Beiträge von Sixtus

    Ich bin mal wieder zu spät gekommen - und will deshalb, etwas summarisch, das Versäumte nachholen:


    Lieber Stimmenliebhaber! Wenn ich deinen Beitrag Nr.72 richtig interpretiere, stammst du aus der DDR. Ich auch, bin ihr aber schon 1955 entflohen, kenne mich deshalb in deren weiterer Kulturszene nicht aus - und habe sie deshalb nicht thematisiert. Umso mehr war ich über deine reichen Kenntnisse erstaunt. Ich bin aber begeistert von Sängern wie Dvorakova, Wenkoff und Herlea, die das dortige Opernleben sicher anständig aufgemischt haben.


    Was du und Mme.Cortese wissen wollen über die Relevanz fremdsprachiger Sänger für unser Thema: Die besteht vor allem bei Wagner. Italienisch lernt jeder Sänger auf der Hochschule, aber Deutsch? Und dann noch Wagner-Deutsch? Da gibt es schon Probleme. Nicht alle Sänger konnten ihre Artikulation ihrer stimmlichen Leistung an die Seite stellen. Das hat sich erst allmählich gebessert. Eine Zeitlang klang manches sehr amerikanisch oder einfach nach Kauderwelsch. Solche Texte kann man nicht nur phonetisch auswendig gelernt, heruntersingen, die muss man erst mal selber verstehen, daraus eine dramatische Szene werden soll.
    Und damit sind wir gleich beim Thema Langeweile und Geschwätzigkeit bei Wagner. Ob das so empfunden wird, hängt nicht nur von der Person des Hörers ab, sondern auch von der Fähigkeit der Sänger, den S i n n des Textes adäquat zu transportieren.
    Dazu hat ja auch Rheingold schon einiges gesagt, dem ich nur zustimmen kann.


    So viel fürs Erste. Bis demnächst! Sixtus

    Jetzt, nachdem dieser unverzeihliche Lapsus meinerseits entdeckt und ausgeräumt ist, könnten wir eigentlich beginnen. Und damit
    klar ist, warum es mir geht, fange ich gleich selber an:


    In meiner Stuttgarter Zeit war der Zugriff auf alle wichtigen deutschen Tenorpartien in den Händen des Haustenors Windgassen, der ein sehr intelligenter Sänger und Darsteller war, dessen Stimme sich aber damals eher dünn ausnahm. Damals sang ich als Mitglied des Verstärkungs-Chors in allen großen Choropern mit. Immer wenn bei den Meistersingern Hans Hopf gastierte, war für mich ein
    Freudentag, weil da ein Heldentenor den Stolzing sang. Den löste der Amerikaner Jess Thomas ab, und ich durfte mich weiter freuen, obwohl der anfangs noch Schwierigkeiten mit der deutschen Aussprache hatte. Das konnte ich regelmäßig im Wechsel mit Windgassen studieren. Da bei Wagner Stimme und Diktion beide sehr wichtig sind, war ich hin- und hergerissen.


    Später, als immer mehr ausländische Sänger kamen, hatten die meisten ihre deutschen Rollen schon ziemlich perfekt vorstudiert, und die Theater richteten außerdem Sprachcoatchs ein. So konnten Sänger wie Thomas Stewart oder James King ein ziemlich astreines Deutsch (sogar Wagner-Deutsch) artikulieren, sodass sie auch von Karajan u.a. für Plattenproduktionen eingesetzt wurden. Aber nicht alle erreichten dieses Niveau. Ich bin siche, dass die Älteren unter euch ähnliches berichten können.


    In diesem Sinne beste Grüße von Sixtus

    Man lernt immer wieder hinzu: Es ist nicht immer hilfreich, seine Aussagen mit Beispielen zu veranschaulichen. Das kann nach hinten losgehen, weil sich auch andere auf ihre Ohren verlassen. Und es lässt sich leider nicht zweifelsfrei feststellen, wer die besseren Ohren hat. Ich habe also keine Veranlassung, meine Beurteilung um 180 Grad zu drehen. Obendrein habe ich vermutlich einen Rekord eingefahren: acht zitierwürdige Sätze in zehn Zeilen. Aber das lag nicht in meiner Absicht.
    Mein Wunsch wäre eher (ich wiederhole mich, weil bisher noch keine Reaktion darauf kam), den Beitrag nicht deutschsprachiger Sänger im deutschsprachigen Repertoire zu würdigen - mit eurer Hilfe, versteht sich.
    Ich denke dabei an zwei Wellen: einmal die Amerikaner und Asiaten in den 60er biis 80er Jahren - und dann vor allem die vielen Osteuropäer ab den 90ern. Die Diskussion ist eröffnet!
    Beste Grüße von Sixtus

    Beim letzten Dialog von euch beiden, Mme.Cortese und Stimmenliebhaber, kam mir abwechselnd der Impuls, jeweils zuzustimmen, obwohl ich wahrlich kein Opportunist bin. Schließlich habe ich mich dazu durchgerungen, auf diesem "Nebenkriegsschauplatz" als "Schlichter" aufzukreuzen und zu rufen: Ihr habt ja beide so recht!
    Was ich meine: Euer beider Argumente sind nachvollziehbar. Wenn man sie etwas durchschüttelt, geben sie sogar eine sehr gute Mischung, die ich etwa so zusammenfasse:


    Bellini hat seine Längen (Sonnambula Beginn 2.Akt!), Puccini hat seine Durststrecken (Manon Lescaut 1.Akt!). Aber beide haben auch die Norma und die Tosca hervorgebracht und sind schon deshalb Fixsterne am Himmel der Operngeschichte. Man muss allerdings auch den Beginn 3.Akt Puritani und den 2.Akt Butterfly (nach ihrer Arie) dramaturgisch überstehen. Sehen wir lieber davon ab, sie gegeneinander auszuspielen.


    Was das Bedauern über manches Vergessene betrifft: Leider sind (nicht nur in der Oper) manche Stücke, ja ganze Stile, so zeit- und ortsgebunden in ihrer Atmosphäre, dass sie kaum über Grenzen transportierbar sind. Lortzing spröder Charme ist kaum für Frankreich kompatibel, Aubers und Adams Esprit kaum für Deutsche abendfüllend. So müssen wir leider ins jeweilige Heimatland fahren, wenn wir uns an ihnen delektieren wollen. Ähnliches ließe sich über Marschner sagen, der ein großer Anreger war, aber selber keinen echten Knüller hinterlassen hat (obwohl er doch aus meiner Heimatstadt Zittau stammt!).


    Und was die politische Substanz betrifft: Da ist die Oper wohl doch das falsche Medium, trotz Nabucco und Stumme von Portici, aber Ausnahmen gibt es immer. D´accord?


    Mit diesem kleinen Zwischenruf grüßt
    Sixtus

    Es sieht fast so aus, als ob die (rhetorische) Eingangsfrage einigermaßen geklärt ist:
    Die beiden Extreme "Belcanto und dramatischer Gesang" sind nicht nur vereinbar, sondern bedingen sich in einer Oper, die zugleich ein Drama sein will, gegenseitig. Je nach Temperament und gesangstechnischer Fertigkeit beherrscht ein Sänger mehr den einen oder den anderen Pol - im Idealfall beide. Wenn dann noch die Sensibilität für den Liedgesang hinzukommt, ist das Gesangsparadies perfekt.
    Das war auch Wagners Forderung: den Belcanto mit den Besonderheiten der deutschen Sprache in Einklang zu bringen. Dieses Thema, um die Mitte des 19.Jh. entstanden, ist aber immer wieder in den Hintergrund getreten, ja vergessen worden. Besonders bei der Interpretation von Wagners Werken. Es wurde verschärft durch die vielen fremdsprachigen Sänger, die nach dem II.Weltkrieg nach Mitteleuropa kamen, weil hier die größte Rheaterdichte die Sänger anlockte - und bis heute anlockt.
    Es wäre eine Diskussion wert, in welchen Fällen die "Integration" amerikanischer, asiatischer und osteuropäischer Sänger im Umgang mit den Ansprüchen dieses "deutschen Belcanto" gelungen ist. (Beim italienischen Repertoire scheint das ja ziemlich gut gelungen zu sein, beim deutschen sehe ich da noch manche Defizite.)
    Wenn eine Diskussion darüber ohne allzu großes Ausufern auf persönliche Lieblingsterrains gelänge, wäre das erfreulich. Wenn nicht, könnten wir das Thema auch beenden. Doch das fände ich schade.
    Beispiele lassen sich leicht finden. Also fangen wir doch an!
    Das wünscht sich Sixtus.

    Da habe ich ja einiges versäumt. Gestern war ich nämlich in einem Vortrag des Münchner Musikwissenschaftlers J. M. Fischer über das Thema "Liebestod", und das musste ich erst verdauen. Passt aber nicht hierher - vielleicht ein andermal...
    Ihr habt euch inzwischen gut unterhalten, wie ich sehe.


    Mit vielem bin ich d´accord, z.B. mit Hamis Hymne auf Flagstadts Brünnhilde. Auch über den Stellenwert von Norma gibt es keinen Dissens. Ich gehe so weit, diese Oper als Scharnier zwischen Belcanto und Musikdrama zu sehen. Ähnliche gilt, glaube ich, für Verdi, dessen Werkreihe eine einzige Verbindungslinie zwischen beiden Polen der Gattung Oper darstellt, wobei sich die Gewichte immer mehr vom ersten zum zweiten Pol verschieben. Gute Verdi-Sänger sind deshalb auch als Lohengrin, Venus, Senta oder Wolfram zu gebrauchen. Dagegen glaube ich mit Rheingold, dass Goerne zwar ein exzellenter Liedersänger ist, aber sein Wotan kann nur eine unfreiwillige Karikatur werden.


    Eine Anmerkung zu Rodolfos Zustimmung zu Domingos Baritonkarriere: Es gibt Sachen, die kann sich nur ein Star erlauben. Ich bewundere seine märchenhafte Tenorlaufbahn. Aber an der Stelle, wo fast alle (mit gutem Grund) aufhören, konnte er sich erlauben, zu behaupten: ...Das kann ich und noch mehr! Natürlich kann er das. Er ist ein starker Darsteller. Und er hat eine gute Tiefe - für einen Tenor! Aber wer seinen Merrill, Bastianini, Warren, Hvorostovsky kennt, merkt beim zweiten Ton: Die Tiefe ist zwar da, aber sie ist eher indifferent und mulmig als baritonal. Aber er hat eine riesige Fangemeinde und füllt die Kassen. Vielleicht immer noch besser als Goerne (den ich sehr schätze!) als Wotan...


    So viel für heute. Viele Grüße von Sixtus

    Liebe Gesangs-Enthusiasten!
    Unser Ursprungsthema, die Frage nach der Vereinbarkeit von Belcanto und dramatischem Gesang, wäre damit zunächst positiv beantwortet: Es gibt im Grunde keinen Widerspruch, wenn die Musik wirklich ernstgenommen wird. Es handelt sich eher um die beiden Pole des Operngesangs, die in den Kompositionen unterschiedlich gewichtet sind.
    Große Interpreten decken oft beides ab. Nur liegt der Schwerpunkt manchmal mehr bei dem einen, manchmal mehr beim anderen Pol - je nachdem, wo der Interpret seine Stärke hat.


    Mich würde in dem Zusammenhang interessieren, ob und nach welcher Richtung wir die Fragestellung vertiefen wollen. Da tun sich verschiedene Möglichkeiten auf: Wo gibt es zur Zeit Defizite, Krisen Versäumnisse? Welche Strömungen sind aktuell? Welches Klangspektrum erwarten wir (heute) von einem Sopran / Tenor / Bass etc.? (Das wandelt sich ja, teils unmerklich, teils rasant.)
    Wie stehen wir als Hörer zu Stimmlagenwechsel (z.B. Domingos Alterskarriere) oder zu Besetzungsmoden bei Kastratenpartien?
    Erfordert Liedgesang grundsätzlich andere Stimmen als Operngesang?
    Es wäre schön, wenn wir davon einiges ansprechen könnten.


    In diesem Sinne grüßt euch
    Sixtus

    Hallo hart!
    "Wer du auch seist..." - willkommen in dieser Runde! Dass die allseits bekannte Wilhelmine hier noch nicht erwähnt wurde, liegt vermutlich daran, dass es von ihr keine Tondokumente gibt. Wäre sie damals am Mittelmeer geboren worden, wäre sie wohl eine Callas des 19.Jh. geworden und hätte auch Verdis Hybrid-Partien gesungen. Also: d´accord!
    Aber auch unsere Zeit hat einiges in der Art hervorgebracht. Da fällt mir Waltraud Meier ein und Hildegard Behrens - und davor Martha Mödl und Astrid Varnay. (Auch Hans Hotter war so ein Gesamtkunstwerk.)


    Was siie aber allesamt von den Sängern unterscheidet, die PRIMÄR durch ihre STIMME (inklusive Gesangstechnik) ihre Triumphspur idurch alle Stile zogen und ziehen (und von denen einige auch schauspielerisch enorme Ausstrahlung hatten und haben), ist doch die souveräne Beherrschung ihres Instruments bei den letzteren. Ich denke (neben Nilsson und Rysanek, Stemme und Harteros) etwa an Siepii und Kipnis, die auch Wagner gesungen haben, an Geoge London, der als Don Giovanni, Amonasro und Scarpia ebenso Maßstäbe gesetzt hat wie als Holländer, Amfortas, Wotan - und Mandryka. Bei den Tenören mussten wir länger warten (Björling und Wunderlich starben zu früh), bis Jonas Kaufmann den Beweis erbrachte, dass es auch in dieser Stimmlage möglich ist, fast alles zu bewältigen.
    Aber ich sehe: "Der Gegenstand reißt so mich hin!" - und ziehe mich erst mal wieder, mit den besten Grüßen, zurück.
    Sixtus

    Dass es immer Überschneidungen zwischen den Stimmfächern gibt, Rodolfo, zeigt ja grade, dass Sänger mit reich ausgestatteten Stimmen und intakter Gesangstechnik vielseitige Möglichkeiten ausschöpfen können, während andere, die sich da falsch einschätzen, auf die Nase fallen.
    Bei René Pape wird man sicher selten unangenehme Überraschungen erleben: Die Stimme sitzt, und er kann sie nach Bedarf bändigen oder strömen lassen, also ein breites Repertoire abdecken. Allerdings je höher eine Stimme ist, desto empfindlicher ist sie in der Regel. Aber ein perfekter Stimmsitz ermöglicht auch da stilistisch gegensätzliche Stücke zu bewältigen wie Santuzza und Norma oder Werther und Lohengrin (Kaufmann!). Caruso sagte von sich, er färbe seine Stimme für jede Partie anders ein.


    Für unser Thema heißt das doch: Je besser der Sänger technisch (und geistig!) ausgerüstet ist, desto mehr Möglichkeiten stehen ihm offen. Karrieren wie die von Nina Stemme (und inzwischen auch Anja Harteros) beweisen das immer wieder. Und es wachsen auch bei den Männern vielseitige Talente nach, die abwechselnd lyrisch und dramatisch, italienisch und deutsch überzeugen.
    Das scheint eine erfreuliche Perspektive zu eröffnen: Wenn derselbe Interpret beides (und noch mehr) kann, bringt das auch die divergierenden Stile (und ihre "Fans"!) einander näher.
    Ich selbst liebe Wagner. Aber mich als Wagnerianer einzuordnen, würde ich als Beleidigung betrachten; denn ich liebe Verdi und Mozart nicht weniger - nur anders, wegen anderer Qualitäten...
    Bevor ich ins Schwärmen komme: Schöne Grüße von
    Sixtus

    Den letzten beiden Beiträgen kann ich nur zustimmen.
    Von dir, Gregor, habe ich wieder etwas Erfreuliches über Calleja erfahren, und Stimmenliebhaber unterfüttert meine letzten Bemerkungen über Wagner mit Details über die Einflüsse von Weber, Marschner und Meyerbeer auf ihn, die ich unterlassen habe, um ein erneutes Verzetteln zu vermeiden. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass Wagner erst er selbst wurde, indem er sie alle drei auch "überwunden" hat. Und das ist, meine ich, mit dem "Holländer" geschehen.


    Der Einwand, der eigentliche Gegenpol zum Belcanto sei der Verismo, rennt bei mir offene Türen ein. Dabei darf man aber nicht übersehen, dass selbst in überwiegend veristischen Opern, ein gutes halbes Jahrhundert nach Bellini, viel Kantilene steckt (Tosca, Chénier, Cavalleria, Pagliacci!). Ich meinte aber den fast zeitgleichen Gegenpol in Deutschland. Zwischen Puritani und Holländer wird man wenig Parallelen finden. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass Wagner besonders Norma sehr bewundert hat: "Man muss nur die richtige Frau auf die Bühne stellen!" Woher kannte er die Callas?
    Die Tatsache, dass grade die Callas beides singen konnte (wir kennen alle ihren Liebestod!), ist es, was mir in diesem Zusammenhang wichtig ist: Wer die GRAMMATIK DES BELCANTO beherrscht, kann alles singen. Nur so ist auch Verdis Einwurf zur Lady Macbeth zu verstehen, sie dürfe überhaupt nicht singen. (Aber sie muss das auf der Basis des Belcanto tun, also singen, als sänge sie nicht.)
    Dazu gäbe es noch viel zu sagen; aber das sollen andere tun. Ich mische mich dann schon wieder ein. Bis dahin grüßt herzlich
    Sixtus

    Wir haben uns etwas verzettelt und das Thema aus dem Fokus verloren. Ich will versuchen, die Diskussion wieder in Richtung auf meine These zu lenken.


    Belcanto war in Italien im frühen 19.Jh. selbstverständliches Zentrum der Oper. Langsam wurde der Kastrat vom Tenor verdrängt, der mit der Primadonna um die Vorherrschaft kämpfte.
    In Deutschland fand Richard Wagner dies überall vor: Die Sänger wollten bedient werden mit gefühl- und effektvollen Arien. Das Dramma per musica war in Vergessenheit geraten. Er wollte diesen korrumpierten Opernbetrieb reformieren, ähnlich wie vor ihm Gluck den spätbarocken Arienzirkus. Er verspottete Italiens "dünnflüssige Kantilene" und setzte mit dem "Fliegenden Holländer" ein Gegenmodell in die Welt: die musikdramatische Szene.
    Das ist alles bekannt, nur nochmal zur Erinnerung zusammengefasst. Diese Gegnerschaft wuchs sich aus zum Stilkrieg: Belcanto kontra Dramatische Szene. Auch Verdi hatte darunter zu leiden. Man verdächtigte seinen "Don Carlo" des Wagnerstils wegen der Aufwertung des Orchesters. In Deutschland missverstand man Wagners Stil als pathetischen Sprechgesang. Feindschaft auf der ganzen Linie (wie manchmal im Opernforum).


    Spät, fast zu spät, entdeckte man in Wagners Schriften, dass er den Belcanto nicht abschaffen, sondern der deutschen Sprache anpassen wollte. Aber sein plötzlicher Tod verhinderte eine fruchtbare Diskussion darüber. Den Rest besorgte Cosima, schließlich Winifred. Das Resultat war jahrzehntelanges Rampengebrüll, das zu allem Überfluss auch noch den Nazis gefiel.
    Es dauerte lange, bis man in germanischen Gauen zu verstehen begann, was Wagner mit dem DEUTSCHEN BELCANTO meinte. Mit den Folgen kämpfen wir noch heute: Es gibt zu wenige große dramatische Stimmen, die zugleich die Grammatik des Belcanto beherrschen u n d den Text wortdeutlich über die Rampe bringen.
    Ich meine, wir sollten uns diesen deutschen Belcanto etwas näher vorknöpfen: wo er verwirklicht wird, was ihn vom italienischen unterscheidet - und welche Sänger BEIDES beherrschen. Zwei lebende Modelle für letzteres sind für mich Stemme und Kaufmann.
    Das sollte genügen, um diejenigen unter euch, die sich hier stark fühlen, in die Bütt zu locken.


    In diesem Sinne: Frohes Gelingen wünscht


    Sixtus

    Lieber Erich!
    Manchmal überschneidet sich offenbar die Reihenfolge der Beiträge. So habe ich deinen interessanten Beitrag zunächst übersehen. Das wird jetzt behoben:
    Es gibt immer wieder Sänger, die zu spät (oder zu früh) an eine Partie kommen - und sie dadurch nicht so ausfüllen können, wie sie es zum optimalen Zeitpunkt gekonnt hätten. Der Theaterbetrieb wartet eben nicht auf einzelne Sänger und ihren Zenit. Manchmal geht eine Traumpartie ganz an einem Sänger vorüber, u.U. merkt er/sie gar nicht, was ihm/ihr entgangen ist.


    Ich bin durch den Zufall des gemeinsamen Wohnorts mit einem bedeutenden Sänger befreundet, der alles erfolgreich abgegrast hat, was die klassische Musik zu bieten hat - von Bach und Schubert über Verdi bis Wozzeck. Er hat seine Weltkarriere mit dem Wotan gekrönt, den er 4 Jahre hintereinander (1983-86?) in Bayreuth gesungen hat. Als ich ihn nach dem Hans Sachs fragte, antwortete er, der sei an ihm vorbei gegangen, den habe man ihm nie angeboten: Siegmund Nimsgern, der vielseitigste Sänger, den ich kenne.
    Solche Sachen gibt es zuhauf, man kann nicht alles optimieren. Aber wenn kompetente Leute an den Schaltstellen sitzen, können so bedauerliche Dinge auf ein Minimum reduziert werden.
    Herzlichen Gruß von Sixtus

    D´accord, lieber Rodolfo. Das ist ein Problem des Opernbetriebs allgemein.
    Hinzu kommt, dass die Sänger dann, wenn sie die Partie endlich singen, ihr manchmal schon stimmlich entwachsen sind. Manche können auch nicht warten, bis die Stimme reif ist für ein Fach. Wenn dann noch stimmtechnische Defizite dazukommen, sind sie schnell ruiniert. Prominentestes Beispiel: Villazon.
    Ich vergesse nicht seinen wunderbaren Wiener Nemorino mit der jungen, schlanken(!) Netrebko. Dann sahnte er querbeet alles ab, was sich ihm bot: Verdi, Don José... Und das alles mit instabiler Technik. Ein Freund von mir (selbst gewesener Sänger) fragte provozierend: "Warum reißt er in der Mittellage das Maul so weit auf? Das geht nicht lange gut!" Prompt bekam er seine Krise (offiziell wegen Stimmbandknoten, aber das war nicht die ganze Wahrheit). Und jetzt quält er sich mit Mozart (der ihm schon vom Temperament her nicht liegt), weil er die italienischen Partien nicht mehr schafft. Ein Jammer!
    Schönes Gegenbeispiel: Kaufmann.
    Er hat seine (zweite!) Karriere optimal aufgebaut, indem er sich in kleinen Schritten vom lyrischen Fach (Werther) über lirico spinto (Alfredo, Don Carlo, Cavaradossi) und spinto (Manrico, Radames, Lohengrin, Parsifal) vorgetastet hat - und immer wieder lyrische Partien dazwischenschaltet. Die Rechnung geht auf, und wir dürfen uns nach seinem Canio sicher bald auf seinen Otello. Tannhäuser und Tristan freuen.
    Bei Beczala ist es ähnlich. Aber ich halte jetzt erst mal wieder den Mund - und harre eurer Beiträge.
    Seid gegrüßt von Sixtus

    Caro dottore! Du hast recht, wir sind hier nicht iauf deiner Schiene. Das tut mir leid. Aber so weit wollte ich nicht ausholen.
    Ich sprach vom Kernrepertoire, und das fängt, wenn man die Spielpläne besichtigt, mit Mozart an. Außerdem bekenne ich, dass ich zwar Respekt vor Monteverdi habe, aber mit der folgenden Barockoper nicht viel anfangen kann. Warum, das würde jetzt zu weit führen. Das ist ein anderer Planet.
    Ähnlich verhält es sich bei mir mit Kastraten und Countertenören. Aber das wäre ein Thema für sich (vielleicht ein Thread für dich?). Mit Belcanto-Repertoire meine ich Bellini &Co. Sorry.


    Cara Madama Cortese! Da habe ich mich ja schön blamiert. Nach deiner Aufklärung tauchte dann aus dem Urschleim meines Langzeitgedächtnisses die herrliche Einspielung von "Viaggio a Reims" unter Abbado auf. Ich bitte um Absolution.


    Lieber Marcel, wie man sich doch irren kann. Aber jetzt weiß ich Bescheid: Andre Länder, andre Namen!


    Nun aber in medias res:
    Was die Sache mit den Stimmfächern noch zusätzlich kompliziert, sind die sog. hybriden Partien wie die genannte Lady Macbeth, Abigail, Turandot; andererseits Kundry, Salome, Elektra... Und das alles will besetzt - und gesungen sein.
    Aber bevor ich mich verzettele, Ring frei für Kommentare!


    Sixtus

    Wie versprochen, ein Versuch, aus meiner Sicht eine erste Schneise in den Wildwuchs der Opern-Stimmfächer zu schlagen. (Das ist keine Schulmeisterei, sondern ein Versuch, Begriffsverwirrungen zu vermeiden, damit wir nicht aneinander vorbei diskutieren.


    Ich rufe in Erinnerung: Zu der Zeit, als die ersten Opern unseres bis heute bestehenden Kernrepertoires entstanden, also in Mozarts jungen Jahren, gab es im Grunde nur 4 Stimmlagen, wie wir sie aus dem Chorgesang kennen. (Dazu kamen Reste des Kastraten-Repertoires wie Idamante und Sesto.) Da hattest du es einfach: Entweder du hattest eine hohe, helle Stimme, dann warst du für die Liebe zuständig; oder du musstest als Alt oder Bass mit kleineren Rollen zufrieden sein.


    Das änderte sich mit Mozarts reifen Opern: Im "Figaro" rückt der Bass zum Basso cantante auf und darf Susanna heiraten, und einen nennenswerten Tenor gibt es gar nicht. Aus diesem hohen Bass entwickelte sich bei Rossini der italienische Bariton, der sich vom Diener vom Dienst (Barbier) bei Verdi zur Königs-und Vaterfigur empormauserte. (Ich habe natürlich die Hälfte weggelassen, um nicht zu sehr zu langweilen!) Auch Wagners Heldenbariton ist aus dem Basso cantante herausgewachsen, nur nicht ganz so hoch, aber dafür noch kräftiger.


    Entsprechendes gilt für den Tenor: Bei Mozart lyrisch und virtuos, später im Süden wie im Norden zunehmend kräftiger, trotzdem vorwiegend Liebhaber - bis zum Otello und Tristan.
    Bei den Frauenstimmen war es keinen Deut anders: Es wurde immer komplexer und verwirrender. Ich sage nur Sonnambula und Norma, Lucia und Lady Macbeth, Pamina und Brünnhilde - oder Cenerentola und Amneris. Da soll sich noch einer auskennen!


    Seien wir ehrlich: Welcher Abonnent, ja welcher Opernfreund kennt sich in diesem Dickicht wirklich aus? Und wundert es da in unseren bildernärrischen Zeiten, dass die Unkenntnis bis an die Schreibtische der Besetzungsbüros vordringt?


    Ich lasse uns jetzt, zumindest mir, eine Verschnaufpause - und hoffe, dass dies alles morgen mit wasserdichten Argumenten bestätigt oder widerlegt sein wird. Gute Nacht!
    Sixtus

    Einiges hat sich ja schon wieder erledigt, weil sich die Schreibwut verheddert. Also die These ist inzwischen geklärt.
    Ich freue mich über euer Interesse am Thema. Aber wir sollten den zweiten und dritten Schritt nicht vor dem ersten tun.
    Ich will mal, nach einer Erholungspause am Fernseher, mit den Stimmfächern beginnen.
    Bis bald!
    Sixtus

    Da haben wir ja gleich zwei substanziell ergiebige Beiträge!


    Lieber m.joho (was immer das auch heißen mag)!
    Du sprichst etwas an, was in der Tat schon auf Wieland Wagner zurückgeht: Man besetzt nach optischen Kriterien. Eine der ersten war Silja - eine Stimme, die ich erst schätzen gelernt habe, als sie ins Charakterfach umgestiegen ist (won das passte). Aber auch heute noch gibt es erfolgreiche Bergonzis (und was für welche, siehe Botha!), weil es einfach zu wenig gute in dem Fach gibt. Und was Beczala als Siegfried angeht, empfehle ich: Botha singt, Beczala spielt zehn Jahre lang, dann kann er das auch singen.
    Und Alfredo Kraus angeht, der hat auch gute Erben: Beczala!
    Wir werden über ähnliche Themen noch manches zu plaudern haben... Danke, dass du das Eis gebrochen hast!


    Darf man eine Mme. duzen? Und wer ist Cortese (Bildungslücke!)? Du hast bei meiner Überschrift das Fragezeichen übersehen. Meine These läuft darauf hinaus, dass beides durchaus vereinbar ist. (Aber jetzt hast du mir meine Pointe weggenommen.) Dass beides kompatibel ist, beweist die von dir genannte Partie der Norma. Die enthält ja vom virtuosen Ziergesang über die lyrische Kantilene bis zum hochdramatischen Ausbruch alles, was eine Sängerin zu leisten imstande ist. Sie ist gleichsam Konstanze und Isolde zugleich. Oder kurz gesagt: Callas!
    Aber greifen wir nicht vor. Für heute auch dir vielen Dank für den anregenden Lesefehler!
    Herzlich euch beide - Sixtus

    Lieber Gehard,
    ich habe keineswegs kapituliert. Aber wenn ein Gewinde ausgeleiert ist, ist es sinnvoll, die ganze Schraube zu erneuern.


    Mein neues Thema steht übrigens bereit. Falls keiner reagiert, werde ich vielleicht selber noch einen Anstoß geben.


    Es grüßt ein nicht beleidigter, aber genervter


    Sixtus

    Liebe Freunde des Opernforums!
    Ein altes Thema, gewiss, das ich hier vorschlage. Aber die Geschichte des Kunstgesangs ist noch nicht zu Ende.
    Ich habe mich mit dem Singen mein Leben lang beschäftigt: zuerst praktisch in Form einer Gesangsausbildung, dann - in Einsicht meiner stimmlichen Grenzen - theoretisch als Rundfunk- und Schallplattenhörer und als Opern- und Konzertbesucher. So erwarb ich umfangreiche Repertoirekenntnisse. Viele Vorträge des Musikwissenschaftlers und Stimmenfachmanns Jürgen Kesting öffneten mir die Ohren für manche Feinheiten des Opern- und Liedgesangs.
    Im Ruhestand hatte ich die Muße, Bücher zum Thema Oper zu schreiben: eins über Verdi und Wagner, eins über die Gattung Oper allgemein und ihre Meisterwerke im Besonderen. Vor einigen Jahren stieß ich zum Wiener Merker, für den ich seitdem Rezensionen über Premieren in Saarbrücken, z.T. auch in Kaiserslautern und Straßburg schreibe.


    Worum geht es mir? Ich erfahre immer wieder, dass viele Opernbesucher, ja selbst Insider im Theater, die Spielpläne gestalten und Sänger engagieren und besetzen, kaum etwas über die menschliche Stimme, über Gesangstechnik und Stimmfächer wissen. So kommt es zu Fehlbesetzungen, die sogar von Publikum und Presse unbemerkt bleiben. Damit gerät der Opernbetrieb teilweise zu einer Verramschung von Hihhlights des Repertoires und zur Eventisierung des Spielplans - auf Kosten der künstlerischen Qualität, was das Singen betrifft.


    Diese Vorrede war nötig - nicht um einen langatmigen Vortrag einzuleiten, sondern um eine lebendige Diskussion zu eröffnen. Denn man sollte wissen, worüber man reden will, bevor man damit anfängt. Ich kann mir auch vorstellen, dass auch unter uns nicht alle über ein lückenloses Wissen auf diesem Gebiet verfügen. Deshalb ist es keine Schande, wenn der eine oder die andere Verständnisfragen vorbringt, die ich vielleicht beantworten kann. Umgekehrt bin ich auch bereit, mich belehren zu lassen.


    So übergebe ich das Wort an die, die Fragen zur Sache haben. Daraus kann dann ein umfassenderes Gespräch erwachsen.
    Wer will es eröffnen?


    Coraggio!
    Dumme Fragen gibt es nicht - nur dumme Antworten!


    Sixtus

    "Mit Worten lässt sich trefflich streiten..." - sogar mit Worthülsen!
    Im Gegensatz zu einigen von euch habe ich die Nacht zum Schlafen benützt, war aber jetzt neugierig, was mein letzter Beitrag angerichtet hat. Und was sehe ich? Endlosen grotesken Streit um des Kaisers Bart, an dem ich mich nicht weiter beteiligen möchte. Nur nochmal zur Klarstellung:


    Ich hatte deutlich unterschieden zwischen einem Museum und einem "lebendigen Museum" und den Unterschied deutlich erklärt: Musik und Theater als "unfertige" Künste bedürfen, bevor sie präsentiert ("ausgestellt") werden, immer wieder der "Fertigstellung" durch (lebendige!) interpretierende Künstler. Die aber dürfen sich, meine ich, nicht als schöpferische Künstler aufspielen. Kein Sänger, Musiker oder Schauspieler (und auch kein Dirigent oder Regisseur!) wird dadurch zum bloßen Handwerker degradiert. Eingefordert wird nur, dass er seine Kunst in den DIENST DES WERKES stellt - und nicht in den seines Markwertes.


    Zur konzertanten Auführung: Selbstverständlich ist das eine Notlösung. Die erhält aber umso mehr Berechtigung, je seltener ein Werk aufgeführt wird (meist aus wirtschaftlichen Gründen) - oder je seltener es Gelegenheit gibt, ein Werk in einer adäquaten Form zu erleben. Da aber der Kern einer Oper die Partitur ist, liefert die konzertante Aufführung dem Publikum das WESENTLICHE des Werkes. Ich erinnere an das Unternehmen von Marek Janowski, den ganzen gängigen Wagner in mustergültigen Konzerten zu präsentieren. (Er wird seine Gründe gehabt haben!)


    Ich verabschiede mich hiermit von dem unfruchtbaren Gezänk (das ich auch noch selber initiiert habe!) und ermuntere diejenigen von euch, die meiner Haltung grundsätzlich zustimmen (Spielraum für Streit gibt es immer noch genug!), mit dem anderen von mir vorgeschlagenen Thema "BELCANTO KONTRA DRAMATISCHER GESANG?" eine neue Diskussion zu starten.


    Also dann ADDIO / ARRIVIDERCI !


    Sixtus

    Danke, lieber Hans, für deine Reaktion. Mit dem Thema "Konzertante Aufführungen" entfernen wir uns nicht zu weit vom Reizthema, halten es aber etwas auf respektvolle Distanz.
    Mir ist klar: Ein Konzert ist noch keine ganze Oper. Aber wir kennen auch Wagners Stoßseufzer: Jetzt, wo er das unsichtbare Orchester geschaffen habe, möchte er am liebsten noch die unsichtbare Bühne schaffen. (Was würde er heute erst sagen?!)


    Als passionierter Rundfunkhörer bin ich daran gewöhnt, sowohl Studio-Einspielungen als auch Live-Übertragungen zu verfolgen. Dabei vermisse ich kaum das Optische, zumal dann, wenn ich das Stück zur Genüge kenne. Man kann, lutherisch gesprochen, den Sängern dabei so schön "aufs Maul schauen". Will sagen: Man erkennt schneller als mit Bild, ob die Besetzung "stimmt" - oder ob die Rosina, statt von einem satten Mezzo, von einer Soubrette gesungen - oder der TAMINO (Grüß dich, Alfred!), statt von einem verliebten jungen Mann gesungen, von einem Evangelisten gesäuselt wird. Auch ein guter Liedersänger muss nicht unbedingt meinen, er müsse nur böse dreinschauen, um ein guter Amonasro zu sein.


    Bei Live-Übertragungen lässt sich auch leicht erkennen, ob ein Opernhaus aus dem Vollen schöpft oder sich übernimmt. Beim letzten Trovatore aus der MET z.B. sagte Hvorostovsky ab - und der Einspringer, ein Herr Rodriguez, war (fast) gleichwertig. Man sieht zugleich: Es geht beim Luna auch ohne abgesungenen Startenor.


    Das - und vieles mehr - ist auch bei konzertanten Aufführungen ähnlich zu erleben. Wäre das nicht gelegentlich eine Alternative zu den Bravo-kontra-Buh-Orgien bei manchen Neuproduktionen? Ich sehe das sogar kommen, wenn sich die Fronten weiter verhärten. (Nicht nur im Opernforum!)


    Ich freue mich sowohl auf Zustimmung als auch auf Widerspruch!


    Sixtus

    Ich war der Meinung, dass ich mich deutlich ausgedrückt hätte: In Nr.23 hatte ich präzisiert: LEBENDIGES MUSEUM. Das eröffnet interpretatorische SPIELRÄUME, um die Partitur temporär zum Leben zu erwecken - aber keine SPIELWIESE für Selbstdarsteller.
    Außerdem glaube ich, dass dieses Thema schon, bevor ich in diesen edlen Kreis trat, ziemlich ausgelutscht war. Wir sollten also nicht länger daran saugen, wenn nur noch fruchtloser Schlagabtausch herauskommt.


    Grundsätzlich, denke ich, sollten wir auf Tritte gegen Schienbeine, auf Attacken nach Rumpelstilzchen-Art und auf Wadenbeißerei verzichten - und Pawlowsche Reflexe unter Kontrolle halten. (Das meinte ich mit "PACE!")


    Ein passendes Thema wäre vielleicht "Belcanto und dramatischer Gesang" oder "Konzertante Oper - ein Ausweg?"


    Auf eure Meinung dazu bin ich gespannt.


    Herzliche Grüße von Sixtus

    Liebe Forum-Freunde!


    Die erste Runde hat ja recht lebhafte Formen angenommen. Wir werden uns sicher nicht in allem einigen können.
    Was mir aber aufgefallen ist: Zum zweiten Hauptteil meines Beitrags über Amtsanmaßung (Nr. 13) hat sich kaum jemand geäußert, obwohl Alfred es nochmals angemahnt hat. Dabei hängt von einer kompetenten Besetzungspolitik sehr vieles ab: ob die Figuren des Stücks lebendig werden durch Stimmklang, Stimmvolumen und Artikulation. Was nützt die schönste Inszenierung, wenn die Intentionen des Komponisten nicht angemessen realisiert werden? Damit sollten wir uns auch auseinandersetzen.


    In diesem Sinne herzliche Grüße von Sixtus!

    Eigentlich wollte ich eine Pause einlegen. Aber die Sache nimmt Fahrt auf, und da ist es hilfreich, einige Begriffe zu klären.
    Ich freue mich, dass Alfred sich eingeklinkt hat beim Stichwort MUSEUM.
    In meiner Überschrift habe ich den Begriff zwar nicht ganz ernst gemeint, Bertarido, eher augenzwinkernd. Aber ich stimme Alfred prinzipiell zu: Ein Opernhaus, Rodolfo, ist ein LEBENDIGES MUSEUM, d.h. die Partitur wird ausgestellt, aber nicht wie ein Bild, sondern in der Aufführung temporär zum Leben erweckt, und zwar nach Maßgabe der Vorgaben der Autoren. Dabei gibt es Spielräume, doch die müssen dort enden, wo das Stück nicht wiederzuerkennen ist. Wäre das nicht ein gemeinsamer Nenner?
    Ich erhebe also meine Opernhände und rufe den Streithähnen zu: Pace!
    Um neue Missverständnisse gleich im Vorfeld auszuräumen, veranschauliche ich es mit Beispielen: Zauberflöte ist ohne Ägypten immer noch Zauberflöte, aber Meistersinger ohne Dürers Nürnberg, das ist ein anderes Stück. DAS WESENTLICHE sollte erhalten bleiben.
    Sehr schön finde ich Alfreds Terminus von der Geiselhaft, in die die Sänger oft genommen werden. Sie müssen oft Anweisungen ausführen, hinter denen sie nicht stehen (können). Das verkrampft die Atmosphäre und die Interpretation des Stückes. Sogar der Dirigent muss das oft über sich ergehen lassen; auch an Stellen, die in seine Kompetenz fallen. Da stimmt etwas nicht bei den Regeln der Hausordnung.
    Vorläufig friedliche Grüße an euch alle!
    Sixtus

    Danke, Hans und Gerhard, für eure besorgten bzw. ermunternden Worte!
    Ich habe vor, mich noch mit einer zweiten Flanke der Kritik zu stellen, und ich hoffe, dass es nicht zum Zweifrontenkrieg ausufert.
    Die Kompetenzüberschreitung durch die Regie ist ja nur die eine Seite der Amtsanmaßung. Auch von (un)musikalischer Seite droht Gefahr. In den Besetzungsbüros sitzen manchmal Leute, die von Gesang keine Ahnung haben. Im Pfalztheater Kaiserslautern, einem mittleren Dreispartenhaus, meint der Intendant, jeder Spielzeit ein kassenfüllendes Motto verpassen zu müssen. Diesmal ist es Liebe. Also setzt man den Tristan auf den Plan! Woher will man die Titelrollensänger nehmen und das Orchester? Dabei hat man die beiden letzten Neuproduktionen Barbier v.S. und Onegin praktisch ohne Bariton (also ohne Titelpartie!) laufen lassen. Beide Sänger hatten angenehme Sprechstimmen, mehr nicht. Den Rest haben sie überspielt, von Publikum und Presse unbemerkt. So schaukelt sich die Inkompetenz von Leitung, Presse und Publikum immer weiter nach unten. Woher soll der Sachverstand kommen, wenn nicht aus dem Vergleich mit wirklicher Qualität?
    Doch das ist kein Einzelfall. Ähnliches könnte ich (eine Stufe höher) aus meinem Merker-"Stammhaus" Saarbrücken berichten - und sogar (noch eine Nummer größer) aus Straßburg. Dabei gibt es genügend gute Sänger. Man muss sie nur klug auswählen und ihnen die Partien geben, an denen sie wachsen können. Sonst verkommen die Operntheater zum Eventzirkus. Und das vor allem, weil fachfremde Leute nicht nur Regie führen, sondern auch Opernpartien nach außermusikalischen Kriterien besetzen. Sie wiisen es oft nicht besser! Oder sie wenden Kriterien von Schauspiel und Film auf die Oper an. Das kann nicht gut gehen!
    Dieser Aspekt wird hoffentlich auf mehr Einigkeit treffen als die leidige Regie.


    Herzlich grüßt euch Sixtus

    Zunächst mal herzlichen Dank für den großen Blumenstrauß, lieber Gerhard!
    Und auch den anderen, die meine Anmerkungen kommentiert haben, vielen Dank.
    Von Dieter möchte ich gern wissen, inwiefern ihr "schon ein gutes Stück weiter" wart. (Ich bin ja erst vor Kurzem zu euch
    gestoßen und werde deshalb noch öfters dumm nachfragen.)
    Seid gegrüßt von Sixtus!

    Liebe Forum-Freunde!
    Zuerst muss ich euch um Nachsicht bitten, dass ich so lange in der Versenkung verschwunden war. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine lautet „Alter Mann und neue Medien“, also meine Schwierigkeiten, mich im Internet zu bewegen. Der andere hat mit meiner Tätigkeit für den Wiener Merker zu tun, die mich in Anspruch genommen hat (z.B. der Leitartikel Heft 1/16). Aber jetzt versuche ich einen neuen Start. Bei der Lektüre eurer Diskussionen bin ich an einigen Punkten hängengeblieben, zu denen ich gern etwas sagen möchte. Nicht alles auf einmal, aber peu à peu.


    Inszenierte Ouvertüren: Als Maßstab sollte doch der Wille des Autors gelten. Er besagt: Die Ouvertüre findet vor geschlossenem Vorhang statt. Am Beginn der ersten Szene steht in der Partitur die Anweisung „Der Vorhang geht auf“. Es gibt begründete Ausnahmen, z.B. „Hänsel und Gretel“ als Oper a u c h für Kinder. Eine andere Ausnahme hat mich kürzlich überzeugt: Bei Janaceks „Makropoulos“ wurde in Straßburg die Ouvertüre bebildert – mit mehrfachem Kostümwechsel der Protagonistin auf der Bühne, als Veranschaulichung ihrer wechselnden Identidäten in 300 Jahren. Aber ich möchte beim „Freischütz“ keine Herde Wildsäue auf den Vorhang projeziert bekommen oder mir beim „Tannhäuser“ den Pilgerzug und die folgende Venusberg-Orgie schon während der Ouvertüre illustrieren lassen. Dafür ist mir die Musik zu schade. Es wäre das Recht des Dirigenten, sich derlei zu verbitten.
    Das führt direkt zum übergeordneten Thema
    Freiheit der Kunst: Wir kennen Tucholskys Forderung Satire darf alles. Das wird heute gern variiert zu Kunst darf alles. (Der Betrachter darf aber auch gelegentlich bezweifeln, ob es sich noch um Kunst handelt. Nur der Rezensent hat oft Angst, als gestrig abgestempelt zu werden.) Es gibt aber auch Künste, in denen der Künstler sein Werk gleichsam unfertig abliefert: Musik und Theater, also erst recht die Oper. In der Partitur ist in Form von Regieanweisungen die Information enthalten, wie sich der schöpferische Künstler sein Werk fertig vorstellt. Das galt so lange als verbindlicher Auftrag, bis sich auch interpretierende Künstler auf die Freiheit der Kunst beriefen. Was sie vergessen (nein: verschweigen!), ist die Tatsache, dass sie diese Anweisungen zu befolgen haben – den Auftrag, abstrakte Visionen des Schöpfers in konkrete Bilder und Bewegungen umzusetzen, seine Ideen zu veranschaulichen.
    Was wir heute Regietheater nennen, ist also bei Lichte besehen nicht mehr und nicht weniger als Amtsanmaßung – oder, politisch formuliert: Usurpation fremden Territoriums. Derlei funktioniert, solange sich der Besitzer nicht dagegen wehrt (wehren kann). Nun ist hier in der Regel der Besitzer tot. Aber er hat lebende Statthalter: die Theaterleiter, die Dirigenten (s.o.) und, wenn alle Stränge reißen: das Publikum! Doch die meisten Stränge sind längst gerissen: Theaterleiter sind oft selbst Regisseure, Dirigenten sind abhängig (Vertragsverlängerung). Bleibt das Publikum. Und das ist ein eigenes Kapitel:
    Opernvorstellungen sind mehrheitlich ausabonniert. Ein Abonnent aber ist selten ein Mensch, dessen Gemüt von Sachkenntnis getrübt ist. Er verlässt sich gern auf die Kompetenz der professionellen Macher, wie sich die meisten angeblich mündigen Staatsbürger bei einer technischen Störung auf die Handwerker verlassen. Nichts dagegen einzuwenden. Aber die Rückseite der Medaille: Beiderlei Experten merken das schnell – und entscheiden oft nach Gutdünken: Handwerker nach Geschäftsvorteil, Regisseure nach Karrierevorteil. Und der heißt: Aufmerksamkeit. Verschärfend kommt hinzu: In einer Zeit, in der die Popkultur alle Lebensbereiche durchdringt, tendiert die Urteilsfähigkeit des Opernpublikums gegen Null. Wir (eine verschwindende Minderheit) sitzen in der Falle. Warten wir auf ein Wunder – oder genießen wir das Schöne, wo es noch zu finden ist? Ich habe mich entschieden... Leider kann ich nichts Erfreulicheres dazu sagen. Coraggio! Sixtus