Beiträge von Alexander_Kinsky

    Am 21.10.2006 dirigierte Bernard Haitink in der Orchestra Hall in Chicago das dortige Symphony Orchestra. Mit dabei waren auch der Kinder- und Frauenchor des Chicago Symphony Chorus und die Mezzosopranistin Michelle De Young. Auf dem Programm stand Gustav Mahlers mit 100 Minuten Spielzeit längste Symphonie, die Symphonie Nr. 3 d-Moll. Bayern 4 Klassik sendete am 7.9.2007 eine Aufzeichnung dieses Konzertereignisses. Haitink entfaltet die Klangwelt Mahlers breit, eingebettet in die großartige, bestechend klare, transparente Kultur des amerikanischen Orchesters, zwischen Dinosauriern, Felsklüften, bunt schillernder belebter Natur, Studentenwalz und Militärmärschen, dann inmitten der Blumen, der Tiere (zwischendurch in irisierend schöner Naturidylle), menschlicher Mitternacht (die Solistin singt sehr empfunden), Engelsgesängen und der großen Liebe. Ein breiter Kosmos, von Haitink im großen Bogen eindrucksvoll und ausdrucksintensiv eingefangen.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    DIE ZEIT Klassik-Edition, Teil 10: Das ist Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 in einer historischen Liveaufnahme vom 29.7.1951 (CD EMI 0094637408223, die von Wilhelm Furtwängler dirigierte Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele mit Chor und Orchester derselben sowie mit dem erlesenen Solistenensemble Elisabeth Schwarzkopf (Sopran), Elisabeth Höngen (Alt), Hans Hopf (Tenor) und Otto Edelmann (Bass).



    Der totale Gegenpol zu Norrigtons entschlacktem Wagner. DIE ZEIT schickt ihre Hörerschaft auf ein heftiges Wechselbad der Interpretationsansätze. Furtwänglers Beethoven: Der ist bestimmt von starker, gewichtiger Innenspannung, ungeheurer, elementarer Wucht, aus Granit gemeißelt, eine „schwere“, „dickflüssige“ Interpretation. Sind die zur Schau gestellte Erhabenheit, die monumentale Größe, das Pathos heute (2007) altbacken, veraltet? Im Konzert selbst muss die Wirkung ungeheuer gewesen sein. Der Monoklang vereinheitlicht die Lautstärke, das Piano dringt so stark wie das Forte durch. Das Buch (Zeitverlag Gerd Bucerius ISBN 3-476-02210-2) mit Schwerpunkt „Furtwänglers Position im und Stellung zum Dritten Reich“ bringt auch eine differenzierte Würdigung Furtwänglers von Alfred Brendel aus dem Jahr 1979.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Vorhin vergessen (betriebsblind) - mein absolutes Lieblingswerk in diesem Genre:


    "Heute Abend: Lola Blau" von Georg Kreisler. Ganz klein, ganz groß. Eine junge naive Wiener jüdische Künstlerin muss 1938 über Basel in die USA emigrieren, verfällt dort dem Alkohol und kehrt nach dem Krieg, um viele Lebenserfahrungen reicher, nach Wien zurück, wo sie als resignierende Kabarettistin altert. Meist als Einpersonenstück mit Pianist aufgeführt, vielfach mit zeitgeschichtlichen Tonzuspielungen oder Filmmaterial zwischendurch. Geniale Lieder von Georg Kreisler. Uraufgeführt 1971 von seiner damaligen Frau Topsy Küppers in Wien, auf Do CD bei Preiser erschienen.



    Habe es 1997 im Theater Pygmalion in Wien selbst mal als Einspringer am Klavier gespielt, bin seither fasziniert von diesem Werk und ihm verfallen, sammle die CD-Veröffentlichungen und fahre jeder Inszenierung hinterher, von der ich erfahre (seit 1997 mehrere Inszenierungen in Wien, dazu München, Wuppertal, Augsburg, Münster, Linz, Stuttgart, Detmold, Lübeck, Ulm, Berlin, Meiningen, Stralsund, Frankfurt am Main, Kaiserslautern, Fürth, Konstanz und Krefeld). Die Krefelder Inszenierung läuft noch, am 22.9. hat eine neue in Ingolstadt Premiere.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Im Dezember 1983 nahmen Andras Schiff (Klavier), Clemens (Violine), Veronika (Bratsche) und Lukas Hagen (Cello) sowie Alois Posch (Kontrabaß) Franz Schuberts Klavierquintett in A-Dur op. 114 D 667, das „Forellenquintett“, im Wiener Sofiensaal auf (CD Decca 411 975-2).



    Mein persönlicher Höreindruck: Schuberts im Sommer und Herbst 1819 komponiertes fünfsätziges Werk verströmt ganz wunderbare, weitgehend „problemlose“ Musikantik, die auch von den Mitwirkenden jugendlich frisch, mit Sinn für „das innige Geheimnis“ wie für voll konzentriertes Miteinander, sympathisch herausgearbeitet wird. Kennt man andere Werke von Schubert, fällt auf, dass es hier nur wenige Eintrübungen gibt, es dominiert das unbeschwerte Musizieren. Allenfalls die vorletzte Variation des vierten Satzes, die so ganz typisch für Schubert zwischen Dur und Moll wechselt, lässt etwas von der „Zwischenwelt“ vieler anderer Werke ahnen. (Dieser vierte Satz basiert ja auf dem Lied „Die Forelle“.) Eine sehr schöne, zu Herzen gehende, mit „klarem“ Zugriff gespielte Aufnahme der Mitglieder des Hagen Quartetts mit Schiff und Posch zusammen, noch weit entfernt von der bewusst „kalten Strenge“ viel späterer Aufnahmen des Hagen Quartetts.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Meine Nr. 1: Leonard Bernstein.
    Für mich ist "West Side Story" großes Musiktheater, das wird (hoffentlich) überleben, auch noch in die nächsten Generationen hinein. Habe seit Anfang der 80er Inszenierungen und Gastspiele in Wien, München und Bregenz besucht. Diese geniale Adaption des "Romeo & Julia" Stoffes ins New York der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts geht jedes Mal aufs Neue total unter die Haut. Ich habe neulich in München im Prinzregententheater auch eine fulminante Aufführung von "On the Town" mit Studierenden der Bayerischen Theaterakademie gesehen, und auch "Wonderful Town" (für manches ist man "leider" zu jung, hätte gerne 1956 Marcel Prawys zweite Arbeit an der Wiener Volksoper nach "Kiss me, Kate" besucht) und der Einakter "Trouble in Tahiti" (später zur Oper "A Quiet Place" erweitert) haben griffige, einfallsreiche Musik.


    Um den kam ich nicht herum: Andrew Lloyd Webber
    Habe "Jesus Christ Superstar" im Theater an der Wien und in Gastspielen gesehen, natürlich auch den Kinofilm von Norman Jewison, und Inszenierungen im Amateurbereich mitverfolgt, auch als Musiker am Klavier. Wenn man da selbst in der Band mitspielt, spätestens dann hat die Musik dieses damals jungen Briten schon Idee und Einfallsreichtum. "Evita", "Cats", "Song & Dance" und "Phantom der Oper" konnte man im Lauf der Jahre in Wien auch ausgiebig kennen lernen, vor allem im Theater an der Wien. Das waren immer gediegene Produktionen mit hervorragenden Mitwirkenden. Zumindest das Gespür für "Theateraffekte" möchte ich Lloyd Webber nicht absprechen. Was die Musik betrifft, so ist er für mich vor allem ein genialer Zweitverwerter, wo man Ratespiele anstellen kann, woher man dies und das schon kennt.


    Das deutschsprachige Musical:
    Levay/Kunze:
    "Elisabeth" fand ich eine spannende Idee mit guten Einfällen, eine tolle Produktion im Theater an der Wien. "Mozart" habe ich erst vor ein paar Monaten im Deutschen Theater in München in einem Gastspiel eines Budapester Musicaltheaters, teilweise deutschsprachig mit Gästen aus Deutschland und Österreich, gesehen - ein fulminanter Abend, eine perfekte "Mozart Show" - aber es hätte auch um Elisabeth, Karl den Großen oder die Reise zum Mond gehen können. Levays Musik entlarvte sich als gut konstruierte Meterware für sein Genre, ich bin gespannt auf "Rebecca", bin mir aber fast sicher, ich höre dort wieder "Elisabeth" oder "Mozart", und wenn Levay und Kunze für Japan Aufgüsse produzieren, werden diese wohl ganz genau so klingen. Masche gefunden, Abzocke läuft.
    Udo Jürgens:
    Ich war zu jung, um "Helden Helden" mitzukriegen (1972 im Theater an der Wien). Die Melodien finde ich sehr schön, die in Wien und Hamburg aufgenommenen LPs geben schon einen Eindruck von der Anlage dieses für die damalige Zeit deutschsprachigen "Anfängerwerks" der Beteiligten. Jetzt wartet man auf "Ich war noch niemals in New York". Das führt zu der:


    Erfolgslinie von heute: Hitpanorama mit Geschichte drumrum
    Queen, ABBA, Udo Jürgens. Man nehme 20 bis 25 Lieder und konstruiere eine Geschichte, in die diese Lieder passen. Ich habe "Mamma Mia" in Hamburg und Wien gesehen und fand es eine tolle Show rund um die ABBA Songs. Nicht mehr und nicht weniger.


    Was ich mir erarbeiten sollte, ist das große klassische Musical bis etwa 1970. Die vorangegangenen Beiträge machen Lust darauf, zumindest einige Aufnahmen kennen zu lernen.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Ich schließe mich der Beschreibung von Romeo & Julia an.



    Das Hagen Quartett und Heinrich Schiff mit dem zweiten Cello ( DGG CD 439 774-2, aufgenommen in der Kirche St. Konrad am Abersee im Juni und Juli 1991, gekoppelt mit Beethovens Großer Fuge op. 133) spielen Franz Schuberts im Todesjahr 1828 entstandenes Streichquintett C-Dur D 956 (op. posth. 163) mit wunderbarer Klarheit, schön musikantisch, differenziert und genau nuanciert. Die weitläufigen symphonischen Dimensionen des Werks verlieren sich oft ins Irgendwo, wie beim Anhören vieler Streichquartette schweifen die Gedanken des Schreibers gerne ab, spielt die Musik mehr im Unterbewusstsein weiter, „läuft sie so mit“ und ist doch immer präsent. Beim zweiten Satz ist man „im Himmel“. Am Ende des heftigen Mittelteils verebbt die Musik im Nichts – in dieser Aufnahme ein grandioser Moment, in dem Raum und Zeit still stehen, nur totale Leere da ist, ehe es zurück in den Frieden des „Himmels“ geht. Das Trio des dritten Satzes ist bei diesem Werk ja ungewöhnlich ernst und verinnerlicht zurückgenommen, was auch in dieser Aufnahme sehr schön zur Geltung kommt. Bin froh, sie zu Hause zu haben und höre sie sehr gerne.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Der zweite Satz ist für mich ein totales Wunder an Musik, das G-Dur Quartett eines der größten Werke der ganzen Musikgeschichte.


    Meine bewußte neuerliche Annäherung an dieses Werk nach vielen Jahren geschah im Zuge des Durchhörens der Gesamtaufnahme der Schubert-Quartette mit dem Melos Quartett aus den frühen 70ern (6 CDs, DGG Collectors Edition 463 151-2), eine wie ich finde angenehm impulsiv und musikantisch anzuhörende Angelegenheit, die mir die Tiefe des Ausdrucks sehr gut vermittelt und verinnerlicht hat.



    Verblüffend „anders“ die Einspielung des Hagen Quartetts (DGG CD 457 615-2, aufgenommen im Minnesängersaal von Wiesloch im Juni 1997 und Februar 1998, gekoppelt mit Beethovens op. 95), auch gegenüber dessen Einspielung von "Der Tod und das Mädchen" – wie „mit geschliffenen Messern“!



    Eine bewusste Kälte ist als Grundton spürbar, an die man sich zunächst nur schwer gewöhnen mag (hat man das Melos Quartett noch im Ohr). Das ist meiner Meinung nach eher keine Aufnahme für das erste Kennenlernen dieses Werks, man wird zunächst mehr verstört als sich irgendwie zurechtzufinden mit dieser genialen Musik. Natürlich erblühen die Blüten dann im Lauf des Werks umso schöner, umso klarer, umso sonderbarer, nuancierter, differenzierter, und das Finale ist beim Hagen Quartett wie ein phantastischer Flug auf Wolken, aber ich war schon froh, vorher auch das Melos Quartett gehört zu haben und (in diesem Fall) nicht „mit dem Hagen Quartett allein bleiben zu müssen“ (so faszinierend deren Deutung auch ist; aber wer so "altmodisch" aufgewachsen ist wie der Schreiber, braucht halt länger zum "Umlernen", und er weiß, dass auch das Hagen Quartett, gerade dieses Quartett, "richtig" liegt, nur muss er die Aufnahme wohl mehrmals hören, um ihr "näher" zu kommen).


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Das Melos Quartett (6 CDs, DGG Collectors Edition 463 151-2) spielt wie ich finde in seiner Aufnahme aus den frühen 70ern (im Zuge der Gesamtaufnahme von Schuberts Quartetten eingespielt) wunderbar musikantisch, impulsiv und innig.




    Unmittelbar nach dem Anhören von „Der Tod und das Mädchen“ mit dem Melos Quartett legte ich die CD mit dem Hagen Quartett ein (mir vorliegend als CD DGG 78 792 1, aufgenommen zusammen mit Beethovens Quartett op. 135 im Oktober 1990 im Münchner Plenarsaal der Akademie der Wissenschaften) und wollte eigentlich nur die Tempi und Ansätze der einzelnen Satzanfänge vergleichen.



    Ich blieb aber völlig gebannt und erstaunt sitzen, ohne weiter zu „zappen“. Das Hagen Quartett interpretiert diese Musik differenzierter, nuancierter, direkter, brutaler, zarter, unheimlicher, angespannter als das Melos Quartett. Sie spielen (genauso wie dann auch beim G-Dur Quartett) die Wiederholung der Exposition im ersten Satz. Im Variationssatz offenbart dieses Quartett noch viel deutlicher für jede Variation eine ganz eigene Farbe, ganz eigenen Charakter. Irisierend schön, „wie im Traum“, erklingt das Trio im dritten Satz. Eine spannende Alternative!


    Vom Alban Berg Quartett liegt mir eine Liveaufnahme von 1994 vor, enthalten auf der 16. CD der 2006 erschienenen Klassik Edition der „Zeit“ (CD EMI 0094637408926). Dieses Quartett bietet eine großartig leidenschaftliche Interpretation (ohne Wiederholung der Exposition im ersten Satz), die wirklich aus dem Augenblick heraus empfunden und gelebt wirkt.



    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Wolfgang Gruhles „Streichquartett Lexikon“ (Triga, Gelnhausen, 3. Auflage 2005) führt bei Franz Schubert 18 Werke für Streichquartett an, darunter eine vor 1811 entstandene Ouvertüre D 8a, ein paar „Deutsche Tänze“ D 86 sowie D 89-91, den Streichquartettsatz c-Moll D 103 – und 15 mit offenbar von früherer Zählung übernommenen Nummern versehene Werke, wobei das Quartett Nr. 7 (D 94) chronologisch (da wahrscheinlich 1811 komponiert) zwischen 1 und 2 eingeordnet wird. Nr. 10 (D 87, 1813, lange Zeit mit 1824 datiert) hingegen nimmt die Position von Nr. 7 ein. Die Deutsch-Verzeichnisnummern stimmen durch neuere Forschungsergebnisse auch nicht durchgehend mit der Chronologie der Entstehung der Werke überein. Bei der Gesamtaufnahme des Stuttgarter Melos Quartetts (6 CDs, DGG Collectors Edition 463 151-2), die in neun verschiedenen Monaten von November 1971 bis März 1975 im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle entstand, fanden alle Werke außer D 8a, D 86 und D 89-91 Berücksichtigung. In der Folge finden die von Monika Lichtenfeld für die Erstveröffentlichung der Box auf LP im Jahr 1975 zusammengetragenen Daten, die auch in der Collectors Edition vermerkt sind, bei den Anmerkungen zu den einzelnen Werken Berücksichtigung. Wenn sie vollständig (erhalten) sind, umfassen Franz Schuberts Streichquartette vier Sätze, der zweite davon ist der langsame Satz, der dritte ein Menuett (selten Scherzo). (Nur in D 18 steht das Menuett an zweiter Stelle.)


    Hier meine subjektiven Höreindrücke beim Anhören der CDs aus dieser Box:


    Franz Schubert verwischt in seinem unerschöpflichen Themenreichtum oft die Grenzen zwischen den Abschnitten einzelner Sätze so musikalisch-musikantisch, dass man bald nicht mehr gewillt ist, die Strukturen herauszuhören. Man ergibt sich dem Fluss und den Überraschungen der Musik. Man hört sich in einer Zwischenwelt fest, die einen gleichzeitig ganz intensiv in ihren Bann zieht und die Gedanken nur allzu gern abschweifen lässt. Dann wird die Musik „selbstverständlich“, genauso wie sie „unbegreiflich“ bleibt, dann wirkt sie ins Unterbewusstsein, lässt aber immer wieder mit markanten Motiven, zwischen (vermeintlicher?) Biedermeier-Gemütlichkeit, Fugatokunst und völlig überraschenden harmonischen Wendungen aufhorchen. Es öffnen sich himmlische Ewigkeiten, bisweilen aber auch extrem gefährliche Klüfte. Schuberts Musik ist so „angenehm“ und im selben Augenblick so „schmerzerfüllt“ wie keine andere. Haydn, Mozart, Beethoven sind da, und doch kann die meiste Musik Schuberts nur von diesem komponiert, nein besser: gesungen worden sein. Die Psychologie der Melodie erschließt sich, öffnet sich, erschüttert den Hörer dann mit den Begleitmustern, die ihr beigefügt sind.


    Schuberts Jugendwerke, wie einhellig betont wird für Hausmusik ideal geeignete, technisch nicht zu anspruchsvolle Streichquartettliteratur, einige bis ins 20. Jahrhundert hinein völlig unbekannt, nach den Aufführungen im Schubertschen Familienkreis wie einige andere Werke von Schubert auch knapp am völligen Vergessenwerden (zum Teil verschollen geglaubter Sätze) vorbeigeschrammt, lassen eine nahezu unheimliche Reife der Komposition hören.


    Schon die innige Andante-Einleitung des ersten Quartetts, des 1810 oder 1811 komponierten Streichquartetts in verschiedenen Tonarten D 18 (Nr. 1), die in „Schicksalsschläge“ mündet, offenbart das Einmalige dieses Franz Schubert. Der Presto vivace-Satz in Moll verströmt eine ganz eigene Stimmung – das ist Schuberts Zwischenwelt. Es folgen ein „Biedermeier-Menuett“ und ein inniger Andante-Satz sowie als Ausklang ein Presto. Was für eine „Vorgabe“ eines jungen Genies!


    Das Streichquartett C-Dur D 32 (Nr. 2) entstand im September und Oktober 1812. Ein Wunder ist das nach dem eröffnenden Presto-Satz folgende 6/8-Andante in a-Moll mit seiner Siciliana-Melodie der Geige. Das Werk schließen ein Allegro-Menuett und ein Allegro con spirito ab.


    Das von 19.11.1812 bis 21.2.1813 komponierte Streichquartett B-Dur D 36 (Nr. 3) lässt in der Durchführung des ersten Satzes aufhorchen, mit einem Stimmungswechsel, einer „Stille aus dem Wirbel heraus“ – Schuberts Zwischenwelt, einmal mehr! Auch das anschließende Andante „hat sein Geheimnis“. Satz 3 ist wieder ein Menuett. Satz 4 ein Allegretto.


    Ein Geniestreich ist das von 3. bis 7.3.1813 komponierte Streichquartett C-Dur D 46 (Nr. 4) mit seiner düster-absteigenden Adagio-Einleitung, mit seinem heftigen Allegro con moto, seiner wunderbar ausgeweiteten „Wiegenlied“-Melodie des zweiten Satzes, seinem Menuett, das wie ein Scherzo von Beethoven daher kommt, dessen Trio aber unverkennbar schubertisch-musikantisch ist, und mit seinem heiter-spritzigen Finale.


    Sind die Mittelsätze des von 8. bis 16.6.1813 komponierten, am 18.8.1813 beendeten Streichquartetts B-Dur D 68 (Nr. 5) wirklich für immer verloren? Der erste Satz ist „klassischer“ Schubert, der zweite erhaltene „wie ein Haydn-Finale“.


    Der Musikfreund kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn er hört, was Franz Schubert zwischen 22.8. und September 1813 zum Namenstag seines Vaters am 4.10. komponiert hat: das Streichquartett D-Dur D 74 (Nr. 6) ist ganz, ganz wunderbare klassische Musik, alle vier Sätze (Allegro man non troppo, Andante, Allegro-Menuett und Allegro)!


    Das im November 1813 entstandene Streichquartett Es-Dur D 87 op. posth. 125 Nr. 1 (Nr. 10), lange Zeit als erst 1824 entstanden datiert (daher vielfach als Nr. 10 gezählt), bietet schöne weitläufige Schubert-Klassik, im zweiten Satz ein großes Adagio und ein spritziges Prestissimo-Scherzo sowie ein genauso spritziges Allegro-Finale.


    Das Streichquartett D-Dur D 94 (Nr. 7), man weiß nicht ob es 1811 oder 1812 entstanden ist, vermutet aber die Erstaufführung 1814 im Hause Schubert, erscheint ähnlich dem vorigen Werk von einmaliger, inniger, kunstvoller Schlichtheit durchzogen.


    Den Quartettsatz c-Moll D 103, ein von Alfred Orel ergänztes Fragment, hat Franz Schubert im April 1814 komponiert. Die übrigen Sätze sind wahrscheinlich verschollen. Grave, dann ein Allegro – auch hier gibt die Musik nicht ihr „Geheimnis“ preis. Nicht zum letzten Mal überraschen einige Zäsuren in Schuberts Werk.


    Reifer, vergeistigter (als die bisherigen vollständigen Streichquartette), von pastoralem Grundton getragen hört sich das Streichquartett B-Dur D 112 op. posth. 168 (Nr. 8 ) an, das Schubert zwischen 5. und 13.9.1814 aufschrieb. Der erste Satz ist ein Allegro man non troppo, der zweite ein Andante sostenuto, der dritte ein Allegro-Menuett und das Finale ein Presto-Satz.


    Ungewohnt „klassisch streng“ mutet das von 25.3. bis 1.4.1815 komponierte Streichquartett g-Moll D 173 (Nr. 9) an. Berührend schön – wieder einmal – erklingt hier etwa der melodische Einfall des zweiten Satzes, eines Andantino. Und wie Schubert diese Melodie weiterspinnt! Schubert ist ein einmalig innig komponierendes Genie. Immer wieder!
    1816 entstand das Streichquartett E-Dur D 353 op. posth. 125 Nr 2 (Nr. 11), wieder „Wiener Klassik“ von Franz Schubert.


    Und dann ist da der irgendwie unheimlich fließende Quartettsatz c-Moll D 703 (vielfach gezählt als Nr. 12) vom Dezember 1820. Ein Sprung von der Jugend, von der kompositorisch reifen Jugend zur noch geheimnisvolleren, unerklärlicheren, noch selbstverständlicheren und noch labyrinthisch nicht fassbareren Schubert-Zeit danach.


    Die drei großen Werke der allzu frühen späten Schubert-Jahre sind noch weiter gespannt als die bisherigen, sie dauern 37 („Rosamunde“) bis 50 Minuten („G-Dur“, mit Wiederholung der Exposition im ersten Satz).


    Von Februar bis Anfang März 1824 schuf Franz Schubert sein Streichquartett a-Moll D 804 op. 29 Nr. 1 (Nr. 13). Es wurde als einziges Streichquartett zu Lebzeiten Schuberts komplett in einem offiziellen Konzert aufgeführt, am 14.3.1824 im Saal „Zum Roten Igel“ im Musikverein Wien vom Schuppanzigh-Quartett. Der erste Satz ist ein „Geheimnis in a-Moll“, das ist Musik an der Grenze, der Hörer wird, lässt er sich ganz hineinfallen in diese Welt, ganz auf sich selbst zurückgeworfen, es stellen sich „die letzten Fragen“. Das bekannte Thema des Andante-Satzes kennt der Schubert-Freund auch aus der Zwischenaktmusik Nr. 3 zu „Rosamunde. Fürstin von Cypern“ D 797 und als Variationsthema zum Impromptus für Klavier op. posth. 142 Nr. 3 D 935. Wieder dieses „Geheimnis“ – im Allegretto-Menuett. Im Allegro moderato-Finale darf es aber auch Zuversicht geben.


    Das im März 1824 komponierte Streichquartett d-Moll D 810 (Nr. 14) „Der Tod und das Mädchen“ hat bereits einen Thread (Stand 6.9.2007):
    Franz Schubert: Streichquartett d-moll D 810 - Der Tod und das Mädchen


    Genauso das Streichquartett G-Dur D 887 op. posth. 161 (Nr. 13):
    Franz Schubert: Streichquartett G-Dur D 887



    Die ersten Aufnahmen des wunderbar innig, impulsiv und musikantisch aufspielenden Melos Quartetts - eine wie ich finde ideale Aufnahme zum Kennenlernen der Werke, obwohl nicht alle Wiederholungen gespielt werden! - aus dem Jahr 1971 (D 18, 32, 36) vermitteln fast noch ein Mono-Klangbild. Erst danach werden die vier Instrumente im Stereosound weiter aufgefächert.


    Vielleicht kann dieser neue Thread (der erste, den ich mich zu eröffnen getraue) dazu animieren, über weitere Gesamtaufnahmen der Schubert-Quartette zu schreiben, oder auch über Einzelaufnahmen einiger Werke, für die noch kein Einzelthread vorhanden ist, oder über die Werke allgemein, über ihre Eigenheiten und Zwischenwelten.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Ich habe Gustav Mahlers Symphonien "geordnet" kennen gelernt, als Jugendlicher die CBS-LP-Box "GM 10" mit Leonard Bernstein werkchronologisch durchhörend, mit Konzertführeranalysen dazu, teilweise in Taschenpartituren mitlesend. Erleichtert hat mir, dass ich von Anfang an Sinn hatte für die bewußten Brüche in Mahlers Musik, für die abrupten Stimmungswechsel, in der 1. Symphonie gleich im Trauermarsch, wo ja plötzlich eine Blaskapelle "durchmarschiert", dann mit den "Gewitterausbrüchen" in der ersten und zweiten Symphonie und so weiter. Auch die psychologische Mehrschichtigkeit (ähnlich wie bei Schubert), der oft durchhörbare Schmerz, das ironisch Verzerrte, das Fratzenhafte (Beispiel Scherzo aus der 7. Symphonie) sprachen mich von Anfang an sehr an. (Ich kenne aber einige Leute, die gerade das an Mahlers Musik abstößt, und ich kann sie auch verstehen.)
    Ich finde auch, viele Werke sind "Live"-Werke, sie entfalten im Konzertsaal eine ungeheure Wirkung, die Tonträger nur schwer wiedergeben können. Die 8. Symphonie etwa, obwohl zum Beispiel in der Aufnahme mit Georg Solti Anfang der 70er aus den Wiener Sofiensälen auch auf CD grandios, ist für mich ein totales "Live"-Werk. Andererseits hat Mahler die Orchesterstimmen oft so subtil gegeneinander gesetzt, dass Aufnahmen diese Details oft deutlicher offenbaren als der Gesamteindruck im Konzert. So gesehen ist das Studium etwa auch mit Partitur sicher sehr bereichernd.
    Mich haben Leonard Bernsteins Interpretationen aus den 60ern jahrelang sehr geprägt, ich liebe sie noch heute und "denke seine Tempi", wenn ich andere Aufnahmen höre. Im Lauf der Jahre habe ich aber auch andere Maestri sehr schätzen gelernt, was Mahler betrifft, etwa Bernard Haitink, der vor Bernsteins Tod bewußt und aus Respekt keinen Mahler mit den Wiener Philharmonikern dirigiert hat, auch Claudio Abbado (Berliner und Luzerner Aufnahmen) und in letzter Zeit Mariss Jansons, um nur einige zu nennen. Von Herbert von Karajan dirigiert kenne ich nur die 5. und eine Liveaufnahme von 1982 der 9. Symphonie, und beide erscheinen mir "schöner als von Mahler gewollt", faszinierend im Klang, aber zu ästhetisiert. Ich habe den Eindruck (von diesen beiden Aufnahmen ausgehend), Karajan konnte (und wollte!) mit den Brüchen in Mahlers Musik nichts anfangen.
    Mittlerweile bin ich - zugegeben - ziemlich Mahler-süchtig, versuche, möglichst viele Radioübertragungen von Konzerten mit Mahler-Musik mitzubekommen, habe als Langzeitprojekt im Kopf, zumindest alle Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern kennen zu lernen, bin Mitglied der Internationalen Gustav-Mahler-Gesellschaft, "fresse" deren periodische Publikationen zur aktuellen Mahler-Forschung - und mir ist auch sonst nicht mehr zu helfen :).


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Ich stimme Johannes Roehl vollinhaltlich zu.
    Mozarts Klavierkonzerte kann ich mir ohne die "Orchestereinleitung", die ja im Grunde die erste Exposition vor der wiederholten mit dem Klavier ist, überhaupt nicht vorstellen. Wenn die prinzipielle Wiederholung von Expositionen überflüssig ist, warum hat Mozart dann immer so ausführliche Orchesterexpositionen in seine Konzerte komponiert? Dass Komponisten Wiederholungszeichen schreiben, akzeptiere ich als verbindlich vorgesehen, andernfalls würden sie es dazu vermerken (wenn es egal wäre). Wenn ich einen Sonatensatz höre, freue ich mich auf die Wiederholung der Exposition, weil sich mir dann die Themen noch besser einprägen und ich bei der Verarbeitung in der Durchführung sowie bei der Reprise die Nuancen viel deutlicher wahrnehme.
    Was das Kopieren „tongleicher“ Abschnitte betrifft, so könnte ich mir persönlich nicht vorstellen, einfach mit „Copy and Paste“ zu arbeiten. Ich plane, irgendwann für mich privat Schuberts G-Dur Sonate aufzunehmen. Dieses Werk ist natürlich „noch ewig länger“ mit der Wiederholung, aber für mich absolut unvorstellbar ohne sie bzw. ich müsste mich vor mir selbst genieren, wäre ich zu dem Schritt der Kopie bereit.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Einen echten Höhepunkt brachte Ö 1 am 2.9.2007, Leonard Bernsteins "West Side Story" in der deutschen Übersetzung von Marcel Prawy, die Produktion der Wiener Volksoper, für den Rundfunk aufgenommen im April und Mai 1970, erstausgestrahlt am 17.5.1970. Zuerst gibt es einführende Worte von Marcel Prawy. Zum (wie vieles weitere auch großartig, vielfach interessant opernhafter als gewohnt erklingendem) Vorspiel erinnert sich Polizist Schrank an den Beginn der dramatischen Ereignisse um die Jets und Sharks. Man ist damit sofort mittendrin in der Spannung zwischen den Jugendbanden. Realistische Dialogatmosphäre, zunächst ungewohnter deutscher Gesang (Marcel Prawy hat sehr genau auf alle Nuancen geachtet, das Deutsche wirkt aber irgendwie sperriger als das Original), Schrank erzählt zwischendurch (inhaltlich, vielfach in die Instrumentalteile hinein, markiert Betroffenheit) weiter – diese Aufzeichnung verströmt eine ganz eigene Atmosphäre, es ist eine Art Hörspielfassung des Werks, gleichzeitig deutlich mehr eine Bernstein-Prawy-Oper (auch gesanglich) als ein amerikanisches Musical. Aber insgesamt: Ein auch hier unglaublich unter die Haut gehendes Stück Musikgeschichte um eine Liebe unter tragischen Vorzeichen mit dem schlimmstmöglichen Ende. Mit dabei waren damals Julia Migenes (Maria), Adolf Dallapozza (Tony), Helge Grau (Riff), Heinz Marecek (Action), Carmine Terra (Bernardo), Arline Woods (Anita), Eduard Djambazian (Chino) sowie Chor und Orchester der Volksoper Wien unter der Leitung von Heinz Lambrecht. In den Nebenrollen dabei: Erwin Höfler/Arab, Manfred Trompeter/Baby John, Michael Schrenk/Snowboy, Florian Liewehr/Professor, Trixi Danell/Anybodys, Nives Stambuk/Rosalia, Akiko Katsumoto/Consuela, Monique Lobasa/Francisca, Hedy Richter/Latina, Melitta Ogrise/Latina, Elisabeth Stelzer/Latina, Helly Swoboda/Latina, Hans Hais/Doc, Wolfgang Zimmer/Schrank, Friedrich Nidetzky/Inspektor Krupke und Götz von Langheim/Glad Hand. Auf diese Volksopernproduktion konnte Marcel Prawy zu Recht stolz sein. Dieser Rundfunkmitschnitt legt es akustisch offen.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Nachklang zum 31.8.2007: Am 25.8. in der Berliner Philharmonie (nach der Uraufführung „Seht die Sonne“ von Magnus Lindberg), am 27.8. in Salzburg, nun live in DRS 2 aus dem KKL Luzern: Sir Simon Rattle (der übrigens mit diesem Werk 1993 bei den Wiener Philharmonikern debütiert hat) und die Berliner Philharmoniker gastieren mit Gustav Mahlers Symphonie Nr. 9 D-Dur beim Lucerne Festival. (Von 25. bis 27.10. werden sie mit Lindberg und Mahlers Neunter wieder zu Hause in der Philharmonie sein.) Ich habe eineinhalb Stunden tourneegerechte Weltklasse gehört. Ein erlesen klangschön aufspielendes Orchester, ganz drin in Mahlers musikalischem Kosmos. Vielleicht schon zu souverän, manchmal von Rattle überdeutlich auf Effekt und Wirkung hin inszeniert, aber alles in allem bis zum ersterbenden Ende wieder einmal eine Mahler Neunte, die total unter die Haut ging.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    NDR Kultur brachte am 30.8.2007 eine Konzertaufzeichnung vom Schleswig-Holstein Musik Festival, aufgenommen am 22.8.2007 in der Musik- und Kongresshalle Lübeck. Der 1981 geborene Shooting Star Gustavo Dudamel dirigierte im Rahmen einer Deutschlandtournee das Jugendorchester aus Venezuela namens Simón Bolivar Youth Orchestra, benannt nach Simón Bolivar, dem Anführer der Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonialherren. Die Bedeutung dieses Klangkörpers liegt nicht nur, so wird auf der Europatournee geworben, im musikpädagogischen Bereich. Es geht vor allem auch darum, Kinder von der Straße wegzuholen und ihnen Perspektiven für ein besseres Leben zu eröffnen. Leonard Bernsteins „Candide“-Ouvertüre hört sich schmissig und vollblütig an, wenn man dessen Aufnahmen kennt ganz im Sinne und Geiste Leonard Bernsteins. Genauso lebendig und inspiriert, mit viel Herz musiziert das Orchester durch Bernsteins Sinfonische Tänze aus der "West Side Story", die wesentliche Stationen des Musicals wieder einmal eindringlich lebendig werden lassen. Nicht nur in den furios ausgekosteten Rhythmen dieser Musik sind die Mitwirkenden offenbar ganz zu Hause. Nach der ungemein emotionalen Interpretation aus Luzern mit Mariss Jansons (vor drei Tagen in DRS 2) und angesichts der intensiven Werbung der Plattenfirma für die soeben erschienene Aufnahme mit Dudamel und dem Orchester war der Schreiber besonders gespannt auf Gustav Mahlers 5. Sinfonie cis-Moll. Also wieder der Trauermarsch, der Anfang: Dudamel „setzt sich drauf“, das Orchester kämpft hörbar darum, beherzt seine Wünsche umzusetzen – ein breiter angesiedelter Ansatz wird offenbar, am Rande des Zerfalls. Man hört bei solchen Interpretationen, wie komplex Mahlers Musik eigentlich ist und wie selbstverständlich man es nimmt, dass die Spitzenorchester alle Klippen problemlos meistern, dass immer alle beisammen sind. Man hört hier aber auch das wunderbare Engagement der jungen Musizierenden – nicht nur in einigen Momenten der Innigkeit wie der geballten Klangentladung. Mahlers Musik kämpft und wird erkämpft. Großartig beherzt und intensiv stürzen sich alle in den zweiten Satz. Dudamel entwickelt die Kontraste hier ganz wunderbar, das ist packende Musik! Dudamel hat Sinn für die Effekte, aber auch für die Psychologie der Musik. Das setzt sich im dritten Satz fort. Natürlich hört man in dieser Aufzeichnung ungleich mehr spieltechnische Unsauberkeiten als gewohnt. Aber genauso hört man den Willen, Mahlers Partitur möglichst innig und impulsiv einzufangen. Da hat Dudamel mit dem Orchester hörbar intensiv gearbeitet. Das Finalfurioso dieses Satzes peitscht er allerdings etwas zu wild weg. Sehr empfunden, dabei emotional aufgeladen, zieht das Adagietto vorbei. Die naturhafte Stimmung im vollblütig ausgekosteten fünften Satz kommt schön heraus. Auf jeden Fall eine spannende Mahler Fünfte – in mehrfacher Hinsicht mit Zukunft! Die umjubelte Zugabe war südamerikanisch: „Die Landarbeiter“ aus dem Ballett Estancia von Alberto Ginastera.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Ich habe mich für diese Edition entschieden, weil ich damit einige Musikerpersönlichkeiten kennen lernen kann, von denen ich mir sonst wohl keine Tonträger gekauft hätte, weil ich gespannt war (und bin) auf die jeweiligen Interpretationen vielfach altbekannter Werke und weil ich die Bücher in ihrer inhaltlichen Gestaltung (Biografie, Werkvorstellung, ZEIT-Texte zu den Interpreten und Komponisten von 1956 bis 2006) sehr interessant finde.



    Mit Nigel Kennedy habe ich mich vor dem Durchhören der Nr. 9 aus der DIE ZEIT Klassikedition (CD EMI 0094637408025, Buch Zeitverlag Gerd Bucerius ISBN 3-476-02209-9) nicht beschäftig, mir war egal, dass er als „enfant terrible“ galt und dass seine Vivaldi CD von 1989 das meistverkaufte Klassikalbum der Geschichte sein soll. Ich legte diese neunte CD der Edition ein und hörte Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ Op. 8 Nr. 1-4 (komponiert 1725) in eben jener meistverkauften, 1989 erstveröffentlichten Einspielung – wie ich finde sehr lebendig, frisch, zupackend, empfunden gespielt von Nigel Kennedy, im besten Sinn musikantisch, für mich irisierend schön der zweite Satz im „Herbst“ („Der schlafende Zecher“), voller Geheimnis dieser Satz, insgesamt eine auf mich sehr sympathisch wirkende Reise durch die Jahreszeiten. Kennedy leitete bei dieser Aufnahme das English Chamber Orchestra. Sicher gibt es spannendere Interpretationen. Wer aber aus welchen Gründen auch immer diese Aufnahme hat, hört ewig gute Musik, herzhaft gespielt. Immerhin. Nicht unbedingt eine Rarität ist auch das zweite Werk auf dieser CD, Felix Mendelssohn-Bartholdys Violinkonzert e-Moll Op. 64 (aus dem Jahr 1844), erstveröffentlicht von Kennedy im Jahr 1988. Begleitet haben ihn Jeffrey Tate und wieder das Englisch Chamber Orchestra. Ich bin auch diesem Werk nach vielen Jahren wieder begegnet, und es wurde eine erfreuliche Begegnung. Auch hier geht die Interpretation zu Herzen, Kennedy fühlt sich sehr schön und empfindsam in die Musik ein, fast ein wenig vornehm zurückhaltend (im Zusammenklang mit dem Orchester). Wieder: einfach gute Musik! Dies ist sicher eine eher konventionelle Interpretation des ersten berühmten romantischen Violinkonzerts, die ich aber gerne wieder hören werde. Das Buch bringt unter anderem einen Konzert-Verriss von 2002, einen Aufsatz zum Thema U- und E-Musik und Gedanken von Kennedy selbst mit dem Titel „Ich habe einen Traum“.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Ein persönlicher Höreindruck


    Am 27.8.2007 brachte DRS 2 eine Konzertaufzeichnung vom 24.8.2004 aus dem KKL Luzern vom Lucerne Festival. Es spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Mariss Jansons, der Solist war Frank Peter Zimmermann (Violine). Benjamin Britten komponierte sein Violinkonzert op. 15 zwischen November 1938 und September 1939, uraufgeführt wurde es 1940. Der erste Satz beginnt unglaublich intensiv, ein dezenter, aber markanter Rhythmus markiert die Atmosphäre. Sie ist angespannt. Das ist Musik aus einer Kriegszeit. Der Spanische Bürgerkrieg wirkt nach, Deutschland besetzt die Tschechoslowakei. Schostakowitsch und Prokofjew schimmern durch, wie bei diesen klingt vieles doppelbödig. Faszinierende motivische Ideen, in reizvollen Arrangements aufgelöst, prägen das Geschehen. Der Solist „psychologisiert“ extrem emotional durch diese vielschichtige, vielfach beklemmend dramatische Musik. Die Kadenz gestaltet Zimmermann zu einem diabolischen Tanz. Auch in der Folge schimmert verklärt Tänzerisches durch, es ist aber ein endzeitlicher, irrealer Tanz. Wie in Schostakowitschs 7. Symphonie meint man Lehars „Heut geh ich ins Maxim“ herauszuhören. Dann gelangt Britten, in der Passacaglia des dritten Satzes, zu mystischer, geheimnisvoll ruhiger Stimmung am Ende, aber innerlich brodelt es dabei. Ein ziemlich erschütterndes, unter die Haut gehendes Werk! Mit dem Andante aus der Sonate in a-Moll von Johann Sebastian Bach für Violine solo brachte Zimmermann auch eine sehr emotionale zweistimmige Zugabe. Emotion pur auch in Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 5 cis-Moll: Jansons versteht es, unglaublich intensiv zwischen „Kriegsalltag“, Erschütterung, Sehnsucht und Schmerz zu pendeln. Das Orchester wirkt dabei nie äußerlich effektvoll, immer „total drin“ in der Seele der Musik. Eine unglaublich zu Herzen gehende Aufführung dieses Werks, im Trauermarsch genauso wie in den dichten, vielschichtigen nächsten Sätzen (schön der Kontrast vom „ernsten“ zweiten zum „mehr heiteren“, tänzerischen dritten Satz!), dann im verinnerlichten Adagietto und im doch sehr positiv stimmenden Finale.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Ein persönlicher Höreindruck

    Ö 1 führte am 26.8.2007 in seiner Matinee live ins Große Festspielhaus von Salzburg. Die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt brachten im ersten Teil Schubert, nach der Pause Bruckner. Franz Schuberts „Intende Voci“ (Vernimm mein lautes Schreien), D 963, Offertorium B-Dur für Tenor, Chor und Orchester, 1828 komponiert, erklang unglaublich berührend, beseelt verinnerlicht – zuerst das Orchester (Oboe!), dann der Tenor (Michael Schade), dann der Chor (Wiener Staatsopernchor). Das ist gelebter, tiefer Glaube in Musik. „Der Gesang der Geister über den Wassern“, D 714, op.posth.167, komponiert für Männerchor (wieder Wiener Staatsopernchor) und Orchester, kam genauso vertieft und verinnerlicht, dann dramatisch – Harnoncourt schenkt dem Hörer nichts – der ist voll gefordert, wird mitgerissen. Es ist „schwere“ Musik! Aber unglaublich eindringlich! Anton Bruckners wunderbar große Symphonie Nr.7 E-Dur strahlte auch an diesem Sonntagvormittag echte Größe und intensive Bewusstheit aus. Im ersten und dritten Satz hörte man allerdings kleine Blech-Unsauberkeiten. Das führte den Hörer „in die Welt zurück“. Es musizierten Menschen.


    Herzlicher Gruß
    Alexander


    Die achte Folge der DIE ZEIT Klassik-Edition (CD EMI 0094637407820, Buch Zeitverlag Gerd Bucerius ISBN 3-476-02208-0) rühmt sich, Richard Wagners Musik „vom Nebel befreit“ vorzulegen. Das klingt spannend. Ich bin mit dem Wagner von Böhm, Solti, Boulez, Bernstein, Dohnanyi und anderen „sozialisiert (wagnerianisiert)“ worden. Die 1994 entstandene Aufnahme bringt die Ouvertüre zu „Rienzi“, Vorspiel und Liebestod aus „Tristan und Isolde“, das Vorspiel zu „Die Meistersinger von Nürnberg“, das „Siegfried-Idyll“, das Vorspiel zu „Parsifal“ und das Vorspiel zum 3. Akt „Lohengrin“. Vom ersten Ton an fasziniert mich der Klang der London Classical Players. Es ist ein wunderbar klarer, analytisch nuancierter, grundsätzlich freundlicher Orchesterklang. Was ist dann das so einschneidend „Andere“ bei Norrington? Bei der „Rienzi“ Ouvertüre, die ich nicht kannte (bzw. so selten gehört habe, dass ich sie „völlig neu“ hören konnte) fällt es mir nicht einmal auf, beim darauf folgenden „Tristan“-Vorspiel klappen sich die Ohren auf, so ent-pathetisiert, so rasch, so entschlackt, so ganz ohne „gewohnte Erhabenheit“ zieht die Musik vorbei. Die Vollblütigkeit des Orchesters wirkt bewusst abgebremst. Für mich ist das eine völlig neue Wagner-Hörerfahrung. Ich habe Probleme, mich in diese Interpretation einzufühlen, mit und in ihr mitzuleben. Sie spricht mich musikalisch (noch?) nicht an. Auch die anderen Ouvertüren und Vorspiele der CD sind von diesem völlig entschlackten Ansatz geprägt. (Beim „Siegfried Idyll“ ist es mir relativ egal, das Stück liegt mir nicht so am Herzen.) Norrington beruft sich im Begleitbuch (stellt ihn - und die Originalklangbewegung, die allerdings kritischer – sehr sympathisch vor, vor allem seine volksbildnerischen Aktivitäten!) darauf, dass Wagner selbst für das „Meistersinger“ Vorspiel nur acht Minuten benötigte, insofern sei seine Tempowahl wohlbegründet. Bei der Solistin in „Isoldes Liebestod“ (Jane Eaglen) hört man, dass sie keine deutsche Muttersprache hat, aber so etwas stört mich nicht. Allein schon weil die Hörerfahrung so ungewohnt war, werde ich diese CD in nächster Zeit öfter einlegen. Vielleicht „springt der Funke“ ja mal über. Noch steht auf meiner Wunschliste für die nächsten CD-Käufe Herbert von Karajans Salzburger Konzertmitschnitt mit Jessye Norman und den Wiener Philharmonikern ziemlich weit oben.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Ich persönlich überlege immer sehr lange, ob ich eine Meinung ins Forum stelle. Auch möchte ich immer durchklingen lassen, dass mir vielleicht etwas nicht gefällt, ich aber trotzdem hohen Respekt vor der künstlerischen Leistung habe. Gegenüber den Musikwissenschaftlern und Kennern besonders vieler Aufnahmen habe ich schon Komplexe, einfach so meine Meinung kundzutun.
    Als ich neulich über die Mozart-Quartette schrieb, bekam ich (so empfand ich es spontan) von Ulli „ziemlich eine auf den Deckel“. Habe mich dann sehr genau mit seinen Kritikpunkten an meinem Text befasst und mein Urteil revidiert. Bin seither noch vorsichtiger mit dem, was ich schreibe.
    Ein Geschmacksurteil bedarf meiner Meinung nach keiner Begründung. Ein Wertungsurteil sehr wohl. Es kommt auf die Formulierung an.
    Habe gestern Norringtons Wagner-CD aus der ZEIT Klassikedition gehört. Die hat mir überhaupt nicht gefallen. (Werde versuchen, noch heute darüber im Thread zur Edition zu schreiben.) Lese aber mit Gewinn etwa Zwielichts Meinung zu dieser Aufnahme, die völlig anders ist als meine.
    Urteile sind vielfach von Vor-Urteilen geprägt, vom Gewohnten, von dem, womit man aufgewachsen ist. Ich selbst komme, was die E-Musik betrifft, nur schwer von diesen „lieb gewonnenen“ Erfahrungen los. Wenn ich dann Meinungen darüber lese, die diese Aufnahmen in Grund und Boden verdammen, tut mir das schon weh. Dann sage ich mir aber (nach dem ersten Schock): Dieser für meinen Geschmack etwas scharf urteilende (womöglich die Meinung auch nicht begründende und begründen wollende) Schreiber hat aus welchen Gründen auch immer diese Extremmeinung, und ich möchte sie auch respektieren.
    Eine absolute Wahrheit gibt es in der Musik (wie überall) ja nicht. Für mich zählt eine Neuentdeckung genauso wie der Erfahrungswert von dreißig verglichenen Aufnahmen von Rachmaninows „Elefantenkonzert“ (habe ich in den 90ern mal durchgezogen).
    Ich persönlich finde es gut, E-Musik zu hören und sich davor oder danach zumindest den Begleittext der CD oder einen Konzertführertext durchzulesen, falls Computer zur Hand auch alles was dazu im Tamino Klassikforum steht (mittlerweile zuerst das, dann das andere). Das hilft mir viel zum besseren Verständnis vieler Werke.


    Herzlicher Gruß
    Alexander


    Nachsatz: Ich halte es auch für ganz entscheidend, in welcher Verfassung sich der Musikfreund/Rezipient befindet, wenn er Musik hört und danach urteilt. Auch das sollte man vielleicht berücksichtigen, bevor man ein "endgültiges" Urteil fällt.

    Das Hagen Quartett nahm Ludwig van Beethovens Große Fuge B-Dur Op. 133 bisher zweimal für CD auf: im April 1993 im Max-Joseph-Saal der Münchner Residenz (CD DGG 439 774-2, gekoppelt mit Schuberts Streichquintett D 956 mit Heinrich Schiff) und im Dezember 2001 im Minnesängersaal des Palatin von Wiesloch (CD DGG 457 615-2, gekoppelt mit Op. 130 und Bach/Mozart KV 405 und Mozart KV 546).



    Die erste Aufnahme dauert 15:30 Minuten. Wie immer sticht das schlanke, vibratolose Spiel des Quartetts ins Ohr. Diese „Große Fuge“-Aufnahme ist eigentlich recht musikantisch, der zweite „Meno mosso…“ Abschnitt (nach etwa fünf Minuten) kommt sehr empfunden, das Quartett holt Poesie, Geheimnis und sogar Tänzerisches aus dieser Viertelstunde heraus.
    2001 war das Quartett nicht nur mehr als zwei Minuten schneller (13:26 Minuten), es spielte das Werk jetzt brutaler, direkter, unheimlicher, erschreckender, unbarmherziger. Selbst der eben genannte „Meno mosso…“ Abschnitt wirkt kälter, distanzierter. Nur das tänzerische Element „hat überlebt“, es ist aber in diesem Umfeld ein eiskalter Tanz.
    Interessanterweise fangen die Coverbilder der CDs auch optisch sehr gut ein, welchen Grundcharakter das Hagen Quartett den jeweiligen Aufnahmen zugestand.
    Aus Neugier lege ich noch einmal die Aufnahme mit dem Amadeus Quartett in den CD Player, aufgenommen im September und Oktober 1962 in der Berliner Jesus-Christus-Kirche (aus der DGG 7 CD-Box 463 143-2). Sie dauert etwa so lange wie die erste Hagen Aufnahme (15:25 Minuten), man hört aber einen völlig anderen Streicherklang, mit Vibrato, satter, breiter. Man hört „gutmütige Kämpfer“, im „Meno mosso…“ Abschnitt hier „wissenden“ Trost. Das ist die „freundlichste“, versöhnlichste dieser drei Aufnahmen.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Ein persönlicher Höreindruck


    DRS 2 brachte am 20.8.2007 die Konzertaufzeichnung vom Vortag (wo das Konzert auch live auf ARTE zu sehen war) aus dem Konzertsaal des KKL in Luzern. Als ein Höhepunkt des Lucerne Festivals hörte man Gustav Mahlers Symphonie Nr. 3 d-Moll mit dem Lucerne Festival Orchestra unter der Leitung von Claudio Abbado. Da erklingt Musik aus dem Augenblick heraus – um Musikalität bemüht, nicht um äußerliche Effekte. Wie schon die letzten Jahre ist ein besonders üppiger Orchesterklang dieses mit Prominenz bestückten Klangkörpers zu hören. Manchmal spielt das Orchester nicht ganz zusammen (man hört, dass es ein Projektorchester ist, kein gewachsener Klangkörper), aber der vollblütige Klang wirkt herzerfrischend empfunden und offenbart reizvolle Klangfarben, die man so noch nicht gehört hat. Bei aller Monumentalität – Abbado hat es nicht nötig, auftrumpfend zu punkten, er entwickelt lieber eine ausgedehnte musikalische (symphonische) Reise voller Stationen, an denen sich die Orchestermitglieder engagiert einbringen können. Dabei bewahrt Abbado stets den Gesamtüberblick, zerfällt der riesige erste Satz trotz aller Detailliebe nicht, erblüht die Welt des zweiten und dritten Satzes (mit der „Weltferne“ der Posthornsoli) wunderbar lebendig. Selbst der „Wolkenbruch“ am Ende des dritten Satzes ist „geborgen in der Natur“. Anna Larsson (Mezzosopran) schwimmt in der Radioaufzeichnung mit ihrem Nietzsche-Solo „O Mensch“ leider etwas unter der Oberfläche, gegenüber den Orchesterstimmen wirkt sie akustisch zurückgenommen. Die Damen des Arnold Schönberg Chores Wien und den Tölzer Knabenchor haben die Tontechniker dann auch nicht ganz vorne, dafür singt Frau Larsson jetzt viel deutlicher (eventuell näher postiert an einem Mikrophon). Überwältigend schön (wie so oft), hier besonders innig und klangüppig, erklingt der große, langsame Finalsatz. Das „riecht“ nach einer DVD, für die aber wohl Korrekturaufnahmen notwendig sein werden…


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Die Folge 7 der 2006 erschienenen DIE ZEIT-Klassikedition bringt drei Klavierkonzerte mit Martha Argerich. Hier mein persönlicher Höreindruck.



    Drei Welten tun sich mit dieser CD (EMI 0094637407721) auf. Robert Schumanns 1841 bis 1845 entstandenes Klavierkonzert a-Moll Op. 54, 2002 live aufgenommen mit dem Dirigenten Alexandre Rabinovitch-Barakovsky und dem Orchestra della Svizzera italiana, nimmt die Argerich impulsiv und empfindsam, perlend und poetisch, sehr ausdrucksintensiv. Sie macht ein für viele vielleicht zu abgespieltes Werk wieder lebendig, hat etwas zu sagen – man hört ihr gerne zu. In einigen poetischen Momenten scheint die Zeit still zu stehen. Das gilt auch für die anderen beiden Werke der CD. Bela Bartoks Klavierkonzert Nr. 3 Sz. 119, im Todesjahr 1945 komponiert, eingespielt genauso wie das dritte Werk 1997 mit dem Orchestre Symphonique de Montreal unter Charles Dutoit (wie Rabinovitch-Barakovsky ein Expartner von Martha Argerich), führt in eine völlig andere musikalische Welt. Martha Argerich schifft souverän durch alle Stimmungswechsel. Ein Traum ist der zweite Satz. Der Mittelteil scheint ein Naturerwachen zu schildern. Noch mehr Stimmungswechsel gibt es in Sergej Prokofjews Klavierkonzert Nr. 1 Des-Dur Op. 10, entstanden 1911/12, ein viertelstündiges unbekümmertes Werk eines „jungen Wilden“. Die Argerich scheint nur darauf gewartet zu haben: Wenn sie das erste Mal loslegen kann, tut sie es gleich mit Feuer und Furor. Der zweite Satz wirkt fast wie ein impressionistisches Stimmungsbild. Ein spannendes, verblüffendes Werk, eine einzigartige Pianistin, ein starkes Stück dieser Edition. Im Buch (Zeitverlag Gerd Bucerius ISBN 3-476-02207-2) kann man u. a. interessante Gespräche mit Gidon Kremer (zur Zusammenarbeit mit der Argerich) und Andor Foldes (zu Bartok) lesen.


    Herzlicher Gruß
    Alexander


    Korrektur ISBN Teil 6 (Casals): ISBN 3-476-02206-6. (Die ISBN mit der Endung 0-5 ist die der Gesamtedition.).

    Das Hagen Quartett spielt Beethoven (persönliche Höreindrücke)






    Wie im Tamino Klassikforum bei Besprechungen einzelner Quartette bereits hervorgehoben wurde, zeichnet sich das Hagen Quartett durch eine extreme Einheitlichkeit bei gleichzeitiger technischer Makellosigkeit aus. Bezeichnend sind die dynamischen Abstufungen auf engstem Raum und die (hat man Beethovens Streichquartette zuvor so wie der Schreiber mit dem Amadeus Quartett gehört) Kontraste, die Spannungsbögen und Gefühlslagen wie Angst oder Einsamkeit drastisch zu verdeutlichen vermögen. Das Hagen Quartett hat Beethovens Quartette nicht als Zyklus aufgenommen, konsequent erst ab Ende 2001, es hat einige Werke Beethovens überhaupt noch nicht eingespielt, andere lieber mit Schubert gekoppelt. Die Chronologie vermerkt folgende Aufnahmedaten: Oktober 1990 (München, Plenarsaal der Akademie der Wissenschaften, Op. 135, CD DGG CD 421 614-2, dem Schreiber vorliegend als Sonderauflage DGG 78 729 1), Dezember 1996 (Salzburg, Mozarteum, Großer Saal, Op. 18/4, Op. 95 und Op. 131, CD DGG 459 611-2 und CD DGG 471 580-2), Dezember 2001 (Wiesloch, Palatin, Minnesängersaal, Op. 130 und Op. 133, CD DGG 457 615-2), April 2002 (Mondsee, Schloss Mondsee, Op. 59/1, CD DGG 474 234-2), Jänner 2003 (Mondsee, Schloss Mondsee, Op. 18/1, CD siehe Op. 59/1), November 2003 (Mondsee, Schloss Mondsee, Op. 132, CD DGG 00289 477 5705) und März 2004 (Wiesloch, Palatin, Minnesängersaal, Op. 127, CD siehe Op. 132).
    Musik – so suggeriert mir das Hagen Quartett – ist nichts, was aus dem Augenblick entsteht. Sie erklingt als wohl kalkulierte, bis in winzigste Nuancen perfektionierte, aus der totalen Gleichberechtigung der vier Mitwirkenden heraus entwickelte Interpretation. Das birgt die Gefahr und gleichzeitig die Faszination, eine grundsätzliche Kälte über allem dominieren zu lassen, eine „wissende, manchmal trockene Überheblichkeit“. Dass es trotzdem gelingt, den Hörer vielfach total in den Bann der Musik zu ziehen, zu verblüffen, zu überraschen, liegt am oft immens musikalisch durchleuchteten (subjektiv gefundenen) Grundcharakter der Werke. Das beste Beispiel ist Op. 95. Das Hagen Quartett verblüfft den Hörer mit einer extrem aggressiven, unheimlichen Aufnahme des Werks. (Habe im Thread zu Op. 95 ein bißchen mehr dazu geschrieben.)
    Der Ansatz des Quartetts ist klar, entschlackt, alles ist glasklar durchhörbar, selbst bei irrwitzig raschen Passagen. Nach vorne drängender Impuls, nervöse Energie – bis zu atemloser Spannung geraten viele raschere Sätze Beethovens beim Hagen Quartett. Beispiele hört man gleich in Op. 18/1 oder Op. 18/4. Bewusste, erschütternde, beklemmende Kälte offenbart das Violinsolo in der expressiven Cavatina aus Op. 130. Hier spielt ein Quartett der kalten Jahrtausendwende, keines mehr der „romantisch-versöhnlichen Musiziertradition“.
    Op. 95 und Op. 135 wurden jeweils mit einem Schubert-Quartett gekoppelt. Die CD mit Op. 130 und Op. 133 sehe ich als Konzeptalbum zum Thema „Fugen in Streichquartettbesetzung von Bach/Mozart und Beethoven“. Mit der Wahl des Op. 133 als Finale von Op. 130 wird der Bogen dieser CD, der mit Mozarts KV 405 und KV 546 beginnt, konsequent abgerundet.
    Uneingeschränkt empfehlen möchte ich die CD mit Op. 127 und Op. 132. Der „vollkommen klare“, irisierend schöne zweite Satz von Op. 127, der dritte Satz von Op. 132 – das sind sicher Meilensteine der Interpretationsgeschichte.
    Von der Großen Fuge Op. 133 gibt es bereits zwei Einspielungen mit dem Hagen Quartett. Die frühere habe ich zur Zeit bestellt. Bin gespannt auf den Vergleich.


    Herzlicher Gruß
    Alexander


    Das Hagen Quartett (derzeit kriegt man die CD offenbar nur überteuert) verblüfft den Hörer mit einer extrem aggressiven, unheimlichen Aufnahme des Werks. Der erste Satz kommt wie ein Spuk daher. Ich habe den Vergleich mit dem Amadeus Quartett: Dort kommen die "beruhigenden" Passagen versöhnlich, hier treiben sie die erschreckende, unheimliche Atmosphäre fort. Das ist ein faszinierender Gruselkrimi in Musik! Großartig, wie die Spannung durchgehalten wird! Den ersten Satz spielt das Hagen Quartett eine Minute schneller als das Amadeus Quartett (3:47 gegenüber 4.:47). Insgesamt sind sie um zweieinhalb Minuten flotter als die Herren um Brainin. Das Grundkonzept einer unheimlichen, nahezu beängstigenden, dabei technisch makellosen Gestaltung durchzieht alle vier Sätze. Diese Aufnahme ist nichts für Menschen, die sich durch Musik nur unterhalten lassen wollen, widersetzt sich jedem "Nebenbeihören". Sie fordert den Hörer total, wühlt ihn auf. Ich persönlich mag Interpretationen wie diese sehr, kann mir aber vorstellen, dass eine solch extreme, nahezu brutal direkt erschreckende Auffassung nicht jedem zusagen mag.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    KEITH JARRETT: FACING YOU



    Im November 1971 ging der 27jährige Pianist aus Allentown (Pennsylvania) ins Arne Bendiksen Studio in Oslo und nahm dort seine erste Klavier-Soloplatte auf. Acht Improvisationen, zwischen drei und zehn Minuten lang, sind zu hören. Jarrett, Band-erfahren durch die Zusammenarbeiten mit Art Blakey, Charles Lloyd, Charlie Haden, Paul Motian und Miles Davis, liefert ein kraftvolles Solodebüt. Impulsiv treibendes Klavierspiel überfällt den Hörer, dann großteils richtig rockig groovend, komplexe Phrasen, jeweils klassisch kurz auskadenziert: Das erste und längste Stück der CD (ECM 1017, 827 132-2) nennt sich „In Front“. Der Sog von Jarretts Klavierspiel ist stark, die Stimmungswechsel lassen den Hörer eintauchen und „abdriften“ in diese musikalische Welt. Im zweiten Stück „Ritooria“ (und in den meisten anderen auch) „philosophiert“ die rechte Hand virtuos bis träumend vor sich hin. Man hört bald auf, Strukturen zu suchen, die Musik entzieht sich noch mehr als viele andere Musik einer Beschreibung. Im dritten Stück „Lalene“ träumt man im sanften Rhythmus mit. „In Front“ und „Lalene“ sind auch gute Anspieltipps für diese CD. Der Schreiber war eine Zeitlang geneigt, nur die Solo-Konzertplatten von Jarrett zu sammeln, wusste aber um die Qualität von „Facing You“. Sie würde fehlen, stünde sie nicht im Regal.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Der sechste Teil der 2006 erschienenen DIE ZEIT Klassik-Edition gehört Pablo Casals und drei Cello-Solosuiten von Johann Sebastian Bach.



    Man liest im Buch (Zeitverlag Gerd Bucerius ISBN 3-476-02200-5) von der Pionierleistung des großen katalanischen Cellisten, Bachs um 1720 komponierte sechs Suiten für Violoncello solo für den Konzertsaal und die Schallplatte entdeckt zu haben, es findet sich darin aber auch unter anderem ein biographischer Text des Künstlers aus dem Jahr 1964. Die CD (EMI 0094637407622) enthält die Suite Nr. 1 G-Dur BWV 1007, die Suite Nr. 4 Es-Dur BWV 1010 und die Suite Nr. 5 c-Moll BWV 1011, aufgenommen im Zuge der weltweit ersten Gesamteinspielung (1936 bis 1939). Jede Suite umfasst sechs Sätze. Casals „lebt“ die Musik, er macht die einzelnen Sätze zu Charakterstücken, findet für jeden eine eigene „Sprache“. Es ist eine faszinierende Art beseelten, ganz persönlichen, expressiven Musizierens. (Mir fällt dabei der Jazz-Saxophonist Charlie Mariano ein.) Hervorheben kann man vielleicht die Sarabande der 4. Suite und das Prelude aus der 5. Suite. Der Einführungstext des Buches umschreibt wie ich finde kongenial, was man auf dieser CD hört: „Charme, tänzerische Leichtigkeit, Gesang, Flexibilität und Vitalität des Ausdrucks“.


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    Alexander

    Ludwig van Beethovens Streichquartette mit dem Amadeus Quartett (DGG 7 CD 463 143-2) - ein persönlicher Höreindruck


    Es wird wohl so gewesen sein, dass die Deutsche Grammophon mit Beginn der Stereofonie möglichst bald eine Komplettaufnahme von Beethovens Streichquartetten anbieten wollte. 1963 war diese fertig eingespielt. In der Reihe „Collectors Edition“ erschien im September 1999 die zwischen 1959 und 1963 aufgenommene Gesamtaufnahme des Amadeus Quartetts auf CD. Im Beibuch würdigt Steven E. Paul das Quartett, das von 1948 bis 1987, bis zum Tod von Peter Schidlof, ohne Personaländerung miteinander musizierte. Der Schreiber hat in den Monaten vor der Beschäftigung mit Beethovens Quartetten, die er vor etwa 20 Jahren in der Aufnahme mit dem Juilliard Quartett aus den 60ern (damals noch auf LP) kennen und schätzen lernte, viele Haydn Quartette mit dem Amadeus Quartett gehört und dabei nicht immer Gefallen gefunden an der oft „süßlich-geschmierten“ Tongebung des Primgeigers Brainin sowie am etwas robusten Zusammenspiel (was keineswegs die Würdigung der interpretatorischen Gesamtleistung dieses Quartetts schmälern soll). Es „half“ das bei Haydn herzerfrischend musizierende Hagen-Quartett, das den Schreiber dann auch durch Mozarts unsterbliche Streichquartettwelt führte. Die akustische Reise durch Beethovens Quartette – hört man sie nach Haydn und Mozart, ist man einmal mehr überwältigt von dieser unglaublichen subjektiven Persönlichkeit, die es schafft, aus der Hingabe des Könnens und Talents an die Musik die Hingabe des Ich an die Musik ins Einmalige zu steigern – gehört, da als Gesamtaufnahme verfügbar, nun wieder dem Amadeus Quartett.



    Selbstbewusst reiht sich Beethoven mit den sechs Quartetten op. 18 (1778 bis 1800 entstanden, aufgenommen im September 1961 im Beethoven-Saal von Hannover) in die Reihe der Streichquartettkomponisten ein. Sie haben alle vier Sätze, dauern hier zwischen 20 und 25 Minuten, meist ist der dritte ein Scherzo oder Menuett. Die langsamen Sätze werden oft zu großen Seelendramen. Weiter gespannte Themen und Durchführungen zeugen von Beethovens Individualität. Das Amadeus Quartett spielt mit beherzter, „wissender“ Selbstverständlichkeit. Leider mag es die Wiederholungen der Expositionen nicht und lässt sie gerne weg. Man kennt Brainins Geigenton und hat sich daran gewöhnt. Musikalisch bemerkenswert erscheinen dem Schreiber der von der Grabszene aus Shakespeares „Romeo und Julia“ inspirierte zweite Satz von Op. 18/1, aus dem freundlich-heiteren „Komplimentierquartett“ Op. 18/2 der Allegroteil im zweiten Satz, im eher unkompliziert wirkenden (als erstes der sechs Werke entstandenen) Op. 18/3 neben dem schön fließenden zweiten Satz das schon sehr kunstvoll komponierte Finale, der ganz eigene c-Moll Charakter im ersten und letzten Satz von Op. 18/4 sowie dessen ungewöhnlich flotter zweiter Satz (dem Schreiber fällt dabei Beethovens Achte Symphonie ein) und die schroffen Synkopen im Menuett dieses Werks, außerdem der inspirierte Variationssatz über ein schönes Andante-Thema in Op. 18/5, der große zweite Satz des Op. 18/6 und dessen ungewöhnlich-geheimnisvoller langsamer Teil „La Malinconia“ im Finale, der gegen Schluss noch einmal wiederkehrt, ehe sich die Heiterkeit durchsetzt.


    Was für ein Sprung zu den drei Quartetten Op. 59 (komponiert 1805/06, aufgenommen im April und Mai 1959 im Beethoven-Saal in Hannover)! Eklatant, wie hier Beethovens Personalstil ausgeprägt erscheint. Eine Offenbarung! Man erlebt die Musik elementar, als Charaktermusik. Noch größere Seelendramen entfalten sich, zumal in den langsamen Sätzen. Über 37 Minuten dauert das weitläufige erste Werk, die anderen beiden um die 30 Minuten. Spannend erlebt der Hörer nicht nur die Introduzione zum dritten Quartett. Mit Beethovens Op. 59 hat die Gattung des Streichquartetts einen gewaltigen Sprung gemacht In Op. 74 (1809, zusammen mit Op. 90 aufgenommen im Mai und Juni 1960 im Beethoven-Saal von Hannover) fällt die „mysteriöse“ Einleitung zum ersten Satz auf, natürlich auch der große, wunderbare zweite Satz. und Op. 90 (1810) unterstreicht die Einmaligkeit und Individualität jedes Werks von Beethoven. Das Amadeus Quartett lässt den Hörer mitleben bei dieser Musik, es wirkt bei den mittleren Quartetten „ganz zu Hause“.


    Das chronologische Durchhören schafft eine gute Basis für die komplexeren letzten Streichquartette, die zwischen 1823 und 1826 entstanden. Op. 127 (zusammen mit Op. 135 eingespielt im März und April 1963 im Berliner Ufa-Studio) mutet klassisch an, der 15 Minuten lange Variationssatz streckt das Werk auf über 36 Minuten Länge. Subjektive Kontraste fallen in Op. 130 (zusammen mit Op. 133 aufgenommen im September und Oktober 1962 in der Berliner Jesus-Christus-Kirche) auf. Und Beethovens Genialität kommt vielleicht am meisten im fast 40 Minuten langen Op. 131 (aufgenommen im Juni 1963 im Beethoven-Saal von Hannover) zur Geltung. Ein Geniestreich sondergleichen, diese sieben Sätze! Das längste Quartett in der Box ist Op. 132 (eingespielt im April 1962 in der Berliner Jesus-Christus-Kirche) mit fast 43 Minuten. Wer sich durch die Viertelstunde der Großen Fuge Op. 133 gekämpft hat, wird von Beethoven mit dem wieder klassisch-gemäßigteren Op. 135 aus dessen Streichquartettwelt entlassen. Für den Schreiber war die überraschende, schöne Hörerfahrung interessant, dass das Amadeus Quartett vom frühen zum späten Beethoven zu einer großartigen interpretatorischen Einheit verschmolz. Ab Op. 59 stören Brainins Eigenwilligkeiten weniger, und bei den späten Quartetten leben die vier Herren die Musik total erfühlt aus, souverän wie emotional. Das scheint „ihre“ Musik zu sein, ihr Herzensanliegen, viel mehr als Erfüllung von Plattenverträgen und routinierte Pflichterfüllung.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Gestern brachte ARTE um 19 Uhr eine Aufzeichnung aus Leipzig von 2006. Martha Argerich war die Solistein im Klavierkonzert a-Moll, dirigiert hat Riccardo Chailly, es spielte das Gewandhausorchester. Diese Aufnahme ist als DVD verfügbar. (Als Zugabe spielte Martha Argerich das erste Stück der "Kinderszenen".)



    Meine Meinung:
    Martha Argerich kommt mit ihrer Nuancierungs- und Empfindungskunst nie in eine "beiläufige" Bahn. So wie diese Interpretation stelle ich mir beseelte Musik vor. Sie setzt eine Phrase an, und man hört, diese Phrase ist gleichzeitig beseelt empfunden und souverän durchdacht. Argerich kennt und kann dieses Werk in- und auswendig (das sieht und hört man), aber sie gibt dem Hörer immer das Gefühl, mit ihrem Klavierspiel die ganze Seele der Musik aufzublättern, sich bei aller auch im Gesichtaausdruck deutlich sichtbarer Souveränität immer die musikalische Substanz zu verinnerlichen und alles mit selbstverständlicher Virtuosität zu überblicken. Chailly und sie haben sehr genau das Zusammenspiel mit dem Orchester durchgearbeitet, es wirkt aber nie akademisch, immer ganz musikalisch.


    Herzlicher Gruß
    Alexander

    Aziza Mustafa Zadeh im Stadtsaal Fürstenfeldbruck, 25.7.2007


    Eine Pianistin, die auch singt. Da fällt die Musikgeschichte mit Weltmusik ineinander, Barock, Klassik, Jazz, aserbaidschanische Volksweisen – Keith Jarretts Kunst verschmilzt mit der von Bobby Mc Ferrin. Technisch spielt die Künstlerin mindestens so virtuos wie Friedrich Gulda seine „Variations“ spielt. Sie moderiert zwischendurch auf Englisch, was den Abend sympathisch persönlicher macht. Ihre Stücke wirken eher durchkomponiert als spontan, aber es gibt sicher auch einige improvisatorische Elemente. Wir hören Jazz-Stücke, große Balladen, sehr inspirativ, souverän virtuos, aber immer total beseelt. Es ist nie Virtuosität als Selbstzweck. Aziza Mustafa Zadeh ist vielmehr eine eigentümliche, spannende Mischung aus (damit kokettierender) Diva und Priesterin der Musik. Etwa 50 Prozent der Beiträge sind selbst begleitete Gesänge, die Künstlerin scheut sich auch nicht vor der Gräfin Almaviva und der Königin der Nacht. Es ist aber niemals plakative Zurschaustellung technischen Könnens, es ist immer beseeltes Durchwandern der Stimmungen. Eine Schamanin trifft die Les Swingle Singers, und Gershwins „Summertime“ erblüht auch völlig neu. Das ist große Kunst! Eine faszinierende Person, einerseits zart und bescheiden wirkend, andererseits mit enormer Kraft am Klavier perlend. Für ein paar Minuten stellt sie sich ans Stehmikrophon und singt zur Rahmentrommel, wie es Bobby Mc Ferrin auch gerne tut. Dabei sorgt die Tontechnik durch Echoeffekte für verstärkte Wirkungen. Ganz am Ende setzt Aziza Mustafa Zadeh die Chance des gemeinsamen Erlebens von Musik den Kriegen in der Welt entgegen. Sie hat mit ihrer Kunst das Publikum im fast ausverkauften Stadtsaal von Fürstenfeldbruck tief beeindruckt.


    Herzlicher Gruß
    Alexander