Hier mein zugegeben etwas längerer Bericht von Lucerne Festival Ostern
Das farbige Glasmosaik mit den fünf Erdteilen und der Weltzeituhr der Luzerner Uhrenfabrik Gübelin am Eingang der Pasarelle des Bahnhofs Luzern versinnbildlicht symbolhaft die Weltverbundenheit der 60 000 Einwohner zählenden zentralschweizer Kantonshauptstadt, die in diesen Tagen rund 10 000 Konzertbesucher an die Ufer des Vierwaldstättersees gelockt hat. Denn so viele Tickets haben die Veranstalter für die zehn Konzerte abgesetzt, was bei einer Auslastung von 80 Prozent eine Steigerung um 7 v.H. im Vergleich zum Vorjahr ausmacht. Wer spricht da noch von Kulturpessimismus? Der Konzertbetrieb unserer Schweizer Nachbarn brummt also. Hotellerie, Handel und Gastronomiegewerbe verdienen kräftig mit an diesem Boom. Doch die nackten Zahlen verraten nur wenig über das unwiderstehliche künstlerische Flair von Lucerne Festival Ostern (so der offizielle Name), dem Frühjahrs-Ableger des Sommerfestivals. Konsequent wurde in Luzern in die Kultur investiert: Neben dem seit Toscaninis „Festival Toscanini à Tribschen“ 1938 durchgeführten Sommerfestival fand ab 1988, ab 1992 jährlich, das Osterfestival statt, dem sich 1998 das „Piano“ genannte Klavier-Festival (jährlich im November) hinzugesellte. Und wenn Festspielzeit ist, schmückt sich das Städtchen mit noblen Bannern und das Rahmenprogramm wird aufgepeppt. Das Konzept geht auf. Nicht verschweigen darf man allerdings, dass mit Großversicherern und Banken mächtige Finanziers Gewehr bei Fuß stehen und sich auch werbewirksam die Kulturförderung auf die Fahnen geschrieben haben. Davon können wir in Deutschland noch lernen.
Wenn es dieser Tage heftig im Schweizer Blätterwald rauschte, weil die Lufthansa sich die Swiss einverleibte und der Nationalstolz der Eidgenossen angekratzt wurde, so ist es mehr als eine noble Geste, wenn mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem drittgrößten Symphonieorchester der ARD, ein deutsches Ensemble als „Orchestra in Residence“ bei Lucerne Ostern auftritt. Die beiden Vorstellungen des Orchesters mit dem Requiem B-Moll von Antonín DvoYák, am nächsten Abend mit Bruckners 3. Symphonie kombiniert mit Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“, jeweils unter der Leitung des einzigartigen Chefdirigenten Mariss Jansons an der Spitze, gehörten zum Nonplusultra dieser Festspiele. Famos wie Jansons aus der Totenmesse des Tschechen ein packendes Seelendrama zimmerte. Besonders eindrucksvoll zu erleben, wie die 68 Mitglieder des Chors des Bayerischen Rundfunks die Pianissimi zum Schluss des Graduale hauchten und zuvor das „Kyrie eleison“ a cappella zu einem gesungenen Gebet werden ließen. Im Vergleich zu seinem Vorgänger Lorin Maazel gelang dem 1943 in der lettischen Hauptstadt Riga geborenen Jansons ein wohlabgetöntes Klangbild weichster Konturierung, was emotional beflügelte. Ohne Makel agierte das ihm zu Gebote stehende Solistenquartett mit Krassimira Stoyanova (Sopran), Elina Garan
a (Alt), Stuart Skelton (Tenor) und Robert Holl (Bass). Stoyanova beeindruckte mit kräftiger, wundervoll intensiv vibrierender Stimme, die ein überraschendes Mezzavoce bereithielt; berührend war der Alt der ebenfalls in Lettland geborenen Garanca. Raumfüllend und dennoch butterweich erklang Skeltons Tenor. Holls Bass sucht wohl an Wuchtigkeit (Mors stupebit) seinesgleichen.
Das zweite Konzert des Symphonieorchesters des BR stand im Zeichen des Luzerner Debüts des amerikanischen Bariton Thomas Hampson (voraussichtlicher Sendetermin im Bayerischen Fernsehen: 1. Mai, 11.45 Uhr) , der bisher vor allem mit Verdi-Produktionen hervorstach. Diesmal flog der in Wien lebende Startenor aus London ein, wo er im April als Renato in Verdis „Un ballo in maschera“ debütiert. Genüsslich sezierte Hampson das Innenleben der „Lieder eines fahrenden Gesellen“, übrigens Gustav Mahlers erstes Meisterwerk, das seine idiomatische Kompositionszüge trägt. Noch in Kassel 1885 widmet der Komponist die zunächst sechs Lieder seiner unglücklichen Liebe Johanne Richter, schreibt sie später um und reduziert die Anzahl der Gesänge von sechs auf vier. Hampson gelang eine bemerkenswert authentische, nuancenreiche, tief psychologisch angereicherte Umsetzung von Mahlers Partitur. Akzentfrei in der Aussprache beeindruckte der Amerikaner mit lyrischem Pathos und sinnlichem Stimmmelos. Glücklich gewählt die Tempi, die Jansons mit dem plastisch wirkenden BR-Orchester anschlug, das allerdings erst bei Bruckners III. zu seiner künstlerischen Hochform auflief. Die Anfangszeit des Konzerts um 17 Uhr widerstrebte wohl dem Biorhythmus einiger Ausführender. Je später der Abend, desto mehr lockte Jansons seine Musiker aus der Reserve, ja über sich hinaus. Nahtlos hingen sie bereits im „Mehr langsam.Misterioso“ am Taktstock des Maestro, die Violinen lieferten ein glänzendes Sul G, unbekümmert peilte der Lette das Satzfinale mit seiner Stretta an. Im zweiten Satz glühten die Violen auf, angeführt von Solobratscher Hermann Menninghaus, bei ihrem Solo im „Adagio bewegt, quasi Andante“, zeigten ihr dichtestes Legato. Auf pulsierendem Orgelpunkt federten die Kontrabässe, Hörner vollzogen schluchzend ihre dramatisch absteigenden Linien. Das Pianissimo allein gen Ende des Satzes lohnte die Reise zum Kultur und Kongresszentrum Luzern. Überhaupt bietet die Akustik des KKL-Konzertsaals, erbaut 1995-2000 vom französischen Architekten Jean Nouvel, eine enorme Abbildungskraft und Präsenz, die weltweit Maßstäbe setzt.
Sehr forsch erlebte der Zuschauer András Schiff sowohl am Pult des Chamber Orchestra of Europe als auch als Solist in Haydns Klavierkonzert D-Dur, Hob. XVIII/II. Dieses Orchester lieferte damit einen erfrischenden konzertanten Kontrapunkt im vorwiegend von sakralen Werken der Passionszeit geprägten Programmen. Schiff hatte allerdings diesbezüglich auch etwas Feines mitgebracht: „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ in der Erstfassung für Orchester. Die nahezu einstündige Auftragskomposition, angetragen von einem Domherrn aus Cadiz, wo dem Bischof beliebte, alljährlich zur Fastenzeit in der Hauptkirche ein Oratorium aufzuführen und über die letzten Worte Jesu zu Predigen, besteht aus acht langsamen Sätzen und einem Presto, welches das Jerusalemer Erdbeben nach Jesu Tod musikalisch darstellt. Brillant strahlender Klang schmetterte den Hörern schon in Haydns Sinfonie C-Dur Hob. I/82 entgegen, wobei András Schiff - auswendig dirigierend - punktgenaue Anweisungen streute. Erste und zweite Violinen korrespondierten vorbildlich. Ein guter Wechsel von Spannung und Entspannung im "Vivace assai" - aufgehängt an den harmonischen Gegebenheiten - führte zu packender Interpretation, die Schiff im Klavierkonzert mit Exaktheit der Phrasierung, Souveränität in der Beherrschung der technischen Mittel und überzeugenden musikalischen Linien bestätigte.
Nicht zu verstecken hinter den internationalen Stars brauchen sich die Luzerner Lokal-Matadoren, mit dessen Einbeziehung der Festivalleitung der Zirkelschlag „orbi et urbi“ gelingt. Mit dem Collegium Musicum und dem Akademiechor Luzern unter der Leitung des Rektors der Musikhochschule Luzern, Alois Koch, verfügt die Festivalstadt über ausgezeichnete Kräfte. Insbesondere der mit jungen Talenten angereicherte Chor gab Anlass zu heller Freude, als Haydns sogenannte „Nelsonmesse“ in der Jesuitenkirche am Reusskai mit unglaublichem Drive aufgeführt wurde. Das ausschließlich mit Schweizer Sängerinnen und Sängern besetzte Solistenquartett ergänzte Monika Henking (Orgel), die vorab Bachs Präludium und Fuge H-Moll BWV 544 maßvoll gestaltete.
Was Jordi Savall mit seinem „Consort des Nation“ nur bedingt gelungen war, nämlich Tiefgang, meisterte der alte Hase Nicolaus Harnoncourt im Handstreich. Der Spanier Savall zielte mit seinem Programm „Die Französische Suite im Europa des Barock“ vornehmlich auf Popularität und munterte das Publikum in seinen zahlreichen Zugaben von Händel bis Rameau – wie neujahrs in Wien – gar zum Mitklatschen auf, nachdem er anhand von Suiten von Jean-Babtiste Lully (Orchestersuite zu Alceste), Marin Marais (Alcione-Suite des Airs a jouer), Bach (Ouverture „Suite“ Nr. 4) und Händel (Feuerwerksmusik) einen Crashkurs in Sachen europäischer Barocksuite erteilt hatte. Harnoncourt spürte dagegen den authentischen liturgischen Bedingungen von Mozarts „Vesperae solennes de Confessore“ KV 339 nach. Der 75-Jährige hatte zusätzlich zu seinem brillant aufgelegten Concentus Musicus Wien, der den Arnold Schönberg Chor Wien begleitete, das Spezialensemble für Gregorianischen Choral „Schola Romana Lucernensis“ geladen, welches unter der Leitung des 86-jährigen Benediktiner-Mönchs Pater Roman Bannwart OSB die Original-Antiphonen zu Mozarts 1780er Sturm und Drang-Meisterwerk intonierte. Harnoncourt ballte ungeheure musikalische Kräfte. Dies vollzieht er durch seine distinkten Gesten, ganz ohne Taktstock aber mit glühenden Augen. Das Ergebnis ist einzigartig, vom klanglich knalligen, lichtdurchfluteten „Dixit Dominus“ bis zum opulenten, würdigen Magnifikat. Auch die Missa Cellensis, „Mariazellermesse“, von Joseph Haydn erblühte in diesem strahlenden Originalklang, bei dem der Concentus Musicus noch immer zu den führenden Gruppierungen zählt.
Mit „Les Jeunes Solistes“ trat unter der Leitung von Rachid Safir ein französisches Vokalensemble der Spitzenklasse ,gegründet 1988, an, das den Blick fest auf die Probleme dieser Zeit richtete. In seinem Konzert in der Franziskanerkirche führten zwei Sopranistinnen, ein Kontratenor, zwei Tenöre und ein Bariton in Begleitung einer Bassklarinette und einer Theorbe Klaus Hubers (*1924) „Lamentationes Sacrae et Profanae ad Responsoria Iesualdi“ auf. Darin klagen die Texter Ernesto Cardenal, Mahmud Doulatabadi, Klaus Huber in drastischen Worten (auf Französisch) die gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten der Gegenwart an (Zitat: „Die Selbstsucht deiner Geschäftsleute, Politiker, breitet sich aus wie ein Virus.“, oder „Die Reklame deiner multinationalen Konzerne hat die Bedürfnisse der Menschheit verdorben...Babylon, Babylon, wende dich ab vom Goldenen Kalb!“). Die zeitkritischen, emotional durchaus ins Mark treffenden, in eindrucksvolle musikalische Form gegossenen „Lectiones I-III“ waren mit aufwühlenden Madrigalen Gesualdos vernetzt; eine wirkliche Innovation des Passionsgedankens. Ebenso vorösterlich flackerte der Zeitgeist des 20. Jahrhunderts in Pierre-Laurant Aimards sensationeller Darstellung der „Vingt Regards sur l’Entfant-Jésus“ (1944) für Klavier von Olivier Messiaen auf. Als der auf die Musik des 20. Jahrhunderts eingeschärfte Schüler der Widmungsträgerin (Yvonne Loriod ) dieses exorbitanten zweistündigen Zyklus, zog der französische Pianist alle Register seines fabulösen Könnens. Packte energischst zu und vernebelte den Klang anderer Nummern geschickt, so dass ihm eine großartige Performance gelang.
http://www.lucernefestival.ch