Hallo Edwin,
leider muss ich dir widersprechen.
1. "Personenspezifischer Antisemitismus" ist eine Tautologie. Selbst überzeugte Antisemiten haben jüdische Bekannte, Nachbarn, Kollegen, etc. Sie verwenden den "Vorwurf" des Judentums erst dann, wenn es ihnen genehm, passend ist. Beispiel, wenn auch sehr vereinfacht: Solange der jüdische Kollege sympatisch ist, ist er einfach nur nett. Bekommt der jüdische Kollege aber die für sich selbst erhoffte Beförderung, Lohnerhöhung, etc. dann werden Gründe bemüht, dass das mit seinem Judentum zu tun hat, also z.B. jüdischer Konzernchef, etc. Ähnliches ist bei Wagner zu beobachten, übrigens sogar bei Hitler, der z.B. dem jüdischen Hausarzt seiner Mutter ins Exil "geholfen" hat.
Kurzum: Antisemitismus liegt dann vor, wenn man den jüdischen Glauben einem Juden zum "Vorwurf" macht.
2. Nels Interpretationsansatz ist keineswegs Quatsch. Leider weiss ich nicht mehr, wo ich es gelesen habe, aber in diesem wissenschaftlichen Aufsatz stand geschrieben, dass es zu Wagners Zeiten einen "Code" gegeben hat, wie ein Klischeejude dargestellt wurde und der für das damalige Publikum leicht zu verstehen war. Der Autor hat m.E. überzeugend dargestellt, dass viele dieser Eigenschaften auch auf Beckmesser zutreffen. Adorno, nun wirklich eine kompetente Person, schrieb irgendwo, dass alle gepeinigten Charaktere bei Wagner Juden seien.
Unabhängig davon: Liest und hört man die "Meistersinger" in der Perspektive ihrer Entstehungszeit, also zweite Hälfte 19. Jahrhundert, muss man nüchtern konstatieren, dass es damals zahlreiche Juden gegeben hat, die hohe Ämter bekleideten und trotzdem Neid und Missgunst sogar von den gleichen Leuten ausgesetzt waren, die ihnen den Zugang zu diesen Ämtern (Justiz, Wissenschaft, Kunst) nicht verwehren konnten. Nachzulesen in jedem Standardwerk zur deutschen Geschichte. Und aus diesem Blickwinkel betrachtet könnte das sehr gut auf Beckmesser zutreffen: Der "Quotenjude", der als Stadtschreiber der einzige Intellektuelle unter Handwerkern ist, dem ob seiner Bildung der Zugang zur Meistergilde kaum verwehrt werden kann. Zudem scheint das Amt des Merkers nicht sonderlich beliebt zu sein. Beckmesser himself sagt ja: "Ein saures Amt, und heut zumal" und später "sei Merker fortan wer danach geizt." Ein Traumjob hört sich für mich anders an. (Erinnert mich persönlich an das heutzutage so unbeliebte Amt des Kassenwarts.) Hier lasse ich mich aber gerne eines Besseren belehren....!
Fazit: Freilich muss man das alles nicht unbedingt zum Dreh- und Angelpunkt einer Inszenierung machen, aber gültig ist es durchaus.
3. Auch wenn Wagner hier keinerlei Schuld trifft - Beckmessers Vortrag auf der Festwiese ist ein Paradebeispiel für entartete Kunst, insbesondere im Vergleich zur Operettenselligkeit des Preislieds von Walter.
Grüße,
Florian