten. Beethoven, Brennpunkt des 18jährigen, trat in mir etwas zurück, Mozart und Schubert sind immer da, kommen auch immer näher, je älter ich werde. Bruckner – das Vorurteil! – nahm ich als „weniger brüchigen Mahler“ wahr. Über viele Jahre hatte ich Mahlers Musik, vor allem die Symphonien, in mir aufgesogen, hatte sich dieser Sog zu einer Sucht entwickelt, sicher auch und vor allem bedingt durch den persönlichen Lebensweg, der ähnlich der Musik Mahlers viele abrupte Brüche beinhaltete. Ich habe Mahler-Konzerte besucht, Mahler-Radioübertragungen gehört, Mahler-Fernsehaufzeichnungen gesehen, Mahler-Aufnahmen verglichen – und irgendwann war der Bogen überspannt, ich konnte die Musik von Gustav Mahler nicht mehr hören und hörte sie, da ich süchtig war, doch immer weiter. Mich faszinierten die mir bis dahin so nahen Brüche seiner Musik nicht mehr, sie waren mir schon viel zu selbstverständlich, zu geläufig, ich beobachtete die Interpretationsunterschiede nur mehr wie ein alle Emotion ausschaltender wissenschaftlicher Detailforscher, nahm selbst die Offenbarung der wirklich großen Momente und Interpretationen nur mehr widerwillig wahr. Und dann war mein Gustav Mahler Fieber erloschen, ich konnte seine Musik gar nicht mehr hören.
Als Süchtiger habe ich nach einem Ersatz gesucht, musikalisch sozialisiert wie ich nun mal bin – Wiener Philharmoniker, Claudio Abbado, Leonard Bernstein, Nikolaus Harnoncourt, Großer Musikvereinsaal…
Claudio Abbado hat mit den Wiener Philharmonikern zwischen 1990 und 1996 die Symphonien 1, 4, 5, 7, und 9 von Anton Bruckner aufgenommen. Diese Aufnahmen (die Vierte kannte ich schon von früher), einem Impuls folgend gekauft, öffneten mir sehr schnell jenes oben erwähnte Tor. Da ich in den letzten Jahren mit höchstem Respekt und großem persönlichen Gewinn die Arbeit von Nikolaus Harnoncourt versucht habe mitzuverfolgen, lockten mich als Ergänzung, wohl wissend, dass es, auch wenn es teilweise die Wiener Philharmoniker sind, ein „anderes“ Hören geben wird, dessen Aufnahmen der Symphonien 3, 4, 5, 7, 8 und 9. Was fehlte, waren nun noch die Symphonien 2 und 6. Animiert durch Einträge im Tamino Klassikforum, entschied ich mich für die Aufnahme der 2. Symphonie mit Carlo Maria Giulini und den Wiener Symphonikern. Auf der Suche nach einer „Sechsten“ stieß ich, gelegentlich wieder mal die Homepage der Wiener Philharmoniker studierend, auf einen Nachruf auf den verstorbenen Dirigenten Horst Stein, der interessanterweise ausgerechnet die Zweite und die Sechste mit den Wiener Philharmonikern aufgenommen hat. Die Achte (Harnoncourts Aufnahme stammt aus Berlin) wollte ich auch noch mit den Wiener Philharmonikern. Hier musste es unbedingt die Aufnahme mit Giulini sein, die ich noch als Doppel LP in sehr guter Erinnerung hatte. Und zum Vergleich legte ich mir dann auch Karajans Aufnahme mit diesem Orchester vom November 1988 zu. Von der „Dritten“ steht mir auch eine Einspielung in einer Fassung für zwei Klaviere zur Verfügung, von der „Neunten“ die CD mit Leonard Bernstein – ich war damals im Konzert und werde dieses bis zum Alzheimer wohl nie vergessen.
Ich tauchte mit diesen Aufnahmen ein in die symphonische Welt Anton Bruckners, und sie nahm mich mit, ich durfte die Liebe zu dieser Musik erleben, voll und ganz, zunächst versuchend, alles Wissen, alle Erfahrung, allen Intellekt möglichst auszuschalten, mich einfach diesem „Meteorit“ (Nikolaus Harnoncourt) hinzugeben.
Dem inneren Zwang, mich vom faszinierend ziellosen Hören quer durch die Symphoniesätze zumindest für einmal zu lösen, habe ich, doch soweit sozialisiert, auch darauf sehr neugierig zu bleiben, nach einigen Wochen nachgegeben, um zur Konvention gezielten chronologischen und vergleichenden Hörens unter Verwendung von Reclams Konzertführer und den Beihefttexten zu den CD-Veröffentlichungen zurückzukehren, nicht allerdings unter Zuhilfenahmen von Partituren und auch ohne Schwerpunktsetzung auf die Fragen der „richtigen Fassungen“. (Vielleicht habe ich später mal Lust auch darauf.)

Für mich ist bereits Anton Bruckners (ich vergegenwärtige mir vor Beginn des Hörens seiner Symphonien – zwischen dem 17.1. und dem 10.2.2009 – und dem Versuch der Beschreibung meiner persönlichen Höreindrücke noch einmal dessen Lebensdaten 1824 bis 1896) 1. Symphonie c-moll, 1865/66 („Linzer“ Fassung) entstanden, etwa 50 Minuten lang, uraufgeführt 1868 in Linz, in der Aufnahme mit Claudio Abbado und den Wiener Philharmonikern (DGG CD 453 415-2, aufgenommen live im Großen Musikvereinssaal im Jänner 1996) eine totale Offenbarung, musikalisch und klanglich. Mit 41, 42 Jahren hat Bruckner diese seine von ihm offiziell als „Erste“ anerkannte Symphonie („´s kecke Beserl“) komponiert. Mich überwältigt diese großartige, eigenständige Symphonik, die sehr ideenreiche Orchesterbehandlung und wie die großen Ausbrüche in der Musik eingebettet erscheinen, sofort. Ist diese Symphonie nicht noch immer nur ein Geheimtipp, wird sie nicht nach wie vor etwas unterschätzt? Der erste Satz entwickelt sich sehr deutlich in der Sonatenform, das erste Thema, ein Marsch, zieht recht entschieden los, brutaler werden wir (Blick in die Zukunft) fast vierzig Jahre später mit dem Beginn von Mahlers „Sechster“ losmarschieren und in der historischen Wirklichkeit jenseits der Musik mit entsetzlichen Folgen ab 1914 und ab 1939. Gewaltig ist – zurück zur Musik – das dritte Thema. Der zweite Satz beginnt grüblerisch, auch hier sind Ausbrüche eingebettet. Im energischen Scherzo fällt das naturhaft lyrische Trio auf. Das Finale wirkt äußerlicher als die bisherigen Sätze (teilweise wie „Theaterdonner“), man hört aber schon die für Bruckner so typischen Steigerungen. Abbado und die Wiener bieten erlesenen Klangluxus (wie eine „Orchesterorgel“), Abbado lässt die Musik fließen. Ich habe den Eindruck, ich bin mittendrin in dieser herrlichen Welt. Es ist eine Aufnahme, die ich immer wieder hören kann.
(Cover Horst Stein weder bei amazon noch bei jpc verfügbar, es ist ähnlich gestaltet dem Cover zu Steins Aufnahme der 6. Symphonie)
Die 2. Symphonie c-moll entstand 1871/72, sie wurde 1873 in Wien uraufgeführt und dauert knapp unter eine Stunde lang. Horst Stein und die Wiener Philharmoniker (CD DECCA Eloquence 442 8557, aufgenommen Dezember 1973 im Wiener Sofiensaal) spielen die Haas-Edition, Carlo Maria Giulini und die Wiener Symphoniker (CD Testament SBT 1210, Dezember 1974 im Musikverein) Nowak (1877). Der Konzertführer erinnert mich daran, dass hier erstmals der „Urnebel“ eine Bruckner-Symphonie eröffnet. Ich gebe mich ganz den großen Steigerungen und Generalpausen im Sonatensatz des ersten Satzes hin, auffallend ist das vierte Thema (Holzbläser!). Der zweite Satz, ein Andante, wirkt rhapsodisch, verinnerlicht-romantisch. Wieder beginnt das Scherzo energisch, reizvolle Kontraste sind aneinander geblockt. Das Trio ist ruhiger gehalten. Im Finale fallen erneut die großen Steigerungen auf. Stimmungen sind gegeneinander gestellt, laut Lärmendes neben Lyrischerem. Horst Steins Aufnahme wirkt auf mich leichter, zügiger, aber auch etwas „distanzierter“, souverän-routiniert, während Giulini das Werk insgesamt schwergewichtiger deutet. Am deutlichsten ist dies beim Trio im 3. Satz zu hören. Spätestens nach dieser 2. Symphonie bin ich schon fast süchtig auf diese großen Steigerungen in der Musik, und ich werde mit den folgenden Werken alles andere als enttäuscht werden…


Die 3. Symphonie d-moll (1872/73, Umarbeitung 1874, 1876/77, Uraufführung Dezember 1877 in Wien – ein eklatanter Misserfolg, dann weitere Umarbeitungen, Richard Wagner gewidmet), von Nikolaus Harnoncourt mit dem Concertgebouw Orchester Amsterdam in Amsterdam im Dezember 1994 in der Leopold Nowak Editionsfassung (1877) aufgenommen, ca. 55 Minuten lang, feingliedrig und detailverliebt, die Kontraste deutlich hervorhebend (hier ist kein Genießen möglich, man ist immer bereit zum Sprung, eine fordernde Interpretation), bietet wieder den großen Sonatensatz, dann einen erneut auf mich rhapsodisch wirkenden zweiten Satz, ein Scherzo „mit Drive“ (zumindest in dieser Harnoncourt-Aufnahme – das ist der Satz in dieser Symphonie und Aufnahme, den ich sofort noch einmal hören möchte, eine großartige Orchesterleistung, voll differenzierter Klangkultur – gilt aber für die ganze Aufnahme!) und mit einem Trio, das „in Oberösterreich am Land spielt“ und ein Finale, bei dem man dann schon ganz „drin“ ist in dieser kontrastiven Mischung. Toll wirkt der Triumph des ersten Themas aus dem 1. Satz am Ende. Gustav Mahler hat die Sätze 1 bis 3 für zwei Klaviere bearbeitet, Rudolf Krzyzanowski das Finale. Das Klavierduo Sontraud Speidel und Evelinde Trenkner nahm diese Fassung im Juni 1994 in der Fürstlichen Reitbahn Arolsen mit zwei Steinway Klavieren auf (CD Musikproduktion Dabringhaus und Grimm MDG 330 0591-2). Die Sätze 1 und 2 spielen die beiden langsamer als Harnoncourt, die Sätze 3 und 4 schneller. Insgesamt benötigen sie an die 59 Minuten. Man hört hier die Orchestrierung im inneren Ohr mit. Die Steigerungen kommen auch mit zwei Klavieren großartig zur Geltung. Vor allem im zweiten Satz gelingt den Damen eine sehr innige Gestaltung der Musik.


Anton Bruckners 4. Symphonie Es-Dur, die „Romantische“ (1874, 2. Fassung 1878, rev. 1879/80, uraufgeführt 1881 in Wien, fast 70 Minuten lang) ist neben der „Siebenten“ wohl die am leichtesten Zugängliche, nicht zuletzt wegen der markanten Themen. Claudio Abbado begann mit dieser Symphonie seinen leider nicht vollendeten Bruckner-Zyklus mit den Wiener Philharmonikern (CD DGG 431 719-2, Oktober 1990, Musikverein) – ein herrliches, vollblütiges Wiener Philharmonisches Klangbild hüllt mich ein, angenehm weiche Streicher lassen die Musik fließen. Das Hornthema im 1. Satz, die Steigerungen wieder, der bei Abbado nahezu verklärte Marsch des 2. Satzes (wie aus einer anderen Welt!), das berühmte Jagdscherzo (den Trio-Beginn hat Mahler für seine 1. Symphonie wörtlich zitiert) und der 22 Minuten lange Finalsatz mit seinem gewaltigen Hauptthema – Musik wie aus einem Guss, wieder musikalisch wie interpretatorisch. Abbado wählte genauso wie Nikolaus Harnoncourt (Concertgebouw Amsterdam, April 1997, CD Elatus Warner 2564 60129-2) die Fassung von 1879/80. Bei Harnoncourt fällt das schlankere Klangbild auf, er dirigiert direkter, aufgeweckter, kontrastiver. Das Trio im 3. Satz wird bei Harnoncourt zu einem reizvollen Bauerntanz. Harnoncourt ist sechs Minuten schneller als Abbado.


Die 5. Symphonie B-Dur (1875-1878, Uraufführung 1894 in Graz, Bruckner konnte dieser Aufführung leider krankheitsbedingt nicht beiwohnen) ist ein kontrapunktisches Meisterwerk. Trotzdem ist es immer „musikalische“ symphonische Musik, unverkennbar Bruckner. Alle Sätze sind ehrgeizig durchstrukturiert. Zu dem „üblichen“ Aufbau der Sätze kommt dieses unglaublich differenzierte kontrapunktische Geflecht. Hier lohnt es, genau aufzupassen. Die Themenverarbeitung geht durch alle Sätze. Beim Anfang des Finalsatzes denkt man an Beethovens „Neunte“ – und überhaupt dieses Finale mit der Doppelfuge in der Durchführung! Claudio Abbados 72 Minuten lange Liveaufnahme mit den Wiener Philharmonikern (DGG CD 445 879-2) entstand im Dezember 1993 im Musikverein. Wieder nimmt mich der satte, vollblütige Orchesterklang total gefangen, wie in den anderen Aufnahmen dieses Zyklus auch. Zumal der Streicherchor, von prachtvoller Größe! Abbado achtet auf den großen Fluss der Musik, in allen seinen Bruckner-Symphonieaufnahmen. Nikolaus Harnoncourt (CD RCA Red Seal 82876 60749-2, aufgenommen im Juni 2004 mit den Wiener Philharmonikern) offenbart lieber die große Zerrissenheit, Gespaltenheit der Musik. Blöcke prallen bei ihm aufeinander, extreme Kontraste, schroffe Zerklüftungen, einsame Oasen. Das flexible Orchester folgt hier wie dort engagiert und klangschön. Beim zweiten Satz assoziiert man Mozarts Requiem, im Scherzo gehen die diversen Tänze wie bei Mahler extrem angespannt ineinander über (zumal bei Harnoncourt). Bei Abbado kann man sich zurücklehnen und „sein“, bei Abbado „steht man ständig unter Strom“. Beides hat seinen Reiz. Bei mir kommt es auf die Tagesverfassung an, welche Aufnahme ich bevorzuge. Hochinteressant sind die auf der zweiten CD bei Harnoncourt enthaltenen Probenausschnitte anzuhören. Die „Fünfte“ – ein in jeder Hinsicht herausragendes Werk!

Anton Bruckner komponierte seine 6. Symphonie A-Dur von 1879 bis 1881. Die Mittelsätze führten die Wiener Philharmoniker 1883 auf, das ganze Werk wurde aber erst 1899 in einer gekürzten Fassung unter Gustav Mahlers Leitung in Wien uraufgeführt. Horst Steins 55 Minuten lange Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern entstand im November 1972 im Wiener Sofiensaal (CD Decca Eloquence 476 2745). Die Sätze 1 bis 3 bieten hier weniger isolierte „Granitblöcke“, mehr fließende Musik. Bei der Durchführung im ersten Satz assoziiere ich Wellen im Fluss. Sehr schön kommen die Streicher der Wiener Philharmoniker im 2. Satz zur Geltung. Das ungewöhnliche Trio im Scherzo zitiert das erste Thema aus der 5. Symphonie. (Das kommt vom chronologischen Hören – und es schadet ja nicht.) Im Finale „beißen wir wieder auf Granit“ – mit voller Urgewalt! Hat das etwas mit Krieg und Frieden zu tun? Mir kommt das Finale aus Mahlers 7. Symphonie in den Sinn, aber auch Isoldes Liebestod aus „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner.



Der nächste absolute Klassiker neben der „Vierten“, die 7. Symphonie E-Dur (1881-83, uraufgeführt 1884 in Leipzig, Ludwig II. gewidmet), bei Abbado knapp 65 Minuten lang, bei Karajan 66 und bei Harnoncourt knapp über 60 Minuten, ist, wie ich finde, ein ganz besonders inspiriertes Werk, fließende Musik, Bruckner sprüht nur so vor vielfach lyrischen Ideen (man beachte etwa das Trio im 3. Satz!). Im zweiten und vierten Satz, so lehren es mich auch die Beipacktexte, passe ich auf die Wagner-Tuben besonders auf. Ach dieser zweite Satz – unendlich schön! Abbado und Karajan können es nicht lassen und klatschen den Beckenschlag über den Höhepunkt, Harnoncourt verzichtet darauf. Claudio Abbado und die Wiener Philharmoniker bieten wieder satten, vollen, üppigen Klangluxus (DGG CD 437 518-2, Musikverein, März und April 1992), aber die große Überraschung für mich bringt der Hörvergleich mit Herbert von Karajans letzter Aufnahme (DGG CD 439 037-2, Musikverein, April 1989, Wiener Philharmoniker): Hier spüre ich das „Herzblut“ noch mehr, diese wunderschöne Musik wird herrlich ausgekostet. Karajans Orchesterklang ist sogar transparenter als bei Abbado, Abbado wirkt plötzlich – was die „Siebente“ betrifft – „dickflüssiger“, fast zu üppig, als hätte man die Streicher mit Honig eingeschmiert. Nur das Scherzo empfinde ich schneller als es Karajan anbietet. Der Sound gefällt mir bei Karajan besser als bei Abbado. Auch die dritte mir zur Verfügung stehende Aufnahme wurde mit den Wiener Philharmonikern eingespielt. Nikolaus Harnoncourts Interpretation entstand im Juni 1999 live im Musikverein (CD Teldec 3984-24488-2). Harnoncourts Ansatz, wie immer: transparenter, differenzierter, schärfer, „unfreundlicher“, „distanzierter“, strenger, in den Details geschärft, auch im Klangbild nicht so voll wie bei Karajan und Abbado. Sehr schön herausgearbeitet – das hört man umso deutlicher – sind die „lichten Momente“. Interessant ist für mich, dass der 4. Satz in Harnoncourts Interpretation am geschlossensten wirkt. Sicher hatte das Orchester mit Harnoncourt die aufwendigste und detailreichste Probenarbeit, das hört man ganz deutlich. Ich habe zur Zeit der Aufnahme dieser Symphonie unter Harnoncourt die Konzertübertragung im Radio gehört und empfand diese damals, spontan überwältigt., ohne sofortigen Vergleich, näher dran an Karajan als es heute mein Höreindruck ist. Und der lässt alle drei Aufnahmen als für mich hochinteressante, große Interpretationen gelten.



(Giulini: Cover einer späteren Auflage)
Bei der 8. Symphonie c-moll (1884-87, Überarbeitung 1887-90, uraufgeführt 1892 in Wien, Kaiser Franz Joseph I. gewidmet), an die 90 Minuten lang, in ihrer Größe, in ihrer Breite, in ihrem Pathos auch ein einmaliges, unglaubliches Werk, musste es die Aufnahme mit Carlo Maria Giulini und den Wiener Philharmonikern sein (DGG 2 CDs 415 124-2, veröffentlicht 1985). Den Zauber des 3. Satzes (Bruckner setzt hier erstmals den langsamen Satz an die dritte Stelle) habe ich noch aus LP-Zeiten in „entrückter“ Erinnerung. Beim ersten Satz dieses Werks überrascht das verlöschende Ende der Fassung von 1890. Das Scherzo erscheint mir unheimlich, wie bei Mahler, und das Trio versetzt mich in einen Naturtraum. Und dann der 30 Minuten lange Adagio-Satz: da fühle ich mich im Himmel, oder zumindest in Walhall, und auch das große Finale – das ist eine ganz besondere Symphonie, ganz anders herausragend als etwa die „Fünfte“. Ich bin einmal mehr hin und weg. Giulinis Aufnahme schenkt mir durchgehend „den Himmel auf Erden“. Nikolaus Harnoncourt nahm das Werk in der Berliner Philharmonie im April 2000 mit den Berliner Philharmonikern auf (2 CDs Teldec 8573-81037-2). Den „Gigantenvergleich“ der beiden Orchester stelle ich nicht an. Auch die Berliner warten mit ihrem großartigen Orchesterklang auf. Harnoncourt nimmt das Werk (wie nicht anders zu erwarten) wieder differenzierter im Detail, direkter, brutaler. Es ist wie bei Abbado und Harnoncourt, was Bruckner betrifft. Wenn ich mich fallen lassen möchte, wenn ich wegträumen will, einfach „sein“ will, greife ich zu Giulinis Aufnahme. Wenn ich Lust auf sehr bewusstes, differenziertes, mehr intellektuelles, analytisches Hören habe, werde ich mit Harnoncourt unglaublich viel entdecken, was mir vielleicht ohne Kenntnis seiner Aufnahmen als doch auch enorme Bereicherung entgehen würde. Und dann war ich doch zu neugierig und habe mir die Aufnahme mit Herbert von Karajan (Wiener Philharmoniker, 2 CDs DGG 427 611-2, November 1988, Musikverein) auch noch gekauft. Ich höre die Musik hier grundsätzlich klangschön wie bei Giulini, teilweise weicher, weniger scharf. Interessanterweise ist Karajan beim Adagio vier Minuten schneller als Giulini. Constantin Floros erklärt mir im Beiheft außermusikalische Assoziationsmöglichkeiten, etwa die Todesverkündigung, den Deutschen Michel oder das Militär, aber ich möchte bei Bruckners Symphonien ohne diese „Hinweise“ auskommen und die entsprechenden Passagen lieber weiter „absolut“ genießen. Der Hörvergleich des Beginns vom Adagiosatz zwischen Giulini und Karajan offenbart Karajans Aufnahme als dickflüssiger, verschwommener, während Giulini klarer, differenzierter wirkt und damit auch intensiver, packender. Was die „Achte“ betrifft, ist diese Giulini-Aufnahme für mich schlichtweg vollendet.



Ausgehend von den mir zur Verfügung stehenden Aufnahmen der 9. Symphonie d-moll (1887-94, uraufgeführt 1903 in Wien, dem lieben Gott gewidmet) beschränke ich mich zur Zeit meiner Liebesgeschichte zunächst mit den drei vielfach aufgenommen Sätzen (ca. 60 Minuten lang) und Harnoncourts Vorstellung von Fragmenten des Finalsatzes. Claudio Abbados Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern (DGG CD 471 032-2, Musikverein, Jänner 1996, aber erst im Jahr 2001 veröffentlicht) ist wieder herrlich klangschön. Da offenbart sich einmal mehr die unbeschreibliche absolute Größe der Musik. Die Klangfarben, die Klangwirkungen, die Klangflächen und –ballungen: da kann ich nur staunen und mich total hingeben der Musik. Beim Scherzo „stampft“ Abbado wie ich finde „genau richtig“. Der dritte Satz – ist das eine Suche nach Erlösung, wie in Parsifals Welt? Leonard Bernsteins Abschied von Wien im Februar und März 1990 mit Bruckners 9. Symphonie (Liveaufnahme aus dem Musikverein, DGG CD 435 350-2) ist genauso klangschön und zu Herzen gehend gelungen wie Abbados Aufnahme, eine Spur breiter, sechs Minuten länger als Abbado, vor allem bedingt durch das bei Bernstein langsamere, schwerere Scherzo – durch und durch Bekenntnismusik, auch des Dirigenten. Die Aufnahme mit Nikolaus Harnoncourt und den Wiener Philharmonikern entstand live im Salzburger Großen Festspielhaus im August 2002 (2 CDs BMG/RCA 82876 54332 2). Ihr liegt die Kritische Neuausgabe von Benjamin Gunnar-Cohrs zugrunde. Wie immer bei Harnoncourt: alles erklingt differenzierter, in den Details deutlicher. Passe ich auf die Details zu sehr auf, glaube ich den „großen Fluss“ aus den Augen zu verlieren. Das phantastische Orchester hält mich aber im Strom. Das Scherzo-Tempo nimmt Harnoncourt ähnlich energisch wie Abbado. Und den Adagio-Satz empfinde ich wieder als großen mystischen Glaubensweg. Unglaublich spannend ist der „Werkstattbesuch“ auf der zweiten CD anzuhören, der den 4. Satz mit vom Orchester live gespielten Hörbeispielen vorstellt. Es war den Produzenten wichtig genug, diese Werkeinführung von Harnoncourt deutsch und englisch anzubieten. Vielleicht lockt es mich einmal, die mittlerweile rekonstruierte Fassung kennenzulernen.
Kurz zusammengefasst: Mit geringen Abstrichen bei der „Siebenten“ sind mir die Abbado-Bruckner-Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern sehr ans Herz gewachsen, sie sind das Kernstück meiner spät entflammten Liebe zu dieser Musik. Die Aufnahmen mit Abbado, Karajan, Giulini und Bernstein erschlossen sich mir total emotional, die Aufnahmen mit Harnoncourt, genauso bereichernd, mehr intellektuell.
Meine Liebesgeschichte mit der Musik von Anton Bruckner hat sich so extrem entfaltet, weil ich es vielfach geschafft habe, beim Hören seiner Symphonien auf außermusikalische Assoziationen zu verzichten. Ob sie nun katholische Glaubensbekenntnisse sind, ob ich, überwältigt von der einen oder anderen Interpretation, vielleicht musikanalytisch völlig falschen Ansätzen aufgesessen bin – eine Liebe hinterfragt zunächst nicht, sie lebt und gibt sich hin. Die chronologische Befassung mit den Symphonien hat ohnedies bereits wieder vieles kanalisiert, sie war enorm bereichernd, aber ich glaube ich kann diese Liebe gerade zu Bruckners Musik auch ohne das nun hinzugefügte „Wissen“ immer mitzudenken weiter leben.

Weil ich es schon von früher her kenne und auch bereits als Finale nach den drei Sätzen der 9. Symphonie gehört habe, habe ich mir nach den Symphonien auch das 1881 bis 1884 entstandene, 1886 in Wien uraufgeführte Te Deum angehört (Herbert von Karajan, Wiener Philharmoniker, Janet Perry, Sopran, Helga Müller-Molinari, Alt, Gösta Winbergh, Tenor und Alexander Malta, Bass, Wiener Singverein und Rudolf Scholz, Orgel, Musikverein, September 1984, CD DGG 429 980-2). Ein mächtiges und auch inniges Glaubensbekenntnis, durch den Text kanalisiert. Ich bleibe vorläufig lieber bei den Symphonien.
Die Liebe fragt nicht nach historischer und aufführungspraktischer Korrektheit. Sie wird gelebt und gespürt, ob eingebildet oder echt empfunden. Wir, Bruckners symphonische Musik von 1 bis 9 und ich, haben uns mittlerweile im Alltag eingependelt, aber es wird nie mehr so sein wie es war vor dieser „Explosion“. Ich höre Anton Bruckners Symphonien jetzt ganz anders.
Und mittlerweile höre ich auch Gustav Mahlers Symphonien wieder gerne.